Auch in der Schweiz agieren Meinungswächter auf zunehmend skurrile Weise. So berichtet die Weltwoche in ihrer aktuellen Ausgabe über einen bemerkeswerten Fall in eigener Sache. Der Autor des Beitrags, Philip Gut, meint dazu: «Man könnte geneigt sein, ihn unter der Rubrik ‹Nachrichten aus Absurdistan› abzutun, wenn es dabei nicht um durchaus ernstzunehmende Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats ginge.»
Dabei geht es um einen Online-Kommentar eines Lesers zum Artikel «Zuerst ‹Victoria’s Secret›-Engel, nun ‹Model des Jahres›: Wer ist der 21-jährige Alex Consani, der als Transfrau so richtig durchstartet?». Inkriminiert wird laut Gut insbesondere folgende Aussage:
«Ich verlange von dieser LGBQZ-etc.-Gemeinde mal die 60 Geschlechter und mehr schriftlich und bildlich dokumentiert. Dass sich Politiker und Mainstream auf solch geistig verwahrloste Anormale einlassen, ist eine Schande.»
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern werfe dem Nutzer vor, dadurch «eine Gruppe von Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabgesetzt zu haben».
Dem Journalisten zufolge verlangte die Staatsanwaltschaft im Dezember 2024 und im Januar 2025 zweimal die Preisgabe der Identität des Benutzers sowie weiterer technischer Details zum Kommentar. Im Schreiben vom Januar habe die Staatsanwaltschaft sogar mit «Zwangsmassnahmen, insbesondere einer Hausdurchsuchung» gedroht. Dies könne auch eine «Beschlagnahmung der Computer der Weltwoche und deren Auswertung durch IT-Spezialisten zur Folge haben», stellt Gut fest.
Initiiert worden sei die Ermittlung allerdings nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von einem Nachwuchspolizisten in Ausbildung. Nach einem Telefonat mit der Redaktion habe er an diese am 10. Dezember 2024 «eine formlose E-Mail ohne irgendwelche juristische Grundlegung oder Rechtsmittelbelehrung» versandt, mit der Aufforderung: «Ich bitte um weitere Informationen, insbesondere zum Verfasser des Kommentares.» Gut weiter:
«Stümperhafterweise fügt er einen Screenshot bei, aus dem hervorgeht, welche Privatperson überhaupt auf die Idee gekommen ist, gegen die Weltwoche Verlags AG beziehungsweise den Verfasser des Kommentars vorzugehen – es handelt sich um eine Frau, die unter anderem als Organisatorin ‹queerer› Veranstaltungen in Erscheinung getreten ist.»
Der Journalist macht aber auch bei der Staatsanwaltschaft einen Mangel an Professionalität aus. So seien die ersten beiden Briefe an die falsche Adresse des Weltwoche Verlags AG versandt worden. Zudem sei in der Verfügung der Staatsanwaltschaft vom Dezember mehrfach ein scharfes deutsches Doppel-S verwendet worden, das es in der Schweizer Rechtschreibung nicht gibt. Gut fragt deshalb:
«Ermitteln die Berner Strafverfolgungsbehörden etwa mithilfe künstlicher Intelligenz? Oder schreiben sie ihre Verfügungen irgendwo in Deutschland ab? Auf eine entsprechende Frage antwortete die Staatsanwaltschaft nicht.»
Die Staatsanwaltschaft habe eine entsprechende Frage nicht beantwortet. Unbeantwortet seien auch die Fragen geblieben, wo die Staatsanwaltschaft «die Grenze zwischen einer zulässigen kritischen Meinungsäusserung und einer strafbaren Handlung ziehe», ob eine Hausdurchsuchung verhältnismässig sei und wie die Staatsanwaltschaft den Stellenwert des Quellenschutzes in der Schweizer Rechtsordnung einordne. «Müsste es sich nicht um einen besonders schwerwiegenden Verstoss gegen den Rassendiskriminierungsartikel handeln, um mit solch schwerem Geschütz aufzufahren?», fragt Gut.
Gemäss dem Journalisten drängt sich der Verdacht auf, «dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern hier ein Exempel statuieren will – sofern sie überhaupt zuständig ist». Laut Gesetz obliege die Ermittlung nämlich der Behörde des Ortes, an dem das Medienunternehmen seinen Sitz hat. Und der Firmensitz der Weltwoche liege nicht im Kanton Bern. Zudem sei der beanstandete Kommentar seit Dezember 2024 gelöscht. Gut schließt:
«Natürlich hätte der Leser seine Kritik eleganter und mit feinerer Klinge formulieren können. Doch es erstaunt dann schon, welcher Aufwand hier mit dem Geld der Steuerzahler für die strafrechtliche Verfolgung einer geschmacklich diskutablen, aber vergleichsweise eher harmlosen und längst nicht mehr auffindbaren Meinungsäusserung eines Unbekannten betrieben wird. Glückliche Berner, wenn sie nichts Wichtigeres zu ermitteln haben.»
Kommentare