Bella Árpád und Harald Jäger standen Ende August 1989 an zwei weit entfernten Orten am «Eisernen Vorhang» zwischen Ost und West, als Grenzoffiziere. Der eine nahe der Stadt Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze, der andere an der Grenze, die mitten durch Berlin lief.
Doch sie haben, heute längst Rentner, nicht nur diese Vergangenheit gemeinsam: Sie verbindet auch, dass sie jeweils an ihrem Einsatzort den «Eisernen Vorhang» öffneten, so dass viele Menschen von Ost nach West gelangten, einige Wenige auch in die Gegenrichtung. Arpad und Jäger taten das ohne Befehl und wider die eigentlichen Vorschriften. Die gaben ihnen eigentlich vor, solche Situationen wie am 19. August 1989 (bei Sopron) und am 9. November desselben Jahres in Berlin um jeden Preis zu verhindern.
Ein Film verbindet die Geschichten der beiden ehemaligen Grenzoffiziere: «No Command!» («Kein Befehl!»), gedreht vom ungarischen Regisseur Péter Szalay. Er hat Árpád und Jäger dafür erneut zusammengebracht, nachdem sie sich 2014 zum ersten Mal begegneten.
Damals wurden beide von Michail Gorbatschow in Berlin während einer Veranstaltung der internationalen Stiftung «Cinema for Peace» geehrt. Seitdem dürfen beide sich «Hero of Peace» («Held des Friedens») nennen. Vorher hatten sie nichts voneinander gewusst, auch nichts von ihren Entscheidungen vor nun 35 Jahren mit den welthistorischen Folgen.
Am vergangenen Mittwoch, ein September-Tag wie vor 35 Jahren, wurde der Film im Collegium Hungaricum in Berlin gezeigt. Anwesend waren neben Szalay und Lászlo Nagy, einem der Organisatoren des «Paneuropäischen Picknicks» von Sopron am 19. August 1989, auch Zeitzeugen, die damals entweder als Kind mit den Eltern oder junge Erwachsene aus der DDR die Grenze von Ost nach West überschritten.
Szalay erzählt aber nicht nur die Geschichte der beiden Männer, die von Grenzschützern zu Grenzöffnern wurden. Er berichtet im Film ebenso von Kurt Werner Schulz und dessen Familie, die im Sommer 1989 in Ungarn versuchten, die Grenze nach Österreich zu überwinden. Das gelang ihnen nicht nur nicht so einfach wie den mehreren Hundert beim Picknick nahe Sopron.
Der damals 36-jährige Schulz verlor dabei am 21. August sein Leben und gilt als letztes Todesopfer des «Eisernen Vorhangs». Beim Gerangel mit einem ungarischen Grenzsoldaten, der ihn aufhalten wollte, fiel ein Schuss aus der Maschinenpistole des Soldaten, der den Mann aus Weimar tötete. Die genauen Umstände sind bis heute nicht bekannt, auch weil der Fluchtversuch in der Nacht ablief.
Im Film berichtet die Witwe Gundula Schafitel über das Geschehen von damals, hinzu kommen nachgespielte Szenen, wie die Familie sich nach Ungarn begab, um den real existierenden Sozialismus zu verlassen. Sie konnte mit ihrem Sohn drei Tage später das Land nach Österreich verlassen, nachdem sich die ungarischen Behörden bei ihr zumindest entschuldigt hatten.
Ohne Befehl und ohne Kontrolle
In der Nacht zum 11. September 1989 öffnete dann das noch sozialistische Ungarn seine Grenze nach Österreich für alle DDR-Bürger, die raus wollten, gegen den Protest der «befreundeten» DDR-Führung. Und am 9. November leitete MfS-Oberstleutnant Harald Jäger das endgültige Aus des «Eisernen Vorhangs» ein, in dem er den Schlagbaum des Grenzübergangs Bornholmer Straße in Berlin öffnete und die drängenden Hunderte DDR-Bürger in den Westteil der Stadt laufen und fahren ließ – ohne Kontrolle, aber auch ohne Befehl dafür.
