Es ist schon erstaunlich. Wenn es um sogenannten Fortschritt und die Zukunft der Bildung geht, betont die Politik in Ländern wie Deutschland vor allem, es sei zentral wichtig, den digitalen Medien deutlich mehr Raum zu geben.
In einzelnen Ländern wie Schweden findet allerdings bereits ein Umdenken statt. Dort mahnt inzwischen gar die Regierung an, wegen des breiten Einsatzes von Digitalmedien gehe die Lernkompetenz stark zurück, weshalb man dort wieder mehr Bücher in den Schulen sehen wolle.
Dass Technologien wie Smartboards und Tablets nicht nur an Schulen mehr schaden als nützen, davor warnen Experten derweil schon seit vielen Jahren. Zu den Warnern zählt etwa Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg, der 2017 die Petition «Schulpakt Digital ist ein Irrweg der Bildungspolitik» mit initiierte.
Diese Kritik erreicht offenkundig nun auch die Mainstreammedien. So berichtet CNBC, der Organisationspsychologe Richard Davis beklage, den Menschen würden die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die sie für ein erfolgreiches Privat- und Berufsleben brauchen, abhanden kommen. Davis:
«Wir laufen Gefahr, diese wesentliche Fähigkeit zu verlieren, die ich als Empfänglichkeit bezeichne. Es geht um die Fähigkeit, ein gutes Urteilsvermögen zu haben und Menschen zu verstehen, und das ist ein großes Problem.»
Schuld daran seien Technologie, soziale Medien und künstliche Intelligenz, ist Davis, der Geschäftsführer des in Toronto ansässigen Beratungsunternehmens für Führungskräfte Russell Reynolds Associates ist, überzeugt. Die Menschen würden sich so sehr auf ihre Telefone verlassen, dass sie zunehmend nicht mehr in der Lage seien, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Davis:
«Dies ist eine kognitive Fähigkeit, die man tatsächlich trainieren muss, um sie nicht zu verlieren.»
Davis führt das globale Satellitennavigationssystem GPS als Beispiel an. Früher hätten die Menschen physische Karten oder ein Gedächtnis benutzt, um dorthin zu gelangen, wo sie hinwollten. Wenn jetzt hingegen das Telefon ausfalle, könne man sich leichter verirren. «Was passiert, wenn [das GPS-gestützte Navigationssystem für Smartphones] Waze ausfällt? Wenn man kein Handysignal hat? Wenn wir kein ChatGPT haben?», fragt Davis.
USA: 20 Prozent der 18- bis 29-Jährigen smartphoneabhängig
Darüber hinaus ist laut Davis auch die Fähigkeit der Menschen, miteinander zu sprechen und in Kontakt zu treten, gefährdet. Davis:
«Wenn Ihr Kopf von Ihrem Telefon eingenommen ist, Sie Menschen über Tinder-Profile kennenlernen oder Ihre geschäftlichen Entscheidungen nur auf der Grundlage eines Lebenslaufs treffen, ohne eine Person wirklich gesehen oder Zeit mit ihr zu verbracht zu haben, verlieren Sie Ihre grundlegende menschliche Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen.»
Technisch versiert zu sein, könne einem helfen, effizienter und produktiver zu arbeiten und zu lernen. Aber wenn man sich ständig auf seine Geräte verlasse, könne man auf Dauer nicht erfolgreich sein. Davis dreht es aber auch positiv:
«Wenn Sie zeigen, dass Sie in der Lage sind, Aufgaben zu erledigen, Probleme zu lösen und Kontakte zu knüpfen, werden Sie es weit bringen. Einige CEOs schätzen diese Fähigkeiten bei potenziellen Mitarbeitern und achten darauf, wenn sie Kandidaten für eine Beförderung auswählen.»
Davis rät dazu, möglichst wenig aufs Handy zurückzugreifen. Wie CNBC in diesem Zusammenhang schreibt, würden Daten des Pew Research Center zeigen, dass 20 Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren in den USA vom Smartphone abhängig seien.
