Die Mainstream-Medien verwahrlosen die Wahrheit. Das hat der Militärhistoriker Lothar Schröter mit Blick auf den Ukraine-Krieg, dessen Ursachen und den Umgang der Medien damit festgestellt. Er sagte das am Freitag (30. Mai) in Berlin, als er im «Sprechsaal» sein Buch «Der Ukraine-Krieg – Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO» vorstellte. Und fügte hinzu:
«Wir werden von vorn bis hinten belogen.»
Der Historiker sprach von einer Gleichschaltung der Medien, die bei dem Thema Krieg in der Ukraine und beim Thema Russland auslassen, verdrehen und lügen würden. Schröter, ehemaliger Major der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, zitierte den norwegischen Politikwissenschaftler Glen Diesen. Der beschäftigt sich unter anderem mit den Hintergründen und Zusammenhängen des Ukraine-Krieges und veröffentlicht dazu Analysen und Interviews.
Dieser habe in einem Interview gesagt, es seien viele Lügen darüber verbreitet worden, warum dieser Krieg begonnen habe, wie er verlaufe und wie er enden werde. An anderer Stelle habe der Geopolitikexperte erklärt, der Ukraine-Krieg könne nur verstanden werden, «wenn er als Ergebnis einer zusammenbrechenden Weltordnung eines Kampfes um die Definition der nächsten Weltordnung» betrachtet werde.
Dieser Deutung stimme er zu, wie der Militärhistoriker betonte. Das schreibt er auch in seinem Buch:
«Es geht um die Durchsetzung der Unipolarität, also der Hegemonie, des Westens gegen die Multipolarität, wie sie das Interesse der Mehrheit der Staatengemeinschaft anstrebt. Das erste blutige Schlachtfeld dafür manifestiert sich im NATO-Ukraine-Krieg.»
Aus seiner Sicht wollen die USA weiterhin ihren Hauptkonkurrenten China niederhalten. Im Verhältnis zu Russland habe US-Präsident Donald Trump gegenüber seinem Vorgänger Joseph Biden die Strategie gewechselt, nach dem chinesischen Prinzip: Wenn Du den Feind nicht besiegen kannst, musst Du ihn umarmen.
Notwendige Rationalität
Es sei notwendig, sich für Frieden einzusetzen, erklärte der ehemalige Major der NVA. Die meisten Menschen hätten Friedensliebe und Friedenssehnsucht. Diese Emotionen seien wichtig im Friedenskampf, würden aber nicht ausreichen.
«Sondern wir müssen mit Rationalität und Klarheit jeden einzelnen Krieg für sich untersuchen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.»
Schröter fügte hinzu:
«Wir brauchen auch die Rationalität im Friedenskampf. Wir müssen genau analysieren: Wie ist es zum Krieg gekommen, wer führt ihn und mit welchen Zielen?.»
In seinem Buch geht er ausführlich auf die häufig zu hörende Behauptung ein, Russland führe einen «völkerrechtswidrigen Angriffskrieg» gegen die Ukraine. Er zeigt unter anderem, dass beispielsweise der Begriff «Angriffskrieg» im Völkerrecht nicht klar definiert ist. Zugleich belegt er, dass das Vorgehen Russlands auf dem Boden des Völkerrechts geschah und geschieht.
Bei seinem Vortrag im «Sprechsaal» zitierte der Historiker – wie im Buch auch – Alain Juillet, ehemaliger Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE. Der hatte im Dezember 2022 in einem Interview erklärt, die USA hätten den Krieg «unbestreitbar provoziert und seit 2014 alles getan, um Russland in einen Krieg zu stürzen». Der russische Einmarsch sei ein Fehler, «aber die Amerikaner haben alles dafür getan».
Auch Pierre de Gaulle, Enkel des ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle, habe in einem Interview gesagt, «es sind die Amerikaner und die NATO, die den Krieg ausgelöst haben». Er habe darauf hingewiesen, dass selbst die Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt habe, sie habe nie die Absicht gehabt, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen. Der Militärhistoriker bedauerte, dass solche Aussagen in linken und friedensbewegten Kreisen nicht zur Kenntnis genommen werden.
