«Die Gegenoffensive ist entgegen den Erwartungen fast aller westlichen Länder gründlich gescheitert.» Das stellt der renommierte US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer in einem Beitrag fest, den die Wochenzeitung Die Weltwoche in ihrer aktuellen Ausgabe publiziert hat.
Die Ukraine habe in den vergangenen drei Monaten der Kämpfe hohe Verluste erlitten und grosse Mengen an Waffen verloren. Die Blitzkriegstrategie, mit der die russischen Linien durchbrochen werden sollten, sei gescheitert, so Mearsheimer.
Er gilt als einer der anerkanntesten Geopolitik-Experten und als Vertreter der «realistischen Schule», die das Machtstreben von Staaten untersucht. Schon lange vor dem Beginn der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine hat er vor den Folgen der westlichen Politik gegenüber Russland gewarnt. In dem Text, den die Weltwoche übersetzt hat, analysiert Mearsheimer die ukrainische «Gegenoffensive». Diese sei als Blitzkrieg konzipiert worden.
«Die ukrainische Gegenoffensive war von Anfang an zum Scheitern verurteilt», schreibt der Experte. Die Truppen Kiews hätten «praktisch keine Chance» gehabt, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen und ihre Ziele zu erreichen.
Die ukrainische Führung und ihre westlichen Unterstützer hätten mit einer «klassischen Blitzkriegstrategie» versucht, einen aufreibenden Zermürbungskrieg zu verhindern. Das Ziel sei gewesen, tief in das russische Gebiet vorzustossen.
Doch die Truppen Kiews hätten es mit einem «ebenbürtigen Gegner» zu tun und seien zugleich schlecht auf einen Blitzkrieg vorbereitet gewesen, betont Mearsheimer. Dennoch hätten vor allem westliche Politiker und Experten immer wieder Optimismus ob der ukrainischen Aussichten auf dem Schlachtfeld verbreitet und entsprechend Druck auf Kiew ausgeübt.
Dagegen habe die ukrainische Führung selbst vor Beginn der «Gegenoffensive» am 4. Juni eher gezögert. «Wahrscheinlich weil zumindest einige von ihnen verstanden, dass sie zur Schlachtbank geführt wurden», vermutet der Politikwissenschaftler.
Inzwischen würden auch im Westen immer mehr Experten erkennen, «dass die Gegenoffensive gescheitert ist und die Ukraine dazu verdammt ist, einen Zermürbungskrieg zu führen, den sie wahrscheinlich nicht gewinnen wird».
Mearsheimer analysiert ausführlich die Ursachen für diese Lage. Dazu gehört ein Ungleichgewicht zugunsten Russlands hinsichtlich der Bevölkerung und der damit zur Verfügung stehenden Soldaten. Dieses Verhältnis von 5 zu 1 treffe auch auf die Artillerie zu.
Er schreibt, dass die Ukraine einen langwierigen Zermürbungskrieg «wahrscheinlich» verlieren werde, weil es ein unfairer Kampf wäre. Diese Einschätzung bezieht er auf das Kräfteverhältnis und auch auf die Strategien der beiden Seiten.
Zudem geht er ausführlich auf die Grundlagen für eine Blitzkriegstrategie sowie auf historische Beispiele dafür ein. Im Gegensatz zu diesen setze die russische Armee gegenwärtig auf eine «beeindruckende Tiefenverteidigung». Seine Schlussfolgerung:
«Tatsächlich zeigen sie, dass Kiews Blitzkrieg praktisch keine Aussicht auf Erfolg hatte.»
Die westliche Ausbildung für ukrainische Einheiten sei unzureichend gewesen, stellt Mearsheimer zudem fest – auch weil die westlichen Armeen keine Erfahrung im Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner hätten, wie er belegt. Dies und weitere Faktoren, wie die russische Luftüberlegenheit, hätten für das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive gesorgt.
Aus dem geplanten Blitzkrieg sei «ein langsamer und blutiger Vormarsch zu Fuss» geworden, zitiert der Politikwissenschaftler eine Einschätzung der Zeitung Wall Street Journal.
«Die Ukraine hatte keine Chance, das Kunststück zu wiederholen, das die Wehrmacht 1940 gegen die französischen und britischen Streitkräfte vollbracht hatte. Stattdessen war die Ukraine dazu bestimmt, einen Zermürbungskrieg wie im Ersten Weltkrieg an der Westfront zu führen.»
Es gebe keine Aussicht auf einen plötzlichen Erfolg der Ukraine, «bevor entweder der Herbstregen oder die ukrainische Führung die Offensive beenden», stellt er klar. Die westlichen Eliten würden nun «krampfhaft» einen Weg suchen, um die sich verschlechternde Situation zu retten. Gleichzeitig hätten sie sich, wie die meisten Ukrainer, mit einem blutigen Zermürbungskrieg abgefunden.
Mearsheimer blickt skeptisch nach vorn und rechnet unter anderem mit einem «Schwarze-Peter-Spiel» bei der Frage, wer für die Lage der Ukraine verantwortlich sei. Das sei für viele Ukrainer der Westen, weil er Kiew zum Blitzkrieg gedrängt und nicht richtig dafür ausgerüstet habe. Doch Kiew habe Handlungsspielräume gehabt und nicht genutzt.
Zudem gebe es im Westen zunehmend Stimmen, die eine diplomatische Lösung suchten. Doch eine solche sei nicht in Sicht, da zwischen beiden Seiten «unüberbrückbare Differenzen» bestünden. Das betreffe neben den territorialen Fragen die Sicherheitsgarantien für die Ukraine und deren Verhältnis zum Westen.
Russland bestehe darauf, dass die Ukraine neutral sein und ihre militärischen Verbindungen mit dem Westen kappen müsse.
«In der Tat war diese Frage die Hauptursache für den Krieg, auch wenn die amerikanischen und europäischen aussenpolitischen Eliten dies nicht wahrhaben wollen. Moskau war nicht bereit, einen NATO-Beitritt der Ukraine zu dulden.»
Mearsheimer zählt eine weitere schlechte Bedingung für eine politische Lösung auf: Beide Seiten würden die jeweils andere Seite als existenzielle Bedrohung sehen. Das sei «ein enormes Hindernis für jede Art von sinnvollem Kompromiss».
Der Politikexperte befürchtet:
«Am wahrscheinlichsten ist, dass der Krieg weitergeht und in einen eingefrorenen Konflikt mündet, bei dem Russland einen beträchtlichen Teil des ukrainischen Territoriums besetzt hält. Aber dieses Ergebnis wird weder die Konkurrenz und den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine beenden, noch jenen zwischen Russland und dem Westen.»
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