Der Zionismus bot sich selbst als Lösung für den Antisemitismus an,
wurde aber zum Hauptgrund für dessen anhaltende Präsenz.
Ilan Pappé
Liebe Leserinnen und Leser
Ein bizarres Bild bot sich damals in der israelischen Negev-Wüste: Erstens die Felder und Treibhäuser mit Tomaten, Peperoni, Melonen, Trauben und vielem mehr. Dann die Feldarbeiter: Gruppen von etwa zehn vollständig verhüllter kleineren Menschen zusammen mit zwei oder drei kurzärmligen grösseren. Ich gehörte zu letzteren: Westliche Abenteurer und allenfalls ein Israeli, der Landwirt. Die verhüllten waren Thailänder, sogar ihre Gesichter deckten sie ab, um Sonnenbräune zu vermeiden. Eine dunkle Hautfarbe gilt in Asien nämlich als Merkmal tieferer sozialer Schichten.
Die Szene spielte sich 1991 im Moshav Paran ab. Moshavim sind kleine genossenschaftliche Agrargemeinschaften, ähnlich den Kibbuzim. Der Unterschied dazu ist, dass Privatbesitz erlaubt ist. Auswärtige arbeiten zudem mehr und sie erhalten keine Kost, nur Logis, dafür im Gegensatz zu den Gastarbeitern eines Kibbuzim eine Bezahlung, wenn auch nicht viel.
So erfuhr ich, dass Israel mit Thailand ein informelles Abkommen hatte, das es Thailändern ermöglichte, im Heiligen Land in der Landwirtschaft tätig zu sein. Wie die Financial Times mitteilt, wurde die «Pipeline» 2011 mit dem als Thailand-Israel Cooperation on the Placement of Workers (TIC Project) bekannten Abkommen formalisiert. 2013 wurde es umgesetzt. Schon in den 80er Jahren handelte es sich laut Experten um eine «strategische Entscheidung», palästinensische Arbeitskräfte zu ersetzten um die Abhängigkeit zu verringern.
33 dieser thailändischen Arbeiter kamen nun beim Angriff am 7. Oktober ums Leben. 54 sind Geiseln der Hamas. Die Thailändische Regierung forderte ihre Staatsangehörigen in Israel daraufhin auf, das Land zu verlassen. Laut dem Tages-Anzeiger sind mehr als 8500 der rund 30’000 thailändischen Gastarbeiter, die zum Zeitpunkt des Angriffs in Israel waren, dabei, nach Hause zurückzukehren.
Das weckt Bedenken in Bezug auf die Versorgung der Bevölkerung, denn die thailändischen Feldarbeiter stellen gemäss der Zeitung die grösste Gruppe unter den Arbeitsmigranten. Sie würden als günstige Arbeitskräfte gelten und hätten im Landwirtschaftsbereich die Palästinenser ersetzt, die in den vergangenen Jahren zunehmend schwerer an Bewilligungen gekommen seien. Diese dürften nun noch strenger vergeben werden. Rund die Hälfte der ausländischen Arbeitskräfte wolle Israel nun verlassen.
Fast anderthalb Jahre verbrachte ich damals in Israel und Palästina. Der zweite Golfkrieg war gerade beendet, die erste Intifada noch im Gange. Unter anderem war ich als Chefkoch in einem italienischen Restaurant in Jerusalem tätig und zusammen mit meiner kanadischen Partnerin selbständiger Hutmacher. Ich konnte somit zahlreiche Gespräche mit Israelis und Palästinensern führen und mir ein ausgewogenes Bild der politischen und sozialen Lage machen.
Schon damals war mir klar, dass es vermutlich zu spät für eine friedliche Lösung dieses Konfliktes ist. Zu tief sind die Wunden. Zudem verhinderte Israel eine Zweistaatenlösung, indem es Fakten schuf. Ich habe miterlebt, wie in Jerusalem jüdische Einwanderer – manche gerade konvertiert –, insbesondere aus Russland und anderen Ländern der gerade zusammengebrochenen Sowjetunion, in Bussen in die besetzten Gebiete des Westjordanlands verfrachtet wurden. Dort wurden sie in neuen Siedlungen abgeladen – im Wissen, dass sie sich mit allen Mitteln dagegen wehren würden, aus ihrem neuen Heim im Gelobten Land vertrieben zu werden.
