Rob Henderson weiß, wovon er spricht, wenn er über die Kluft zwischen den Idealen und dem Lebensstil der kulturellen Oberschicht berichtet. Als Kind aus schwierigen Verhältnissen – geboren 1990 in Los Angeles, aufgewachsen in Pflegefamilien – hat er sich selbst aus dem sozialen Abseits an die Eliteuniversitäten Yale und Cambridge hochgearbeitet. Seine Autobiografie «Troubled. A Memoir of Foster Care, Family, and Social Class» ist nicht nur eine persönliche Geschichte des Aufstiegs, sondern auch eine scharfsinnige Analyse der moralischen Doppelmoral westlicher Bildungseliten. Der Schweizer Oliver Zimmer, von 2005 bis 2021 Professor für moderne europäische Geschichte an der Universität Oxford, schrieb letzte Woche in der Neuen Zürcher Zeitung eine sehr lesenswerte Besprechung dieses Buches.
Im Zentrum von Hendersons Kritik stehe das, was er als «Luxusüberzeugungen» (luxury beliefs) bezeichne, so Zimmer. Werte und Haltungen, die sich die wohlhabende Oberschicht leisten kann – und gerne öffentlich vertritt –, die aber für Menschen in schwierigen Lebenslagen oft negative Konsequenzen hätten. Beispiele hierfür seien Forderungen nach offenen Grenzen, Drogenlegalisierung, der Abbau von Polizei oder die Ablehnung traditioneller Familienmodelle. Diese Überzeugungen, so Henderson (und immer gemäß der Besprechung von Zimmer), würden den sozialen Status ihrer Vertreter steigern – kosten aber die weniger Privilegierten Stabilität und Sicherheit.
Henderson habe diesen Widerspruch besonders deutlich während seines Studiums in Yale beobachtet, berichtet Zimmer. Dort sei er auf junge Menschen aus reichen Familien getroffen, die sich betont progressiv gaben, während sie selbst monogam lebten, gut verdienten, ihre Kinder förderten und später heirateten – also ein bürgerliches Leben führten, das sie rhetorisch verachteten. Hendersons These: Wer öffentlich progressive Haltungen einnimmt, tue das nicht aus Überzeugung, sondern um seinen Platz in der akademischen und kulturellen Elite zu markieren.
Diese Analyse fuße nicht auf Ideologie, sondern auf gelebter Erfahrung, fasst Zimmer Hendersons Aussagen zusammen. In der US-Luftwaffe, die für Henderson ein Rettungsanker wurde, lernte dieser Disziplin, Zielstrebigkeit – und Menschen aus Milieus kennen, die im akademischen Diskurs kaum eine Stimme haben. In Cambridge und Yale erlebte er dann den Kontrast: intellektuelle Brillanz gepaart mit ideologischer Selbstinszenierung.
Das Fazit von Henderson ist gemäß Zimmer eindeutig: Bildung allein ersetze keine stabile Familie, und gesellschaftlicher Aufstieg funktioniere nur, wenn die Grundwerte wie Verantwortung, Loyalität und Disziplin gelebt – nicht nur gefordert – würden. Den Kult um Inklusion und moralischer Überlegenheitsdünkel entlarve Henderson als statusbezogene Selbstvergewisserung der oberen Schichten. Wer Migration nur als abstraktes Menschenrecht betrachte, blende die sozialen Spannungen aus, mit denen sich vor allem die unteren Schichten auseinandersetzen müssen – also jene, die den Preis für Entscheidungen zahlen, die in Elitekreisen getroffen oder beklatscht werden.
Rob Henderson halte seiner Generation, so Oliver Zimmer, einen Spiegel vor – schmerzhaft, ehrlich und analytisch scharf. Seine Lebensgeschichte sei ein Gegenentwurf zum akademischen Mainstream und eine Erinnerung daran, dass Moral dann glaubwürdig ist, wenn sie mit eigenem Verzicht einhergeht – nicht nur mit Applaus im Theatersaal.
Kommentar Transition News
Auch wenn Hendersons Analyse stark auf die amerikanische Gesellschaft zugeschnitten ist, stellt sich die Frage: Wie viel davon trifft auch auf Westeuropa und die Schweiz zu? Man kann in der Tat auch in der Schweiz beobachten, dass linksgrüne Kreise in jungen Jahren sehr gerne in schicken, innenstädtischen Quartieren wohnen, sobald aber der Nachwuchs eingeschult werden muss, zieht man in die Agglomeration oder aufs Land, wo der Ausländeranteil tief ist.
Der Wunsch, Teil einer moralisch überhöhten Elite zu sein, äußert sich auch hierzulande in Positionen, die selten mit dem eigenen Lebensstil übereinstimmen – sei es in der Bildungspolitik, bei Fragen zur Integration oder zur nationalen Identität.