Nach dem Sturz der Regierung von Bashar Assad in Syrien ist die Zukunft des Landes ungewiss. Der investigative Journalist Kit Klarenberg wirft dabei in Sheerpost die wichtige Frage auf, ob das Land ein geeinter Staat bleiben kann oder vor einer Fragmentierung steht.
Die aktuellen Machthaber der extremistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) seien in der Lage, wichtige Verwaltungsaufgaben zu übernehmen, so Klarenberg. Dies zeige sich daran, dass sie schnell die Macht übernommen habe, indem sie unter anderem die Polizei einsetzte, eine Übergangsregierung bildete und sich mit ausländischen Gesandten traf. HTS-Führer Mohammed Bashir fungiere jetzt als Syriens «geschäftsführender Premierminister».
Dem Journalisten zufolge plant die HTS ein marktwirtschaftliches Modell einzuführen, das Syrien an die globalen Wirtschaftssysteme anpasst. Dies gehe aus mehreren Mainstream-Berichten hervor, laut denen die HTS lokale und internationale Wirtschaftsführer darüber informiert hat, dass sie «ein Modell der freien Marktwirtschaft einführen und das Land in die Weltwirtschaft integrieren wird, was eine bedeutende Abkehr von der jahrzehntelangen korrupten staatlichen Kontrolle darstellt».
Klarenberg zitiert Alexander McKay vom Marx Engels Lenin Institute, laut dem ein auffälliges Merkmal der anhaltenden Angriffe auf die syrische Infrastruktur von Kräften innerhalb und außerhalb des Landes ist, dass wirtschaftliche und industrielle Standorte ein wiederkehrendes Ziel sind. Darüber hinaus habe die potenzielle HTS-Regierung nichts unternommen, um diesen Breitseiten entgegenzuwirken, obwohl die Sicherung wichtiger wirtschaftlicher Güter für den Wiederaufbau der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung und daher vorrangig sei:
«Wir können deutlich sehen, was für ein Land diese ‹gemäßigten Rebellen› aufbauen wollen. Kräfte wie HTS sind mit dem US-Imperialismus verbündet, und ihr wirtschaftliches Vorgehen wird dies widerspiegeln. Vor dem Stellvertreterkrieg verfolgte die Regierung einen wirtschaftlichen Ansatz, bei dem staatliches Eigentum und Marktelemente gemischt wurden. Die staatliche Intervention ermöglichte ein Maß an politischer Unabhängigkeit, das anderen Nationen in der Region fehlt. Assads Regierung hat verstanden, dass es ohne eine industrielle Basis unmöglich ist, souverän zu sein. Mit dem neuen Ansatz des ‹freien Marktes› wird all dies völlig zerstört.»
Das bedeutet gemäß Klarenberg eine deutliche Abkehr der gemischten Wirtschaft aus öffentlichem Eigentum und Marktelementen des ehemaligen Präsidenten Bashar al-Assad, die Selbstversorgung und politische Unabhängigkeit unterstützte. Vor dem Krieg habe sich Syrien einer kostenlosen Gesundheitsversorgung, einer hohen Alphabetisierungsrate und der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln gerühmt – Errungenschaften, die nun durch westliche Sanktionen, Embargos und die Beschlagnahme von Ressourcen zunichte gemacht worden seien.
James Jeffrey, Leiter der Syrienpolitik im US-Außenministerium, habe gegenüber PBS zugegeben, dass die USA gleichzeitig häufige, geheime Gespräche mit HTS durchführten und die Gruppe aktiv unterstützten – wenn auch «indirekt», da das Außenministerium die Gruppe als terroristische Vereinigung einstuft. Dies sei geschehen, nachdem sich ihre Anführer, darunter Abu Mohammed Jolani, ehemaliger Anführer des Al-Qaida-Ablegers al-Nusra, direkt an Washington gewandt hatten. «Wir wollen Ihr Freund sein. Wir sind keine Terroristen. Wir kämpfen nur gegen Assad», soll die HTS gesagt haben. Klarenberg weiter:
«Angesichts dieses Kontakts ist es vielleicht kein Zufall, dass Jolani im Juli 2022 eine Reihe von Mitteilungen über die Pläne von HTS für das künftige Syrien herausgab, die mehrere Passagen enthielten, in denen Finanzen und Industrie eine große Rolle spielten. In direkter Anspielung auf das jüngste Versprechen der Gruppe, ‹ein Modell der freien Marktwirtschaft zu übernehmen›, sprach der extremistische Massenmörder von seinem Wunsch, ‹die lokalen Märkte für die Weltwirtschaft zu öffnen›. Viele Passagen lesen sich, als seien sie von Vertretern des Internationalen Währungsfonds und/oder des US-Außenministeriums verfasst worden.»
«Zufälligerweise» habe Syrien seit 1984 Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF) abgelehnt, «ein Schlüsselinstrument, mit dem das Imperium das globale kapitalistische System aufrechterhält und den globalen Süden beherrscht, indem es sicherstellt, dass ‹arme› Länder unter seinem Absatz eingekeilt bleiben». Die Welthandelsorganisation (WTO), in der Damaskus ebenfalls nicht Mitglied ist, habe eine ähnliche Rolle gespielt. Ein Beitritt zu beiden würde dazu beitragen, das von der HTS vertretene «Modell der freien Marktwirtschaft» zu zementieren. Und nach mehr als einem Jahrzehnt des vorsätzlichen, systematischen wirtschaftlichen Ruins hätten sie kaum eine andere Wahl.
Der Journalist zieht Parallelen zu Jugoslawien in den 1990er Jahren, wo westliche Mächte eine sozialistische Föderation durch Sanktionen, Krieg und wirtschaftliche «Schocktherapie» demontierten. Jugoslawiens Widerstand gegen die Privatisierung und die wirtschaftliche Dominanz des Westens habe den Zusammenbruch des Landes verzögert, doch letztlich sei es der NATO-Intervention und neoliberalen Reformen erlegen.
McKay stellt fest, dass während der gesamten Ära der US-Unipolarität nach 1989 weltweit ähnliche Anstrengungen unternommen wurden. In Russland sei dies in den 1990er Jahren in vollem Gange gewesen, «bis unter Putin nach 2000 eine Wende eintrat». Syrien stehe nun vor einem ähnlichen Schicksal. Jetzt «frei», werde das Land zwangsweise «immer mehr von Importen aus dem Westen abhängig» gemacht. Das fülle nicht nur die Kassen des Imperiums, sondern «schränkt die Freiheit jeder syrischen Regierung, mit einem gewissen Grad an Unabhängigkeit zu handeln, stark ein»:
«Das Ziel ist es, Syrien auf den gleichen Status wie den Libanon zu reduzieren, mit einer Wirtschaft, die von imperialen Kräften kontrolliert wird, einer Armee, die in erster Linie zur internen Unterdrückung eingesetzt wird, und einer Wirtschaft, die nicht mehr in der Lage ist, irgendetwas zu produzieren, sondern lediglich als Markt für anderswo produzierte Waren und als Standort für die Rohstoffgewinnung dient. Die USA und ihre Verbündeten sind nicht an einer unabhängigen Entwicklung der Wirtschaft eines Landes interessiert. Wir müssen hoffen, dass sich das syrische Volk diesem jüngsten Akt des Neokolonialismus widersetzen kann.»
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