Nigeria ist nach Angola der zweitgrößte Öl- und Gasproduzent in Afrika. Die Öleinnahmen machen fast 90% der Exporteinnahmen des Landes aus. Dennoch erreichte die Armutsquote laut der Weltbank 2023 fast 40%. Schätzungsweise 87 der etwa 220 Millionen Nigerianer leben demnach unterhalb der Armutsgrenze. Das Land habe somit die zweitgrößte arme Bevölkerung der Welt nach Indien. Nigeria ist ein Paradebeispiel des sogenannten «Ressourcenfluchs».
Die weit verbreitete Armut in Nigeria trotz des enormen Ölreichtums ist maßgeblich auf die kolonialen und postkolonialen Strukturen zurückzuführen. Unter britischer Herrschaft war die nigerianische Wirtschaft auf die Gewinnung von Ressourcen ausgerichtet. Dabei wurde die lokale Entwicklung vernachlässigt und ein zentralisiertes, autoritäres Regierungssystem geschaffen. Dies legte den Grundstein für die Herausforderungen der Zeit nach der Unabhängigkeit, wie schwache Institutionen, ethnische Spaltungen und wirtschaftliche Abhängigkeit.
Die postkolonialen Führer hielten diese Strukturen oft aufrecht, indem sie persönlichen und elitären Interessen Vorrang vor der nationalen Entwicklung einräumten. Die Abhängigkeit vom Öl, das von ausländischen Konzernen dominiert wird, verfestigte die wirtschaftliche Ungleichheit und die Anfälligkeit für globale Preisschocks noch weiter. Die Umweltzerstörung in den ölproduzierenden Regionen wie dem Nigerdelta und die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) vertieften die Armut und Unterentwicklung.
Weltbekannt wurde der nigerianische Schriftsteller und Aktivist Ken Saro-Wiwa. Er führte die Bewegung Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP) an, die sich gegen die Umweltzerstörung durch Ölfirmen wie Shell im Nigerdelta einsetzte. Er kämpfte für Ressourcenkontrolle, Umweltgerechtigkeit und Entschädigung für das Volk der Ogoni. Die nigerianische Militärregierung unter Sani Abacha beschuldigte ihn der Anstiftung zur Gewalt. Nach einem fehlerhaften Prozess wurde er zusammen mit acht anderen Aktivisten am 10. November 1995 hingerichtet, was internationale Empörung auslöste.
Shell, einer der größten in Nigeria tätigen Ölkonzerne, war tief in die Ereignisse um Ken Saro-Wiwa und die Notlage des Ogoni-Volkes verwickelt. Die Aktivitäten des Unternehmens im Nigerdelta und seine Beziehungen zur nigerianischen Regierung spielten eine wichtige Rolle bei den ökologischen und sozialen Problemen, die Saro-Wiwa zu seinem Engagement veranlassten. Shell wurde beschuldigt, an der Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa und den sogenannten «Ogoni Nine» beteiligt gewesen zu sein. Das Unternehmen hat eine direkte Beteiligung aber stets bestritten. Im Rahmen einer Klage einiger Witwen der «Ogoni Nine» gegen Shell bei einem niederländischen Bezirksgericht sagte Audrey Gaughran, Senior Director of Research bei Amnesty International:
«Shell ermutigte die Regierung, Ken Saro-Wiwa und MOSOP zu stoppen, wohl wissend, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen gegen sie führen würde. Shell hatte zahlreiche Beweise dafür, dass das nigerianische Militär auf die Proteste in Ogoniland mit Misshandlungen reagierte.»
Vor zwei Monaten ereignete sich nun in Nigerias angeschlagenem Energiesektor etwas sehr Bedeutendes, wie die BBC berichtet: Die Dangote Oil Refinery begann mit der Produktion von Benzin und dessen Verkauf im Inland an Nigerias staatliche Ölgesellschaft Nigerian National Petroleum Company (NNPC). Damit raffiniert Nigeria laut OilPrice.com zum ersten Mal seit Jahrzehnten sein eigenes Rohöl, anstatt es ins Ausland zu exportieren und von dort fertige Produkte wie Benzin zu kaufen, was höhere Kosten bedeutet. Die hochmoderne 20-Milliarden-Dollar-Raffinerie sei im Januar 2024 in Betrieb genommen worden, habe aber erst im September mit der Benzinproduktion begonnen und werde voraussichtlich im November ihren vollen Betrieb aufnehmen, so der Sender.
Gemäß der BBC hat die riesige Raffinerie habe eine Verarbeitungskapazität von 650.000 Barrel Rohöl pro Tag, mehr als genug für den Bedarf des Landes. Zudem kaufe das Unternehmen Rohöl und verkaufe raffinierte Kraftstoffe in Nigeria in der Landeswährung, wodurch das Land dringend benötigte Devisen, insbesondere den US-Dollar, spare. Der Sender erklärt:
«Es ist zu hoffen, dass die Ankunft der Ölraffinerie von Herrn Dangote dazu beitragen wird, ein gewisses Maß an Transparenz in den Sektor zu bringen. Er wusste, dass er einige derjenigen verärgern würde, die von dem undurchsichtigen Status quo profitieren, als das 20-Milliarden-Dollar-Projekt begann. Aber, so sagt er, er hat die Herausforderung unterschätzt. ‹Ich wusste, dass es einen Kampf geben würde. Aber ich wusste nicht, dass die Ölmafia stärker ist als die Drogenmafia›, sagte Dangote auf einer Investitionskonferenz im Juni.
‹Sie wollen nicht, dass der Handel aufhört. Es ist ein Kartell. Wenn Dangote auftaucht, wird er sie völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Ihr Geschäft ist in Gefahr›, erklärte der nigerianische Ölexperte [Kelvin] Emmanuel.»
