In Deutschland hat sich die Russophobie in einem Masse breitgemacht, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr zu erleben war. Als willkommener Anlass wurde der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 genommen.
Die Vorgeschichte wird völlig ausgeblendet. Aber auch die Russophobie brach nicht plötzlich aus, sondern wuchs stetig an, bis sie vor eineinhalb Jahren freie Bahn erhielt.
Davon zeugen unter anderem die seitdem erschienenen Bücher fast aller etablierten deutschen Verlage, in denen Russland nur als Hort des Bösen und brutale imperialistische Macht vorkommt, die Ukraine hingegen als Hort der Freiheit und Vorposten Europas. Auch Kampagnen gegen russische Künstler, die entweder ausgeladen werden oder deren Ausstellungen und Auftritte von antirussischen Proklamationen und Protesten begleitet werden, geben Zeugnis davon.
Beides war am vergangenen Freitag in Berlin zu erleben, beim Gastauftritt der renommierten russischen Sängerin Anna Netrebko als «Lady Macbeth» in der gleichnamigen Verdi-Oper in der Staatsoper sowie beim Internationalen Literaturfestival. Der Netrebko-Auftritt wurde nicht nur von proukrainischen Aussagen von Intendant Matthias Schulz begleitet, der das von ihm geleitete Haus als Bühne bezeichnete, «die so klar ukrainisch positioniert ist».
Es ging sogar so weit, dass auf dem Dach der Staatsoper eine grosse ukrainische Fahne geweht hat und der Eingang mit einem grossen gelb-blauen Banner versehen war, während Netrebko drinnen gesungen hat. Davor hatten sich etwa 100 Menschen versammelt, die mit ukrainischen Fahnen (plus einer polnischen), ukrainischer Musik, Transparenten und Parolen gegen den Auftritt der russischen Sängerin protestierten. «Kultur hat Verantwortung», stand auf einem Schild, in Englisch.
Am 15. September 2023 in Berlin vor der Staatsoper (Foto: Tilo Gräser)
Irgendwann erscholl der ukrainische, nationalistische Ruf «Slawa Ukraini». Wie Kultur zu Frieden und Verständigung beitragen könnte, beschäftigte niemanden unter denen, die sich zum Teil in ukrainische Flaggen eingehüllt vor der Staatsoper versammelt hatten.
Das gilt auch für eine Buchvorstellung am selben Abend im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals. Der russische Journalist und Autor Michail Sygar sprach über sein neues Buch «Krieg und Sühne», das gerade im Aufbau-Verlag erschienen ist.
Mit diesem will er laut eigener Aussage nichts weniger, als mit den Mythen über den russischen Imperialismus aufräumen. Dazu passend wurde die einstündige Veranstaltung von der Historikerin Franziska Davies moderiert, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, «Russlandversteher» wie Gabriele Krone-Schmalz und andere zu diffamieren und gegen sie zu hetzen.
Davies ging in ihrer russophoben Mission bereits so weit, «bestimmte Ähnlichkeiten zwischen der russischen Besatzungspolitik in der Ukraine und der deutschen im östlichen Europa im Zweiten Weltkrieg» auszumachen. Im Mai 2022 schrieb sie in einem Kommentar auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung: «Vorneweg sei gesagt: das Ausmass der deutschen Vernichtungspolitik ist bisher in der Ukraine (noch) nicht erreicht.»
Es handele sich aber «um einen Krieg, der zwar nicht die Ausmasse des deutschen Vernichtungskriegs gegen Polen und die Sowjetunion erreicht hat, bei dem aber strukturelle Ähnlichkeiten sowohl hinsichtlich der ideologischen Legitimierung des Kriegs als auch in der Besatzungspolitik erkennbar sind.»
Bis heute gibt es keine Beweise für einen russischen «Vernichtungskrieg» gegen die Ukraine, von dem auch Politikdarsteller wie Annalena Baerbock wiederholt schwadronieren. Das hindert sie nicht, mit ihrer Hetze und Kriegspropaganda fortzufahren – die laut ihnen immer nur die anderen betreiben.
Michail Sygar (links) und Franziska Davies
Und so erklärte Davies am Freitag erneut jene, die wie Krone-Schmalz und andere weiterhin für Verständnis und Dialog mit Russland eintreten, zu «Leuten, die Putin und sein Regime verteidigen». Und mit einer gelb-blauen Schleife an ihrer Bluse erklärte sie, sie sei gerade von der Anti-Netrebko-Demonstration vor der Staatsoper gekommen.
Die Historikerin von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zeigte ihre Einseitigkeit nicht nur damit auf, dass sie die Behauptung von der russischen «Full Scale Invasion» in der Ukraine wiederholte. Wer solches von sich gibt, sollte vorher einen Militärexperten befragen, was zu einer solchen umfassenden Invasion (so vollständig, intensiv oder gross wie möglich) gehört.
Aber wen kümmern solche Details, wenn es darum geht, Russland umfassend zu «ruinieren» und zu «dekolonisieren», wie es Davies auch als vermeintlich notwendig bezeichnete? Oder wenigstens die russischen Vorstellungen von der eigenen geschichtlichen Grösse zurechtzustutzen, wie es Autor Sygar an dem Abend als seine Mission bezeichnete.