Brzezinskis Fahrplan
Für Schröter gehört das Buch «The Grand Chessboard» (1997 – auf Deutsch «Die einzige Weltmacht») des US-Geostrategen und ehemaligen US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski zur Schlüsselliteratur, um den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine zu verstehen. Ebenso wichtig seien die Aussagen des Geostrategen George Friedman, der 2015 in einem Vortrag erklärt habe, es sei seit 100 Jahren das Ziel der USA, Russland und Deutschland auseinanderzuhalten und zu verhindern, dass sich deutsches Kapital und deutsche Technologie mit russischen Rohstoffressourcen und russischer Arbeitskraft verbinden.
Brzezinski habe in seinem Buch vor fast 30 Jahren den «Fahrplan für eine unipolare Welt» beschrieben, den die führenden Kräfte der USA aufgestellt hätten. Es sei ihnen darum gegangen, auf dem eurasischen Kontinent nach dem Untergang der Sowjetunion keinen möglichen Herausforderer für die USA zuzulassen.
Ausgangspunkt seien dabei die Vorstellungen des britischen Politologen Halford Mackinder vom eurasischen Kontinent als «Herzland» gewesen. Mackinder hatte 1904 in einem Vortrag erklärt, es sei für das britische Empire notwendig, zu verhindern, dass Deutschland und Russland sich annähern. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1919) schrieb der Geostratege mit Blick auf das nordöstliche Eurasien («Herzland») und Europa, Afrika und Asien als «Welt-Insel»:
«Wer Osteuropa beherrscht, hat die Befehlsgewalt über das Herzland; wer das Herzland beherrscht, hat die Befehlsgewalt über die Welt-Insel; wer die Welt-Insel beherrscht, hat die Befehlsgewalt über die gesamte Welt.»
Darauf hatte auch der US-amerikanisch-italienische Ökonom Guido Giacomo Preparata 2005 in seinem Buch «Conjuring Hitler» (auf Deutsch 2010: «Wer Hitler mächtig machte») hingewiesen. Aus Sicht von Preparata ist das US-Imperium der geistige Erbe des britischen Empires:
«Tatsächlich wurde die internationale Politik der US-Regierung bis heute nahtlos und widerspruchslos im Geiste der Visionen Mackinders geführt.»
Das bestätigte Brzezinski 1997 in seinem Buch, wie Militärhistoriker Schröter in seinem Vortrag in Berlin deutlich machte. Er erinnerte daran, dass der 2017 verstorbene US-Geostratege seine Vision von der «einzigen Weltmacht» aufschrieb, als Russland am Boden lag. Darin habe er auch auf die wichtige Rolle der Ukraine hingewiesen, ohne die Russland «kein Imperium mehr» sei.
Sie sei «ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt», schrieb Brzezinski 1997.
«Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.»
Die NATO-Ostererweiterung seit Ende der 1990er Jahre sei die Umsetzung des Fahrplanes, den Brzezinski beschrieben habe. Sie sei entgegen der damals noch gegenüber der sowjetischen Führung erfolgten westlichen Zusicherung gemacht worden, das westliche Militärbündnis nicht nach Osten zu erweitern, erinnerte Schröter. Der Fehler Moskaus sei gewesen, das nicht schriftlich mit dem Westen vereinbart und sich auf die mündlichen Zusagen verlassen zu haben.
Früher Kriegsbeginn durch Kiew
Die nur wenig gebremste Osterweiterung des westlichen Kriegsbündnisses sowie der Europäischen Union (EU) führte in den Krieg in und um die Ukraine, wie der Militärhistoriker darstellte und es viele Experten auch im Westen sehen. Schröter hat übrigens auch eine empfehlenswerte, zweibändige, ausführliche Geschichte der NATO im Kalten Krieg, die sich auf die Jahre 1949 bis 1991 bezieht, veröffentlicht. Deren Nachauflage derzeit vorbereitet wird.
In seinem Vortrag wies er darauf hin, dass der Ukraine-Krieg bereits 2014 begonnen habe – mit dem militärischen Vorgehen Kiewer Truppen gegen Aufständische in der Ostukraine in der Nacht vom 6. zum 7. April 2014. Der Aufstand richtete sich gegen die per vom Westen unterstützten Staatsstreich im Februar 2014 in Kiew an die Macht Gekommenen und strebte Autonomie für die russischsprachigen Gebiete im Verbund der Ukraine an.
Doch Kiew antwortete mit einer «Antiterror-Operation», wie es den Krieg gegen die eigenen Bürger bezeichnete. Das wird selbst von bundesdeutschen Justizbehörden fortgeführt, die heutzutage gegen humanitäre Organisationen vorgehen und deren Hilfe für Donbass-Bewohner als «Unterstützung einer terroristischen Vereinigung» diffamieren.
