Die Zahl der durch Israel seit Oktober 2023 getöteten Palästinenser im Gaza-Streifen kann deutlich höher sein als beide Seiten jeweils angeben. Darauf macht der investigative US-Journalist Seymour Hersh in einem am Mittwoch veröffentlichten Text aufmerksam. Demnach ist die Zahl der Toten und Verwundeten viel höher anzusetzen, schreibt er unter Verweis auf Aussagen von Experten.
Das Gesundheitsministerium des Gaza-Streifens habe am vergangenen Dienstag die Zahl der Todesopfer in Folge der israelischen Angriffe mit 37.718 angegeben, die Zahl der Verwundeten mit mehr als 86.000 Menschen. Die israelische Regierung habe dagegen im Mai von rund 14.000 getöteten Hamas-Kämpfern und weniger als 16.000 toten Zivilisten gesprochen.
Für Hersh gehören die israelischen Angaben zu den Bemühungen des Kriegskabinetts in Tel Aviv, die internationale Wut über das Gemetzel im Gaza-Streifen zu minimieren. Die dortige israelische Offensive gehe weiter, «ohne dass es Anzeichen für den von der Regierung Biden verzweifelt angestrebten Waffenstillstand gibt».
«Einer Schätzung zufolge wurden bis Anfang April 70.000 Tonnen Sprengstoff auf Ziele im 25 Meilen langen Gazastreifen abgeworfen, mehr als Deutschland im Zweiten Weltkrieg auf London und die USA und das Vereinigte Königreich zusammen auf Dresden und Hamburg abgeworfen haben.»
Viele hochrangige Experten in der internationalen Gemeinschaft der Menschenrechts- und Sozialwissenschaftler würden die offiziellen Zahlen der Toten und Verwundeten «für Humbug halten: eine enorme Unterschätzung des Schadens, der einer terrorisierten Zivilbevölkerung zugefügt wurde, die in behelfsmäßigen Zelten und Unterkünften inmitten von Krankheiten und Unterernährung lebt, der es an sanitären Einrichtungen, medizinischer Versorgung und Medikamenten mangelt und die zunehmend verzweifelt und müde ist».
Genaue Daten fehlen
Hersh beruft sich auf Gespräche mit US-Experten für öffentliche Gesundheit und Statistik. Diese hätten ergeben, «dass die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung im Gazastreifen – sowohl durch die Bombardierungen als auch durch deren Folgen – nach allgemeiner Überzeugung wesentlich höher sein muss als berichtet». Die Wissenschaftler und Statistiker seien aber nicht bereit gewesen, das öffentlich zu äußern, weil es keinen Zugang zu genauen Daten gebe.
Ein US-Regierungsbeamte habe ihm auf die Frage nach der tatsächlichen Zahl der zivilen Todesopfer im Gaza-Streifen geantwortet: «Wir wissen es einfach nicht.» Ein Experte für öffentliche Gesundheit habe deutlich gemacht, dass aufgrund des anhaltenden israelischen Bombardements eine klare und eindeutige Zählung der Toten nicht möglich sei. Er habe nur bissig hinzugefügt:
«Wie viele Bomben braucht es, um einen Menschen zu töten?»
Gaza sei ein «ideales Ziel für einen Luftangriff», habe der Experte erklärt, da es dort keinerlei funktionierende Rettungs- und Schutzstrukturen gebe.
«Keine funktionierende Feuerwehr. Keine Feuerwehrautos. Kein Wasser. Kein Platz zur Flucht. Keine Krankenhäuser. Kein Strom. Menschen, die in Zelten leben und Leichen, die von streunenden Hunden aufgefressen werden.»
Er habe gewarnt, dass ohne einen Waffenstillstand eine Million Menschen im Gaza-Streifen verhungern werden. Zum Problem der genauen Zahlen gehöre, dass selbst das Gesundheitssystem in Gaza von israelischen Flugzeugen angegriffen und zerstört werde. Dadurch würden selbst jene getötet, die für die Zählung der Toten und Verletzten verantwortlich seien.
Die Schuld für die Situation liege nicht nur bei Israel, sagte der Experte laut Hersh. Auch die palästinensische Organisation Hamas habe ein Interesse an heruntergerechneten Opferzahlen. Damit könne sie davon ablenken, dass sie in der Zeit seit 2006, als sie im Gaza-Streifen regierte, wenig für den Schutz der Zivilbevölkerung getan habe.
Besorgniserregende Dunkelziffer
So hätten die einfachen Bürger des Gaza-Streifens keinen Zugang zu dem riesigen unterirdischen Tunnelkomplex der Hamas bekommen, der als Bombenschutz für alle hätte dienen können. Die Organisation habe am 7. Oktober 2023 einen Krieg ausgelöst, ohne in der Lage zu sein, das eigene Volk vollständig zu schützen. Hersh weist zumindest daraufhin, dass es bisher keine offizielle Erklärung für Israels Sicherheitsversagen an diesem Tag gibt.