Harald Jäger (hier 2019) öffnete am 9. November 1989 in Berlin die Grenze (alle Fotos: Tilo Gräser)
Ähnlich hatte es der Oberstleutnant der ungarischen Grenztruppen Bella Árpád am 19. August des Jahres am Grenzzaun nahe Sopron gemacht. Als Hunderte von vorinformierten DDR-Bürgern das von ungarischen Oppositionellen um László Nagy organisierte «Paneuropäische Picknick» nutzten und auf das offene Tor nach Österreich zuströmten, ließ er sie laufen – ebenfalls ohne Kontrolle und ohne Befehl.
Im Film berichten er und Jäger, dass sie von ihren Vorgesetzten keinerlei Instruktionen vorher und mittendrin bekamen, wie sie sich in dem Fall verhalten sollen. Es gibt Hinweise darauf, dass nicht nur die ungarische Führung vorher von dem Picknick und der offenen Grenze wusste. Ein Zeitzeuge, der vor 35 Jahren den Grenzdurchbruch miterlebte und mitmachte, berichtete am Mittwoch, er habe sich schon damals gewundert, dass alles so friedlich und glatt ablief.
Er habe mit anderen aus Misstrauen nicht das offene Tor genommen und sei an einer Stelle über den Grenzzaun geklettert, die dafür vorbereitet schien. Und auf der österreichischen Seite seien sie von einem hochdeutsch sprechenden Mann in Empfang genommen worden, der nicht wie einer der wenigen anwesenden österreichischen Zöllner wirkte. Für den Zeitzeugen ist heute klar, dass damals die Geheimdienste beider Seiten an dem Geschehen beteiligt waren, auch wenn er es nicht beweisen kann, wie er im Gespräch sagte.
Picknick-Organisator Nagy berichtete in der Podiumsdiskussion mit Regisseur Szalay und Moderator Claus Löser nach dem Film, dass der damalige ungarische Regierungschef Miklós Németh die 280 Kilometer lange Grenze zu Österreich bereits im Frühjahr 1989 öffnen und die Sperranlagen abbauen ließ. Dabei sei getestet worden, wie die sowjetische Führung um Gorbatschow reagiert.
Doch Moskau ließ die ungarischen Genossen gewähren und unternahm nichts gegen den Abbau des «Eisernen Vorhangs». In den sei ein 280 Kilometer langes Loch gerissen worden, was nur auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze verstanden worden sei, aber in keinem anderen Land.
Auf diese Tatsache habe das heute legendäre Picknick als Spektakel für die Medien aufmerksam machen sollen, allerdings nicht als Möglichkeit einer Massenflucht von DDR-Bürgern. Nagy erinnerte an den auch damals erstaunlichen Umstand, dass einer der Schirmherren des Picknicks an der Grenze, Imre Pozsgay, Politbüromitglied der herrschenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) war. Der 2016 verstorbene Politiker war allerdings als «Reformer» bekannt.
Vorbereitete Eskalation
Ministerpräsident Németh habe zudem im März 1989 für Ungarn als erstem sozialistischen Land die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Damit seien die fluchtwilligen DDR-Bürger im Land als Flüchtlinge anerkannt worden. Das habe das weitere Vorgehen der Regierung international abgesichert, während in Budapest und Moskau immer noch «Hardliner» drohten, den Prozess zu stoppen.
Lászlo Nagy in der Podiumsdiskussion nach der Filmvorführung
Laut Nagy – heute Direktor des Gedenkparks «Paneuropäisches Picknick» bei Sopron – wurden die Organisatoren der Veranstaltung aber von allen staatlichen Stellen aktiv unterstützt. In der Podiumsdiskussion berichtete er, dass nach seinem jetzigen Wissen damals «mehrere Geheimdienste» daran gearbeitet hätten, eine Eskalation, eben die Massenflucht von DDR-Bürgern, im Zusammenhang mit dem Picknick auszulösen.
Damit habe ein weiteres Mal die sowjetische Führung auf ihre Reaktion getestet werden sollen. Németh habe dafür auch angeordnet, dass der verantwortliche Grenzoffizier Bella Árpád für die Dauer des dreistündigen Picknicks von der Regelung befreit ist, bei Grenzdurchbrüchen die Schusswaffen anzuwenden. Doch die entsprechende Anordnung habe den Oberstleutnant aus bis heute unbekannten Gründen nicht erreicht.