Schröter wies darauf hin, dass sich Russland lange Zeit dafür eingesetzt habe, dass die beiden Volksrepubliken Lugansk und Donezk sich nicht von der Ukraine loslösen. Erst nachdem Kiew sich jahrelang geweigert habe, die beiden Minsk-Abkommen umzusetzen und drohte, die beiden Gebiete und auch die Krim militärisch zurückzuerobern, habe der Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 begonnen.
Das sei die zweite Phase des Krieges in der Ukraine, so der Militärhistoriker, auf die er auch ausführlich in seinem Buch eingeht. Mit umfangreichen Quellen beschreibt er darin die Vorgeschichte ebenso wie die rechtlichen Aspekte des russischen Einmarsches. In seinem Vortrag machte er außerdem darauf aufmerksam, dass das Geschehene mit der ungeschriebenen Staatsdoktrin Nummer Eins Russlands verbunden sei:
«Niemals wieder ein 22. Juni 1941!»
Etwas wie der damalige faschistische deutsche Überfall auf die Sowjetunion dürfe sich nie wiederholen – das gehöre zu den Grundlagen russischer Sicherheitsinteressen. Putin habe darauf auch in seiner Rede am 24. Februar 2022 hingewiesen.
Unbekanntes Kriegsende
Schröter sagte dazu mit Blick auf das aktuelle Geschehen: «Wie schnell ein Vorstoß mit hoch technisierten, hoch motivierten, ausbildungsmäßig auf dem höchsten Stand stehenden Truppen gehen kann«, das habe die ukrainische Kursk-Offensive gezeigt. Und das hätten die russischen Militärs gewusst, und vor diesem Hintergrund hätten sie in diesen schon laufenden Krieg in der Ukraine eingegriffen.
Inzwischen habe die Administration von US-Präsident Trump erkannt, dass der Stellvertreterkrieg gegen Russland verloren sei und die Ukraine ihn nicht gewinnen könne, weshalb sie ihn beenden wolle. Für die USA sei der Konflikt mit China wichtiger, schätzte der Militärhistoriker ein.
Die Frage, ob es nicht die Analyse und Kenntnis der Ursachen und Vorgeschichte des Ukraine-Krieges ermögliche, sein mögliches Ende zu beschreiben, verneinte Schröter. Er verwies auf die drei bekannten Kriegsziele Russlands – die Neutralität der Ukraine, ihre Denazifizierung und ihre Demilitarisierung – und fügte hinzu:
«Ich weiß nicht, was von diesen Kriegszielen übrig bleibt auf der russischen Seite.»
Das Wichtigste scheine vor allem, dass die Ukraine nicht Mitglied der NATO werde. Doch Kriegsziele würden sich ändern und Kriege in den allermeisten Fällen im Hinterland entschieden. Wenn die westliche Unterstützung für Kiew wegfalle, könne es ganz schnell gehen. Schröter gestand ein:
«Wie weit es dann geht, kann ich nicht voraussagen. Also ich weiß nicht, wie es enden soll.»
Klar sei nur, dass Russland gegen einen Waffenstillstand sei, weil dann britische und französische Truppen in der Ukraine stationiert werden sollen. Das hatte der belgische Verteidigungsminister Theo Francken unlängst bestätigt:
«In dem Moment, in dem es einen Waffenstillstand gibt, kann die Koalition der Willigen sofort auf ukrainischem Boden operieren.»
Es könne für Russland zum Auslöser des ganz großen Krieges werden, wenn nach dem Waffenstillstand weitergekämpft werde. Deshalb sei Moskau gegen einen Waffenstillstand und setze sich für eine grundlegende Friedenslösung ein.
Das Buch Schröters ist allen zu empfehlen, die wissen wollen, wie es zum Krieg in der Ukraine kam. Er belegt seine Aussagen mit zahlreichen Quellen, so dass sich die Leser damit auseinandersetzen und selbst recherchieren können. Der Autor kündigte eine überarbeitete Ausgabe an, die die aktuellen Entwicklungen einbeziehe, was aber noch eine Zeit lang dauern werde.
Buchtipp:
Lothar Schröter: «Der Ukraine-Krieg – Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO»
edition ost 2024. 348 Seiten; ISBN 978-3-360-02815-0; 32 Euro
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