Am Ende des Krieges in der Ukraine droht für Kiew eine militärische Niederlage. Das sei der Fall, wenn er wie bisher fortgesetzt werde, einschließlich der massiven westlichen Waffenlieferungen, sagt der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere höchste NATO-Militär Harald Kujat.
In einem am Freitag veröffentlichten Videointerview mit der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche macht er darauf aufmerksam, dass die Lage für die Ukraine trotz der westlichen Unterstützung «immer kritischer» geworden sei. Die Waffen aus dem Westen als angebliche «Game Changer» hätten an der militärischen strategischen Situation erwartungsgemäß nichts geändert und die russischen Truppen nicht gestoppt.
Das werde immer mehr Menschen bewusst, auch in der westlichen Politik und in der ukrainischen Führung, meint der Ex-General. Er sieht in der Folge zwei Entwicklungslinien: Zum einen den Versuch Kiews, doch noch die militärische Lage zu verbessern, wozu der Einfall in die russische Region Kursk gehöre. Zum anderen, dass intensiver nach einer Friedenslösung gesucht werde, um den Krieg durch Verhandlungen zu beenden.
Kujat bezeichnet den ukrainischen Einmarsch in die russische Region Kursk als ein für alle Seiten «überraschenden Coup». Er widerspricht zugleich Spekulationen, dass das von Russland provoziert gewesen sein könnte, um ukrainisches Militär in eine Falle zu locken.
Doch diese Operation sei von «Anfang an aussichtslos» gewesen, erklärt der ehemalige ranghöchste NATO-Militär. Die militärische Lage der Ukraine sei nun noch schlechter als vorher, wozu Kiew selbst «einen großen Beitrag» geleistet habe.
Aus seiner Sicht war «das eigentliche Ziel das Erreichen des Kernkraftwerks Kursk in der Nähe von Kursk». Doch das sei gescheitert. Auch hätten die letzten Tage gezeigt, dass die gesamte ukrainische Operation gescheitert sei, mit negativen Folgen:
«Das Ergebnis ist aber, dass die Ukraine hier die eigentlichen Reserven noch zusammengezogen hat, die sie brauchte, um bei russischen Angriffen an der Donbass-Front Lücken zu füllen oder die Abwehr zu stärken, dass die im Wesentlichen hier verbraucht wurden, denn die ukrainischen Verluste sind extrem hoch.»
Damit sei die ohnehin ausgedünnte Verteidigung der ukrainischen Truppen im Donbass weiter geschwächt und die russische Offensive dort weiter befördert worden. Nun wachse in Kiew und in den westlichen Regierungen die Sorge, dass der Krieg mit einem militärischen Sieg Russlands zu Ende geht. Deshalb gebe es zum einen die Kiewer Forderungen, westliche Langstreckenwaffen gegen russische Ziele einsetzen zu können, und zugleich Signale, dass ein Verhandlungsweg gesucht werde.
Trump-Wahlsieg als Friedenschance?
Die Ukraine könne selbst die Empfehlung ihrer US-Berater, ihr verbliebene Territorium zu verteidigen, nach ihrer gescheiterten Gegenoffensive 2023 nicht mehr umsetzen. Sie habe keine notwendige starke Verteidigungsstellung aufbauen können und habe sich durch die Kursk-Operation noch zusätzlich selbst geschwächt.
Kujat sieht derzeit mehrere Entwicklungen an einem Kulminationspunkt zusammenkommen. Dazu gehöre der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen am 5. November mit einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps. Dieser könne die Lage «dramatisch von einem Tag auf den anderen» ändern.
Die USA würden versuchen, die Verantwortung für die weitere Unterstützung der Ukraine auf die EU zu übertragen. Damit könnte diese dann aber auch für ein mögliches Scheitern Kiews verantwortlich gemacht werden. Kujat bezweifelt, dass neue westliche Zusagen die Lage im Krieg vor der US-Wahl noch ändern können.
Wenn Trump den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beendet, hätte das auch «enorme Auswirkungen auf Europa, auf die europäische Sicherheit». Damit würde verhindert, dass der Krieg sich ausweite. Es könne eine Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa entwickelt werden, «in der die Ukraine ihren Platz hat, in der aber auch Russland seinen Platz hat».
«Insofern ist diese Wahl im Grunde auch für Europa eine Schicksalswahl.»
Kujat schätzt ein, dass Trump Kiew zusagt, die Ukraine nur dann weiter zu unterstützen, wenn sich diese mit Russland an einen Tisch setze, um über einen Waffenstillstand und eine Friedensregelung zu verhandeln. Daraus ergäbe sich für die EU ein Problem:
«Was tun wir, wenn wir weiter so vorgehen wie bisher? Ohne eine Friedensstrategie für die Ukraine, ohne eine vernünftige strategische Lagebeurteilung, die auch die Risiken für Europa einbezieht.»