Er übernimmt gleich ganz persönlich die Verantwortung, nicht nur für den Krieg in der Ukraine, sondern auch für den russischen Imperialismus der letzten drei Jahrhunderte, den er mit seinem Buch zu erklären versucht. Damit will er die ukrainische und die russische Geschichte neu schreiben. Denn «von der Erfindung eines geeinten russischen Volks durch den deutschen Mönch Innozenz Giesel bis zum Narrativ einer russischen Krim – russische Propaganda nimmt die Ukraine und ihre Geschichte seit Jahrzehnten in Geiselhaft», wie der Verlag auf seiner Webseite zum Buch verkündet.
Aber Sygar will nicht nur den Ursprung des russischen Imperialismus aufdecken, sondern auch «Putins Faschismus», schreibt er im Vorwort seines Buches. In Berlin, wo er seit 2022 lebt, nachdem er eine Petition gegen den Krieg initiiert hatte, erklärte er, darüber sprechen zu müssen, «wie sich mein Land in ein faschistisches Land verwandelt hat» und wie es dazu gekommen sei.
Solche Aussagen künden nicht nur von historischer Unkenntnis über das, was Faschismus ist und bedeutet. Der 42-Jährige interessiert sich nach seinen Worten bei seinem «Krieg gegen die russische Geschichtsschreibung» gar nicht für die politischen Prozesse, die bei historischen Entwicklungen eine Rolle spielen. Es geht für ihn dabei nur um die menschlichen Geschichten und die Entscheidungen, die die Menschen treffen, wie er erklärte.
Geschichte sieht er als «ein riesiges, sehr komplexes Puzzle von Entscheidungen, die von vielen verschiedenen Menschen getroffen wurden». Er wolle mit seinem Buch erklären, dass auch die Geschichte Russlands und der Ukraine «manchmal nicht von der Logik, sondern sehr oft von der Dummheit und von den Fehlern der Menschen bestimmt wird».
Die laut Umfragen anhaltend grosse Zustimmung in Russland für Putins Politik erklärt der historisierende Journalist mit einer «Gehirnwäsche» seit 2012. Damals, zu Beginn der zweiten Präsidentschaft von Putin habe mit Hilfe umfassender Propaganda die Militarisierung der russischen Geschichte begonnen, erzählte er.
Das habe auch deshalb funktioniert, meinte er, weil die meisten Russen «weniger anspruchsvoll und weniger gebildet» seien. So sei es einfacher gewesen, «ihnen die Idee von russischer Grösse zu verkaufen», und deshalb seien viele «offensichtlich glücklich mit der bitteren Krim-Annexion».
Auf dem Niveau bewegten sich die Aussagen des Autors, der Russland von seiner imperialen Geschichte befreien will, wie auch die der Autorin. Sie widersprach ihm nur, als er neben dem politisierenden Schachspieler Garri Kasparow auch Alexej Nawalny als Kandidaten für ein Russland ohne Putin anpries. Nawalny habe sich nicht von seinen rassistischen Aussagen in der Vergangenheit distanziert, beklagte Davies.
Sygar setzte dagegen, dass Menschen sich ändern könnten, was bei Nawalny der Fall sei, den er gut kenne. Dasselbe mache er übrigens für den Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenski aus, einer der Quellen für sein Buch.
Auf eine Frage sagte er: «Der Krieg wird in dem Moment enden, in dem Putin weg ist.» Der Autor will mit seinem eigenen «Krieg gegen die russische Geschichtsschreibung» eine Debatte in Russland anstossen, das sich von seinen «imperialistischen Wahnvorstellungen» trennen müsse. Alle bisherigen russischen Historiker seien nur Propagandisten und Staatsdiener gewesen, ist für ihn klar.
Das sei ein langer Weg, meinte er – ohne zu erklären, wie er eine Debatte mit einer festgefügten Meinung und einer feststehenden «Mission» führen will. Sein Vorbild ist Grossbritannien: «Die Briten versuchen, gegen ihr inneres Imperium zu kämpfen. Manchmal haben sie das Gefühl, dass sie gewinnen, manchmal verlieren sie.» Sie würden einen «Kampf gegen die eigene imperiale Psychologie» führen, so Sygar.
Kritische Fragen an ihn oder etwa an Davies kamen nicht aus dem Publikum. Dafür war auch nicht viel Zeit in der etwa einstündigen Veranstaltung.
Der Weg von dort nach Hause führte mich «Unter den Linden» an der Staatsoper vorbei, wo ich den proukrainischen Protest gegen eine russische Sängerin sah. Es blieb das Gefühl, dass die Suche nach Verständigung und Dialog als Grundlage für Frieden derzeit nicht gefragt scheint.
Jeder, der sich dem immer noch widmet, wird als «Putin-Verteidiger» (Davies) bekämpft oder zu jenen Deutschen gezählt, die «auf eine schlechte Art und Weise dazu beigetragen haben, diese russische imperiale Mythologie» zu verbreiten (Sygar). Und so werden weiterhin alle Brücken zerstört, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschen und Russen und ihren Ländern aufgebaut worden sind.
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