Wie komplex die Situation ist, zeigen auch die Spaltungen innerhalb Israels selbst, sogar unter den Orthodoxen. So lehnt etwa die 1938 entstandene ultraorthodoxe jüdische Gruppierung Neturei Karta aus religiösen Gründen den Zionismus und den Staat Israel dezidiert ab. Sie demonstrieren regelmässig mit palästinensischen Aktivisten, auch ausserhalb Israels, wie das folgende Bild aus Berlin zeigt.

Kundgebung am Kurfürstendamm in Berlin, 2014. Zwei ultraorthodoxe Rabbiner der Neturei Karta demonstrieren gegen den «zionistischen Staat Israel»; Bild: Denis Barthel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Die Gruppe befürwortet eine «friedliche Auflösung» des Staates Israel. Die Mitglieder argumentieren, dass es dem jüdischen Volk bis zur Ankunft des Messias strengstens verboten sei, die Souveränität im Land Israel wiederherzustellen. Erst nach der Wiederkunft des Messias würde ein neues Königreich Israel entstehen. An einer pro-palästinensischen Kundgebung in New York am 17. Oktober erklärte Rabbi Naftuli Flohr:
«Der Staat Israel ist kein jüdischer Staat und repräsentiert nicht die Juden oder das Judentum.»
Flohr sagte, die Zionisten würden sogar gewalttätig gegen die Gruppe werden,
«… weil sie nicht an die Thora und das Judentum glauben. Deshalb haben sie kein Problem mit all diesen Verbrechen gegen die Palästinenser und auch kein Problem mit Verbrechen gegen die echten Juden. Wir wollen in Frieden mit den palästinensischen Nachbarn leben, weltweit.»
Die Spaltung findet selbstverständlich auch zwischen säkularen und religiösen Juden statt. In West-Jerusalem gibt es am Freitagabend regelmässig Kundgebungen orthodoxer Juden, die gegen die am Sabbat offenen Lokale protestieren. Dazu gehörte 1992 auch das Restaurant, in dem ich eine Zeit lang kochte. Nicht selten flogen Steine.
Biblischer Fanatismus zeigt ausgerechnet auch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu. Bezogen auf den Kampf der Israelis gegen die Hamas sagte er beispielsweise kürzlich: «Sie sind entschlossen, dieses Übel vollständig aus der Welt zu tilgen». Dann fügte er hinzu: «Ihr müsst euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere Heilige Bibel. Und wir erinnern uns.»
Netanjahu berief sich auf Verse, die zu den gewalttätigsten im Alten Testament gehören. Wie Mother Jones feststellt, werden sie seit langem von rechtsextremen Juden als Rechtfertigung für die Tötung von Palästinensern verwendet. Dabei geht es um den Befehl Gottes an König Saul im ersten Buch Samuel, alle Menschen in Amalek, einer rivalisierenden Nation des alten Israel, zu töten:
«So spricht der Herr, der Allmächtige», sagt der Prophet Samuel zu Saul, «… Geh nun hin, greife die Amalekiter an und vernichte alles, was ihnen gehört. Schont sie nicht, sondern tötet Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.»
So vermischen sich in diesem biblischen Land am Jordan religiöser Fanatismus auf beiden Seiten mit Politik und internationalen geopolitischen Interessen sowie einfachen menschlichen Bedürfnissen und Träumen. Träume, die leider vermehrt zu Albträumen werden.
Und der Konflikt in diesem Schmelztiegel der Kulturen und Religionen droht nun zu einem regionalen oder sogar globalen Krieg auszuarten. Versöhnung wäre nötig, ein Teufelskreis der Rache ist leider die Realität. Ein Teufelskreis der zwar historische und religiöse Wurzeln hat, doch durch den Kolonialismus und die Gründung Israels beschleunigt wurde.
Herzlich
Konstantin Demeter
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