Die europäischen NATO-Verbündeten könnten sich nach dem Solidaritätsprinzip der möglichen US-Friedensinitiative anschließen, so der Ex-General. Er befürchtet aber, dass bis auf die Ausnahmen Ungarns und der Slowakei «die Europäer im Grunde in dieser praktisch ausweglosen Lage für sie verharren, dass sie bereit sind, in eine Sackgasse zu laufen und dabei auch erhebliche Risiken für unsere eigenen Länder auszulösen».
Nuklearmächte wollen direkte Konfrontation vermeiden
Auf die Frage nach dem Zustand der russischen Streitkräfte sagt der frühere Bundwehr-Generalsinspekteur, dass diese «heute wesentlich stärker sind, als sie vor dem Krieg waren». Das gelte personell wie auch materiell. Zudem habe Russland trotz des Krieges in der Ukraine «Kräfte und Waffensysteme zurückgehalten für den Fall, dass es tatsächlich zu einem Konflikt mit der NATO kommt».
Kujat betont, dass für Moskau das Verhältnis zu Washington strategische Bedeutung habe:
«Die Vereinigten Staaten und Russland sind die beiden nuklearen Supermächte, und das ist ja auch der Grund eigentlich für beide Seiten, sowohl für Biden als auch für Putin, dass sie bisher sich sehr, sehr bemüht haben, einen direkten Konflikt untereinander zu vermeiden.»
Er äußert sich auch zu den Gesprächen zwischen dem britischen Premierminister Keith Starmer und US-Präsident Joseph Biden am Freitag. Dabei ging es Berichten zufolge auch um die mögliche Freigabe westlicher Langstreckenwaffen für den Einsatz durch Kiew gegen Ziele in Russland. Wie Kujat vermutete, wurde diese Freigabe vorerst nicht erteilt, wie Medien berichten.
Für US-Präsident Biden gehe es immer noch darum, eine Eskalation zu vermeiden, die zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland führen könnte, so der Ex-General gegenüber der Weltwoche. Biden wolle einen Dritten Weltkrieg vermeiden, wie er mehrmals erklärt habe.
Ein solcher möglicher Schritt, vor dem Russlands Präsident Wladimir Putin deutlich als Kriegseintritt der NATO gewarnt hat, würde aber nichts an der militärischen Lage ändern, betont Kujat und warnt:
«Aber es ist natürlich eine enorme Eskalation. Und Russland hat ja schon darauf reagiert.»
Aus seiner Sicht werden im Westen die russischen Aussagen über «rote Linien», die nicht überschritten werden sollten, unterschätzt. Die besonnene Reaktion Moskaus auf die Kursk-Operation der Ukrainer werde in Kiew sogar so gedeutet, «dass im Grunde genommen all diese bisherigen roten Linien ein Bluff waren».
Frieden nur durch Verhandlungen
Es gebe aber einen Unterschied zwischen der westlichen und der russischen Eskalationsstrategie. Der Westen und vor allem die USA würden in «ganz kleinen Schritten» eskalieren und vor dem nächsten Schritt die Reaktion der anderen Seite abwarten. Russland habe dagegen eine relativ hohe Toleranzschwelle und reagiere nicht auf jeden Schritt.
«Aber sie schlagen zu dem Zeitpunkt, wenn sie wirklich sich existenziell in Gefahr sehen, unbarmherzig zurück. Die Frage ist: Wann wird für die Russen dieser Punkt erreicht? Das weiß niemand. Das heißt, die Eskalation des Westens ist zunächst einmal eine Eskalation ins Nirwana.»
Es handele sich um ein Vabanquespiel mit hohen Risiken, das Kiew und der Westen betrieben. Kujat rechnet vor allem mit asymmetrischen Reaktionen Moskaus in anderen Weltgegenden.
Ihm sei «sehr unwohl zumute», gesteht er in dem Interview ein, da zwar auch im Westen inzwischen alle über Frieden für die Ukraine sprächen, aber nichts geschehe, um dem eine reale Erfolgsaussicht zu geben.
«Gleichzeitig unterstützen wir eine Eskalation auf der militärischen Seite. Das ist eine Politik, die nur ein Ergebnis haben kann, nämlich die Katastrophe für die Ukraine.»
Der frühere hochrangige NATO-Militär stellt klar, dass der «Friedensplan» des Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj für Russland inakzeptabel und deshalb ohne Aussicht auf Erfolg ist. Beide Kriegsparteien müssten gemeinsam einen Weg für eine Lösung gehen.
Der könne darin bestehen, ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zurückzukehren und an den Ergebnissen der Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 anzuknüpfen. Einem Waffenstillstand müssten sehr schnell Verhandlungen folgen, die anders als in Korea zu konkreten Regelungen führen sollten.
Das sei auch im Interesse des Westens meint Kujat, der klarstellt:
«Der Verlauf des Krieges hat die Ausgangslage in einer dramatischen Weise verändert, und man muss jetzt versuchen, einen neuen Ansatz zu finden.»