Der BBC zufolge war der nachgelagerte Sektor, das heißt die Phase, in der das Rohöl zu Benzin und anderen Produkten raffiniert wird, seit der Entdeckung des Erdöls in Nigeria im Jahr 1956 über weite Strecken ein Sündenpfuhl zwielichtiger Geschäfte, an denen die verschiedenen Regierungen maßgeblich beteiligt waren. Der Sender kommentiert:
«Es war schon immer unmöglich, dem Geld zu folgen, aber man weiß, dass etwas furchtbar falsch läuft, wenn die Schlagzeile ‹Nigerias staatliches Ölunternehmen zahlt 16 Milliarden Dollar an Öleinnahmen nicht aus› in den Nachrichten auftaucht, wie es 2016 der Fall war.»
Die NNPC habe erst in den letzten fünf Jahren Bilanzen veröffentlicht. Die BBC zitiert die Afrika-Leiterin des Think-Tanks Eurasia Group, Amaka Anku. Sie begrüße die Dangote-Raffinerie, an der die NNPC mit 7% beteiligt ist, als einen «sehr bedeutenden Moment» für den westafrikanischen Staat. Sie sagt:
«Im nachgelagerten Sektor gab es ein ineffizientes, korruptes Monopol. Die lokale Raffinerie ermöglicht einen wirklich wettbewerbsfähigen nachgelagerten Sektor mit mehreren Akteuren, die effizienter sind, Gewinne erzielen und Steuern zahlen.»
Die BBC macht klar:
«Um es deutlich zu sagen: Die Bevölkerung dieses ölreichen Landes wurde jahrelang in großem Stil betrogen.»
Die neue Dangote-Raffinerie sollte ein Vorteil für Nigeria sein, doch laut dem Sender wurde sie in eine Zeit wirtschaftlicher Veränderungen eingebettet, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Seit den 1970er Jahren subventioniere die NNPC die Kraftstoffpreise für inländische Käufer, diese Subventionen seien allerdings zunehmend durch geringere Zahlungen an den Staat ausgeglichen worden.
2023 hätte sich Präsident Bola Tinubu jedoch gezwungen gesehen, die Subventionen abzuschaffen, da sie die Regierung 10 Milliarden Dollar kosteten, was über 40% der Steuereinnahmen ausmachte. An seinem zweiten Tag im Amt bezeichnete der nigerianische Vizepräsident Kashim Shettima den «Betrug mit den Treibstoffsubventionen“ als „ein Albatros um den Hals der Wirtschaft». Zudem habe Tinubu die Politik der Stützung der Landeswährung Naira beendet und den Markt dessen Wert bestimmen lassen, so die BBC. Oil Price.com stellt fest, dass die Nigerianer jetzt etwa 2,30 Dollar pro Gallone Benzin zahlen, was dreimal so viel sei wie vor einigen Jahren, aber immer noch sehr günstig im Vergleich zu den USA.
Ob die Dangote-Raffinerie ihr volles Potenzial ausschöpfen kann, wird sich laut dem Portal erst mit der Zeit zeigen. Ein großes Problem für den nigerianischen Energiesektor bleibe auch der Öldiebstahl. Dieser könnte die Raffinerie daran hindern, ihr gesamtes Rohöl vor Ort zu kaufen.
Toyin Akinosho vom Africa Oil+Gas Report erklärte gegenüber BBC, dass die NNPC nicht genug Rohöl für Dangote hat. Dies sei zum Teil darauf zurückzuführen, dass der NNPC Millionen von Barrel Öl für Kredite vorverkauft habe. Im August 2023 habe sich die NNPC ein Darlehen in Höhe von 3 Milliarden Dollar von der Afreximbank gesichert, erläutert die BBC. Im Gegenzug soll die Gesellschaft 164 Millionen Barrel Rohöl liefern. Im September habe sie zugegeben, dass sie hoch verschuldet ist. Berichten zufolge schulde sie ihren Lieferanten rund 6 Milliarden Dollar für ins Land gebrachten Treibstoff.
Die nigerianische Ölproduktion ist in den letzten Jahren gemäß dem Sender von rund 2,1 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2018 auf rund 1,3 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2023 gesunken. Die NNPC habe den Öldiebstahl als Hauptgrund für den Produktionsrückgang genannt. Laut der NNPC habe es allein vom 28. September bis zum 4. Oktober 161 Vorfälle von Öldiebstahl im gesamten Nigerdelta gegeben und 45 illegale Raffinerien seien «entdeckt» worden.
Anku ist jedoch der Meinung, dass «das Diebstahlproblem vom NNPC und dem Ölsektor überbewertet wird». «Es ist eine bequeme Ausrede», fügt sie hinzu. Ihr zufolge haben andere Faktoren zum Produktionsrückgang beitragen, darunter internationale Ölgesellschaften, die ihre Ölfelder an Land verkaufen. Einige davon seien nach 60 Jahren Ölförderung möglicherweise nicht mehr rentabel. OilPrice.com konstatiert:
«Inzwischen hat der seit über einem Jahrzehnt andauernde Rückzug der multinationalen Öl- und Gaskonzerne aus dem Nigerdelta seinen Höhepunkt erreicht. Zahlreiche große Öl- und Gaskonzerne haben sich in den letzten Jahren aus dem nigerianischen Markt zurückgezogen, obwohl die größte Volkswirtschaft Afrikas mit dem Petroleum Industry Act (PIA) 2021 ihre Türen für weitere Explorationen geöffnet hat. Die nigerianische Ölproduktion ist von rund 2,1 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2018 auf derzeit 1,3 Millionen Barrel pro Tag gesunken.»