Der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs sieht das «dreissigjährige Debakel» der Neocons in der Ukraine im Endstadium. Der Plan, Russland am Schwarzen Meer durch die Nato einzukesseln sei gescheitert. Nun würden Entscheidungen durch die USA und Russland getroffen werden, die «für den Frieden, die Sicherheit und das Wohlergehen der ganzen Welt von enormer Bedeutung sein» werden.
Das schreibt er in einem aktuellen Beitrag, den die Schweizer Zeitung Die Weltwoche jetzt auf Deutsch veröffentlicht hat. Darin hält er eine «Weichenstellung für den Frieden» für möglich.
Die Niederlage der Neocons macht der Ökonom an vier Ereignissen fest: Erstens gewinne Russland den Zermürbungskrieg gegen die Ukraine, die wiederum auf dem Schlachtfeld verwüstet worden sei, «mit tragischen und entsetzlichen Verlusten». Das werde aber bisher von den herrschenden Kreisen im Westen und den Mainstream-Medien noch geleugnet.
Zweitens schwinde die Unterstützung in der Europäischen Union für den bisherigen US-Kurs. Dafür stünden Polen, Ungarn und die neue Regierung in der Slowakei. Politiker wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hätten in ihren Ländern längst höhere Ablehnungsquoten als Zustimmungswerte.
Drittens werde die finanzielle Unterstützung der USA für Kiew gekürzt, insbesondere durch den Druck der Republikanischen Partei. Der vierte Grund sei die zu erwartende russische Offensive, nach dem die ukrainischen Truppen bisher massive Verluste an Menschen und Material zu verzeichnen haben.
Sachs warnt:
«Der Ukraine droht der wirtschaftliche, demografische und militärische Zusammenbruch.»
Er fordert die US-Regierung auf, ihren Kurs zu ändern. «Kühle Köpfe» müssten die Oberhand gewinnen, schreibt er. Und empfiehlt, dass US-Präsident Joseph Biden seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin mitteilen solle, die Nato-Osterweiterung werde gestoppt.
Dazu solle eine neue Sicherheitsvereinbarung zwischen den USA und Russland ausgehandelt werden, die den russischen Vorschlägen aus dem Dezember 2021 entgegenkomme. Dazu gehöre der Stopp der Nato-Osterweiterung, ohne die bisherige rückgängig zu machen, was Russland ursprünglich forderte. Die Sicherheitsvereinbarung soll nach Vorstellung von Sachs auch die Atomwaffen und die Rüstungskontrolle einbeziehen.
Zudem sollen sich Russland und Ukraine auf neue Grenzen einigen, die die Krim und die russisch geprägten Gebiete in der Ostukraine als Teil Russlands akzeptieren. Für die Ukraine solle es internationale Sicherheitsgarantien unter dem Dach des UN-Sicherheitsrates geben. Ausserdem könnten aus Sicht des Ökonomen «die USA, Russland und die EU ihre Beziehungen in den Bereichen Handel, Finanzen, Kultur und Tourismus wiederherstellen».
«Es ist sicherlich wieder an der Zeit, Rachmaninow und Tschaikowsky in den amerikanischen und europäischen Konzertsälen zu hören.»
Für Sachs tragen die US-Neocons «einen Grossteil der Schuld an der Unterminierung der ukrainischen Grenzen von 1991». Er erinnert daran, dass Russland die Krim erst nach dem von den USA unterstützten Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Jahr 2014 beansprucht. Den Donbass habe Moskau nach 2014 nicht annektiert, sondern Kiew aufgefordert, das von den Vereinten Nationen unterstützte Minsk-II-Abkommen einzuhalten. Darin wurde dem Donbass Autonomie zugesichert.
«Die Neokonservativen zogen es vor, die Ukraine zu bewaffnen, um den Donbass gewaltsam zurückzuerobern, anstatt dem Donbass Autonomie zu gewähren.»
Der Ökonom sieht als Schlüssel zu stabilem Frieden in Europa «kollektive Sicherheit», wie sie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fordere. Gemäss den OSZE-Vereinbarungen würden die OSZE-Mitgliedstaaten «ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten verstärken».
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