Nach rund zwei Jahren an Pilotversuchen in Brasilien und Teilen des asiatisch-pazifischen Raums führt Mastercard nun sein biometrisches Zahlungssystem für den Einzelhandel in Europa ein. Darüber berichtet das Online-Portal Naked Capitalism.
Das weltgrößte Zahlungskartenunternehmen wolle die Verbraucher offenbar nicht nur vom Bargeld entwöhnen, sondern auch von Kredit- und Debitkarten, seinem bisherigen Hauptgeschäftszweig. Mastercard testet sein biometrisches Checkout-Programm nun in Polen in Zusammenarbeit mit dem lokalen Fintech-Unternehmen PayEye und fünf Filialen der Handelskette Empik.
In einer Pressemitteilung des Unternehmens heißt es:
«Das globale Biometric Checkout Program von Mastercard ist ein einzigartiges technologisches Rahmenwerk, das dazu beiträgt, Standards für neue Bezahlmethoden zu etablieren. Es ermöglicht Karteninhabern, eine breite Palette biometrischer Authentifizierungsmethoden wie Handflächen-, Gesichts- oder Iris-Scan zu nutzen. (...) Mit dem Mastercard Biometric Checkout Program sind sichere und bequeme Erfahrungen möglich, indem man einfach seine biometrischen Daten verwendet.»
«Warum gerade Polen?», fragt Naked Capitalism. Gemäß der zuständigen General Managerin sei Polen «der perfekte Ort für ein solch bahnbrechendes Pilotprojekt», denn die Polen seien neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen. Das Portal ergänzt, dass sonst gerne die Ukraine für derartige Experimente benutzt würde, aber «aufgrund von Problemen mit der Stromversorgung» aktuell nicht mehr geeignet sei.
Mastercard ist nicht das einzige große Finanzinstitut, das diese noch relativ junge Zahlungsmöglichkeit erprobt. So habe Visa kürzlich in Singapur seine biometrische Zahlungstechnologie Pay-by-Palm vorgestellt, erklärt das Portal. Die größte Bank in den USA, JP Morgan Chase, teste ebenfalls Technologien zum Bezahlen mit dem Gesicht und der Handfläche, um Anfang nächsten Jahres einen biometrischen Checkout-Service für ihre Händler einzuführen.
Biometrische Daten seien bereits in viele andere Bereiche des täglichen Lebens vorgedrungen, darunter Reisen und Kommunikation. Bald könnten biometrische Identifikatoren sogar erforderlich sein, um sich bei Social-Media-Plattformen anzumelden, so Naked Capitalism. Die Menschen gäben bereits ihre privatesten Daten preis, um zu arbeiten, zu kommunizieren, Grenzen zu überschreiten oder in Flugzeuge zu steigen. Die Frage sei, ob sie das auch tun würden, um ihr Einkaufserlebnis zu beschleunigen.
Es rege sich Widerstand gegen biometrische Überwachungs- und Kontrollsysteme. Eine wachsende Zahl von US-Bundesstaaten habe Gesetze erlassen, die die Verarbeitung biometrischer Daten ausdrücklich regeln. Im Vereinigten Königreich sei das von Amazon angebotene unbemannte Ladenerlebnis ein derartiger Flop gewesen, dass das Unternehmen Geschäfte eröffnen musste, in denen die Kunden von echten Menschen bedient werden.
Ein weiteres potenzielles Problem bei Mastercards biometrischem Kassenprogramm sei das offensichtliche Risiko, das von den Augen der Kunden ausgehe, ergänzt das Portal. Wie das Unternehmen selbst in seiner Pressemitteilung anmerke, erfordert die Verwendung der Terminals von PayEye eine «präzise Kalibrierung, so dass kein Risiko besteht, versehentlich auf das Terminal zu schauen und die Einkäufe einer anderen Person zu bezahlen».
Andere große Bedenken betreffen den Datenschutz und die Sicherheit. Naked Capitalism weist darauf hin, dass Datenverletzungen keine Frage des Ob, sondern des Wann sind. Datenpannen hätten beispielsweise auch Mastercard, Visa und JP Morgan Chase erlitten.
Die großen Systeme in Indien, den Philippinen und Südkorea seien von umfassenden Sicherheitsverletzungen betroffen gewesen, die zum Bekanntwerden der biometrischen Daten von Millionen von Menschen führten. Über einen ähnlichen Fall in El Salvador hat Transition News kürzlich berichtet.
Naked Capitalism fasst die besondere Problematik eindrücklich zusammen:
«Biometrische Daten sind die wertvollsten Daten überhaupt. Wenn sie gehackt werden, durchsickern oder auf andere Weise kompromittiert werden, ist der Schaden oft dauerhaft. Sie können Ihre Iris, Ihren Fingerabdruck oder Ihre DNA nicht ändern oder löschen, wie Sie ein Passwort ändern oder eine Kreditkarte sperren können.»
Nach einer Kompromittierung biometrischer Identifikatoren habe die betroffene Person keine Möglichkeit, sich zu wehren. Sie sei einem erhöhten Risiko des Identitätsdiebstahls ausgesetzt. Das mache den unaufhaltsamen Marsch in eine Zukunft der biometrisch gestützten Überwachung und Kontrolle so gefährlich.
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