Der Krieg in der Ukraine wird auf dem Schlachtfeld entschieden – das sagt der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer nach dem Gipfel in Alaska zwischen den USA und Russland und dem Treffen westlicher Politiker danach in Washington. Er sieht die Versuche von US-Präsident Donald Trump, den Krieg diplomatisch zu beenden, als gescheitert an. Verantwortlich dafür sind aus seiner Sicht auch die westeuropäischen Politiker, die gemeinsam mit dem Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Trumps Versuche hintertreiben und glauben, Russland doch noch besiegen zu können.
Mearsheimer erklärte das in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview mit Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel. Ein Bericht des US-Politikmagazins Politico vom Vortag bestätigte das. Dem zufolge will die «Koalition der Willigen», deren Vertreter am Montag im Weißen Haus saßen, Trump hofieren und loben, bis er einsieht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg nicht beenden will, wie sie meinen.
Sie glauben demnach, dass die Friedensgespräche scheitern, weil Russland die von ihnen gemeinsam mit Kiew aufgestellten Forderungen nach einem Waffenstillstand und westlichen «Friedenstruppen» erwartungsgemäß ablehnt. Dass sie diese Forderungen, die Moskau seit Langem ablehnt, immer wieder aufstellen, eben um eine Friedenslösung zu hintertreiben, wird im Politico-Beitrag, der interessante Aussagen westlicher Diplomaten wiedergibt, nur zwischen den Zeilen deutlich. Mearsheimer stellt dazu fest, beide Seiten, die Ukrainer und die Europäer auf der einen und die Russen auf der anderen, seien «so weit voneinander entfernt, dass es unmöglich ist, eine Einigung zu erzielen».
Den Grund für die Haltung der Westeuropäer und Kiews, die aus Sicht von Mearsheimer «sehr nah beieinander stehen» beziehungsweise «an der Hüfte zusammengewachsen» sind, sieht er in deren Illusionen über die Lage. Sie würden immer noch davon träumen, Russland besiegen zu können, und die Realitäten des Krieges ignorieren. Sie würden Russland wirtschaftlich und militärisch geschwächt sehen und glauben, dass es doch noch zusammenbreche, wenn «die US-Amerikaner und die Europäer die Ukraine bis zum Äußersten unterstützen werden». Der renommierte US-Politologe kommentiert das so:
«Ich glaube, das ist die Geschichte, die sie sich selbst erzählen. Aber es ist eine bemerkenswert dumme Geschichte.»
Subtiler Rückzug
Stattdessen sei selbst in Washington erkannt worden, dass die Sanktionen gegen Russland nicht das gewünschte Ziel, es zu «ruinieren», erreicht haben. Und:
«Es sind die Ukrainer, nicht die Russen, die auf dem Schlachtfeld größere Verluste erleiden. Und meiner Meinung nach sind die Russen nicht weit davon entfernt, diesen Krieg zu gewinnen. Und wenn man die Zeitungen liest, selbst im Westen, und sich die Berichte über die Kämpfe anhört, wird deutlich, dass die Ukrainer in großen Schwierigkeiten stecken.»
Die USA würden sich aufgrund dessen «sehr subtil» aus dem Konflikt zurückziehen und die Verantwortung dafür auf die Europäer und Kiew übertragen. Das sei auch bei dem Treffen in Washington am Montag deutlich geworden, wo sich der US-Präsident erkennbar von den Ukrainern und den Europäern distanziert habe. Trump habe versucht, «mit Gegnern umzugehen, mit einer Gruppe von Staats- und Regierungschefs, die seine Politik ablehnen».
Unterdessen meldete die britische Zeitung The Guardian am Donnerstag, dass der US-Präsident «vorerst» aus den Bemühungen um eine Friedenslösung für die Ukraine «einen Schritt zurück» treten wolle. Er wolle, dass sich erst Putin und Selenskyj treffen, und sehen, was dabei herauskommt, bevor er sich wieder einschalte. Trumps Zurückhaltung komme daher, dass er in den letzten Tagen eingeräumt habe, dass die Beendigung des Krieges in der Ukraine schwieriger ist, als er erwartet hatte, so die Zeitung.
Doch ein von Trump angestrebtes Treffen zwischen Putin und Selenskyj ist aus Sicht von Mearsheimer unmöglich, «weil sie auf verschiedenen Planeten leben. Sie sind sich einfach überhaupt nicht einig. Es gibt also keinen Silberstreif am Horizont.» Daran scheitere auch der US-Präsident als vermeintlich mächtigster Politiker der Welt.