CNBC zitiert auch Amy Blankson, die als Glücksexpertin und Mitbegründerin des Digital Wellness Institute präsentiert wird. Sie meint, selbst eine kleine Reduzierung des Handygebrauchs könne einem helfen, Platz für «bildschirmfreie» Aktivitäten wie Sport und das Lesen von Büchern zu schaffen, die nachweislich die Aufnahmefähigkeit und Kognition stärken.
Sport etwa fördere die Durchblutung des Gehirns und reduziere Stress und Ängste, was es leichter mache, sich nach einem langen Arbeitstag geistig zu erholen.
Ähnlich kritisch wie Davis und Blankson äußerte sich der Sozialpsychologe Jonathan Haidt. Wie die Welt berichtet, habe Haidt eine erschütternde Datenauswertung vorgelegt – und rufe dazu auf, «die Gehirne unserer Kinder vor irreversiblen Schäden zu bewahren».
Die «prominente amerikanische Stimme», die «zu den Themen Glück und Moral forscht», wie die Welt schreibt, habe «dramatische Ergebnisse präsentiert: eine sprunghafte Zunahme von schweren Depressionen und Angststörungen bei jungen Amerikanern um rund 150 Prozent, also um das Zweieinhalbfache, ab dem Jahr 2010, eine Verdreifachung der Rate von Selbstverletzungen bei Mädchen sowie ein Ansteigen der Suizidrate um 188 Prozent».
Referenzwert sei jeweils die Situation junger Menschen vor dem für die Veränderungen entscheidenden Jahr 2010 – als die neue Frontkamera der Smartphones den Boom der Selfies ermöglicht habe.
Laut Haidt ist die Verfasstheit der jungen Generation Symptom einer kollektiven Psychopathologie, die dadurch verursacht worden sei, dass junge Menschen in einer besonders vulnerablen Entwicklungsphase mit Systemen sozialisiert würden, die von ihrer Funktionsweise her allem widersprechen, was den Menschen als Art in den letzten Hunderttausenden von Jahren ausgemacht habe.
So sei der Mensch von jeher ein Wesen, dessen soziale Interaktionen davon gekennzeichnet seien, dass sie «eins-zu-eins» oder «eins-zu-mehreren» funktionieren: Man spricht mit einem oder mehreren Menschen und erhält dabei über das, was Haidt «Synchronizität», also «Gleichzeitigkeit» nennt, permanent subtile Hinweise über «das richtige Timing», über die «Wechselseitigkeit» der Kommunikation.
Social Media-Plattformen würden diese urmenschliche Seinsweise aber aushebeln, und zwar indem sie strukturell eine radikal erhöhte Anzahl von «Eins-zu-mehreren»-Kommunikationen ermöglichen – also einer postet, Tausende lesen – und gleichzeitig völlig bereinigt von jedem natürlichen Feedback wie Mimik und Körpersprache seien. Dadurch würden sie auf diejenigen, die sie nutzen, destabilisierend wirken.
Haidt sei überzeugt, dass die Einführung bestimmter Technologien mit einem exponentiellen Anstieg psychischer Störungen korreliere. 2010, also das Jahr, in dem sich die psychische Gesundheit vor allem zu dieser Zeit gerade in die Pubertät eingetretener Mädchen auf einmal radikal verschlechtert habe, sei eben das Jahr, in dem das Smartphone seine Frontkamera erhalten habe. Mit dieser habe fortan das Selfie seinen Siegeszug in den sozialen Medien angetreten.
All das, was für die «Generation Z» als typisch gelte – etwa ihr ausgeprägter Hang zum Moralismus, wie man ihn in politischen Diskussionen immer wieder bemerkt, oder ihre Vorliebe für Verbote und «Safe Spaces» – sind Haidt zufolge Symptome von Angststörung und Depression, wie man sie seit Langem aus der Verhaltenstherapie kennt: Depressive Menschen neigen demnach zu «moralischem Schwarz-Weiß-Denken», zu «starker Verallgemeinerung» sowie zu Schuldgefühlen.
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