Der Journalist zitiert einen namentlich nicht genannten hohen Beamten des US-Gesundheitswesens, der sich auch über die Dunkelziffer der Toten in Gaza besorgt gezeigt habe. Der Versuch einer namentlichen Zählung scheitere auch daran, dass die Zähler getötet werden und die Aufzeichnungen gefährdet seien.
Verschiedene akademische Nachkriegsstudien über die Sterblichkeit während der Belagerung von Mosul 2016/17 hätten «den großen Verlust von Leben durch den Einsatz von Hochgeschwindigkeitswaffen in städtischen Gebieten gezeigt». Ähnliches sei in Gaza zu erwarten. Damals wurden bei der Schlacht einer US-geführten Koalition gegen den Islamischen Staat im Irak in Mossul bis zu 11.000 Zivilisten getötet.
Hersh macht darauf aufmerksam, dass die veröffentlichten Todeszahlen aus dem Gaza-Streifen «ernsthaft irreführend» sind. So habe die internationale Organisation «Save the Children» kürzlich einen Bericht veröffentlicht, wonach geschätzt bis zu 21.000 Kinder im Gaza-Streifen «unter Trümmern eingeschlossen, inhaftiert, in unmarkierten Gräbern begraben oder von ihren Familien getrennt sind». Andere Kinder seien «gewaltsam verschwunden, einschließlich einer unbekannten Zahl von Kindern, die festgenommen und gewaltsam aus dem Gazastreifen verbracht wurden».
«Gaza-Streifen ist Kinderfriedhof»
Jeremy Stoner, Regionaldirektor der Hilfsorganisation für den Nahen Osten, erklärte demnach:
«Der Gaza-Streifen ist zu einem Kinderfriedhof geworden, und Tausende von Kindern werden vermisst, ihr Schicksal ist unbekannt. (...) Wir brauchen dringend einen Waffenstillstand, um die vermissten Kinder zu finden und zu unterstützen, die überlebt haben, und um zu verhindern, dass noch mehr Familien zerstört werden.»
Laut Hersh gibt es sei Monaten Warnungen, dass es noch mehr Tote unter den einfachen palästinensischen Bürgern geben werde, wenn der israelische Vernichtungsfeldzug nicht beendet wird. Er verweist auf Devi Sridhar, Lehrstuhlinhaberin für globale öffentliche Gesundheit an der Universität Edinburgh. Sie habe im Dezember 2023 in der britischen Zeitung The Guardian geschrieben, der Gaza-Krieg sei «der tödlichste Konflikt für Kinder in den letzten Jahren», bei dem täglich bis zu 160 Kinder getötet würden.
Es gebe keine Chance, die Grundbedürfnisse der überlebenden Kinder zu sichern, «die jeder Mensch, insbesondere Babys und Kinder, braucht, um gesund und am Leben zu bleiben».
«Wenn sich nichts ändert, muss die Welt damit rechnen, dass innerhalb eines Jahres fast ein Viertel der zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens – fast eine halbe Million Menschen – sterben werden.»
Diese «grobe Schätzung» beruht laut Sridhar auf Daten und vergleichenden Analysen mit Todes- und Opferzahlen in früheren und vergleichbaren Konflikten. Hersh selbst verweist auf eine neue von der Uno unterstützte Studie, wonach bis zu einer halben Million Bewohner des Gaza-Streifens aufgrund von «Nahrungsmangel» kurz vor dem Hungertod stehen.
Der US-amerikanische Anwalt und Politiker Ralph Nader habe frühzeitig die offiziellen Opferzahlen als zu niedrig kritisiert. Am 5. März habe er in der von ihm gegründeten Monatszeitschrift Capitol Hill Citizen eine Kolumne über die «Unterzählung» der palästinensischen Opfer in Gaza veröffentlicht.
Hersh verweist in seinem Text auf ein vom arabischen TV-Sender Al Jazeera im Februar ausgestrahltes Interview mit einem 64-jährigen Leichenbestatter aus Gaza namens Saadi Hassan Sulieman Baraka. Dieser habe sich darüber beklagt, dass er seit Beginn der israelischen Invasion in Gaza fast ununterbrochen arbeitet. Der Mann habe erklärt:
«Ich habe während dieses Krieges etwa zehnmal mehr Menschen beerdigt als in meinen gesamten 27 Jahren als Bestatter. Das Mindeste waren 30 Menschen, das Höchste 800. Seit dem 7. Oktober habe ich mehr als 17.000 Menschen beerdigt.»
Der palästinensische Bestatter beschrieb Details von dem Tag, an dem er 800 durch die israelische Armee getötete Menschen beerdigte:
«Wir sammelten sie in Stücken ein, ihre Körper waren so durchlöchert, dass es aussah, als hätten israelische Scharfschützen sie für Zielübungen benutzt. Andere waren zerquetscht wie (...) eine gekochte Kartoffel und viele hatten große Verbrennungen im Gesicht.»
Der US-Journalist bezweifelt, dass es sich um palästinensische Propaganda handelt. Der Bestatter habe nicht erwähnt, dass jemand vom Gesundheitsministerium in Gaza oder irgendein anderer Regierungsbeamter kam, um die Namen der Toten zu sammeln.
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