Aber der von den anstürmenden DDR-Flüchtlingen überraschte Árpád ließ seine Pistole stecken und befahl auch den anderen vier Grenzern – eine Minimalbesatzung angesichts der Vorgänge –, nicht zu schießen. Allerdings wusste er immerhin durch ein Fernschreiben vom 17. August, dass möglicherweise viele DDR-Flüchtlinge zu dem Picknick kommen.
Die bei der Filmvorführung im Collegium Hungaricum in Berlins Mitte anwesenden drei Zeitzeugen bedankten sich bei Nagy noch einmal stellvertretend für die damaligen Verantwortlichen in Ungarn, dass ihre Flucht aus der DDR möglich wurde. Sie bedankten sich auch bei Regisseur Szalay für den Film, der das Geschehen von damals auch anderen nahebringe. Interessanterweise kamen sie nach dem «Mauerfall» 1989 und dem folgenden Ende der DDR wieder zurück nach Ostdeutschland und leben wieder dort.
Fehlende Zusammenhänge und West-Zeitzeugen
Der Film geht auch auf die Entwicklung im Jahr 1989 ein, auf die Rahmenbedingungen in Ost und West, in die er das Geschehen beim Picknick und die Fluchtgeschichten einordnet. Da ist auch viel von dem Wunsch der Menschen aus der DDR nach Freiheit die Rede, von dem Wunsch, dem real existierenden Sozialismus entfliehen zu können, von dem auch die bei der Veranstaltung anwesenden Zeitzeugen sprachen.
Leider bleibt unterbelichtet, dass der «Eiserne Vorhang» nicht nur einfach eine stark bewachte Grenze war, die auch eine Flucht aus dem Osten verhindern sollte, sondern zwei hochgerüstete und atomar bewaffnete Blöcken voneinander trennte. Bei der jahrzehntelangen Konfrontation zwischen Ost und West, dem Kalten Krieg, ging es beiden Seiten mehr oder weniger immer auch darum, dass es nicht zu einem neuen heißen Krieg kommt.
Beide Seiten hatten und machten Angst vor der jeweils anderen – mit einem kleinen Unterschied, auf den der 2014 verstorbene ehemalige CIA-Mitarbeiter Thomas Polgar in einer TV-Dokumentation hinwies:
«Ich habe nie daran geglaubt, ich persönlich. (...) meine Dienststelle in Berlin hat nie daran gedacht, dass wir Krieg mit Russland haben werden. Aber sehr viele Leute verdienen Geld mit der Angst. Und der ganze Militärisch-Industrielle Komplex der Vereinigten Staaten muss in Betrieb gehalten werden durch die Angst.»
Angesichts all dessen waren die Vorgänge an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich 1989 zum einen riskant, aber auch erstaunlich, abgesehen von der Tatsache, dass Österreich formal neutral war. Bemerkenswert ist angesichts der vielen Aussagen von Zeitzeugen der damaligen Ereignisse, dass diese meistens von der östlichen Seite stammen. Solch umfangreiche Darstellungen von Beteiligten auf der westlichen Seite gibt es im Vergleich weniger, gerade auch auf der mittleren und unteren Ebene der Apparate und Behörden.
Filmregisseur Péter Szalay
Auch in dem bereits 2020 fertiggestellten Film von Szalay kommen keine westdeutschen oder österreichischen Beteiligten zu Wort. Aber dennoch handelt es sich um ein interessantes Zeugnis des Geschehens. Es war schon auf zahlreichen Filmfestivals zu sehen, wie der Regisseur berichtete.
Er zeige den Film auch immer wieder in Schulen, um den Heranwachsenden zu ermöglichen, die geschichtlichen Ereignisse und ihre Zusammenhänge zu verstehen. Szalay hofft auch auf wachsendes Interesse im deutschsprachigen Raum, für den es eine entsprechend synchronisierte Version gibt, die in Berlin gezeigt wurde.
Leider war der heute 81-jährige ehemalige DDR-Grenzschützer und spätere Grenzöffner Harald Jäger nicht bei der Filmvorführung anwesend. Er sei eingeladen gewesen, berichtete Márta Nagy, die Leiterin des Collegium Hungaricum, habe aber nicht dabei sein wollen. Seine Sicht auf die Ereignisse am 9. November 1989 hatte er mir gegenüber 2019 in einem Gespräch dargestellt, was in drei Teilen hier, hier und hier nachgelesen werden kann.