Unerfüllbare Forderungen
Trump habe erkannt, dass ein Waffenstillstand, den die «Koalition der Willigen» und Kiew fordern, während ihn Moskau ablehnt, unmöglich sei, findet Mearsheimer. Zu den Gründen für die russische Haltung gehört, dass ein Waffenstillstand von der Ukraine und ihren Unterstützern genutzt werden könnte, um wieder aufzurüsten und den Krieg dann fortzusetzen. Das hatte unter anderem der belgische Verteidigungsminister Theo Francken im Mai dieses Jahres bei einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen bestätigt, als er in einem Interview sagte:
«In dem Moment, in dem es einen Waffenstillstand gibt, kann die Koalition der Willigen sofort auf ukrainischem Boden operieren.»
Russland lehnt auch Truppen aus NATO-Staaten als «Friedenstruppen» in der Ukraine ab, wie kürzlich die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa erneut erklärte.. Zu den drei wichtigsten Forderungen Moskaus gehört laut Mearsheimer erstens, anzuerkennen, dass Russland vier ostukrainische Gebiete und die Krim übernommen hat. Die zweite Kernforderung sei die nach der Neutralität der Ukraine, auf die sich diese bei ihrer Unabhängigkeitserklärung 1990 als «atomwaffenfreier, neutraler, blockfreier Staat» selbst festgelegt hatte. Als Drittes fordere Moskau, dass die Ukraine so weit demilitarisiert werde, dass sie Russland nicht militärisch bedrohen könne.
«Angesichts dieser drei russischen Forderungen, die eindeutig nicht verhandelbar sind, und angesichts der Tatsache, dass die Europäer und die Ukrainer alle drei ablehnen, wie kann man da überhaupt eine Einigung erzielen? Die Antwort lautet: Man kann keine Einigung erzielen.»
Der US-Präsident habe das ebenso erkannt wie, dass er, anders als vorher mehrfach verkündet, beiden Seiten keine Vereinbarung aufzwingen könne. Für Mearsheimer bedeutet das, dass über den Ausgang des Krieges «auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird». Er habe bisher keinen Vorschlag für eine Friedensformel gesehen, «die auch nur annähernd beide Seiten zufriedenstellen könnte».
Was der US-Politologe in dem Interview mit dem Weltwoche-Herausgeber feststellt, hatte unter anderem der russische Politiker und Militär Dmitri Rogosin schon im April 2023 vorhergesagt: «Der Krieg endet in der Hauptstadt des Staates Lemberg.» Auch die Einnahme Kiews werde das nicht bewirken, sondern erst die Einnahme der Westukraine als Zentrum des ukrainischen Nationalismus, so Rogosin in einem Podcast:
«Nun, es gibt keine Optionen. Verträge funktionieren nicht.»
Mearsheimer beschreibt als Grund den Unwillen Kiews und seiner Unterstützer, sich auf eine wenn auch schmerzhafte Friedensvereinbarung einzulassen, Folgendes: Sie seien motiviert, «sich eine schöne Geschichte zu erzählen, weil sie diesen Krieg nun schon seit über drei Jahren führen und dabei von der Prämisse ausgegangen sind, dass sie letztendlich gewinnen würden». Es wäre für sie deshalb «extrem schwierig, sich jetzt eine Niederlage einzugestehen».
Nützliche Russophobie
Der Politologe vergleicht das mit den Kriegen der USA in Vietnam und in Afghanistan, wo auch auf ein «Wunder» gewartet wurde, bis sich schließlich die Einsicht durchsetzte, dass es keinen «Sieg» gibt.
«Ich glaube, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs heute und Präsident Selenskyj und seine Mitstreiter ebenfalls nicht verlieren wollen. Und sie suchen verzweifelt nach einer Geschichte, wie sie sich durchsetzen können.»
Gleichzeitig würden die europäischen Politiker die Russophobie nutzen und anheizen, um die Öffentlichkeit in ihren Ländern für ihre Politik zu mobilisieren. Deshalb werde die angebliche russische Gefahr aufgebauscht und die Ukraine als «erste Verteidigungslinie» dargestellt. Die von den europäischen Eliten erzählte Geschichte stehe im Widerspruch zu dem, was Trump sagt und wie er sich Putin gegenüber in Alaska verhielt.
Deshalb werde von «Appeasement» geredet und Putin mit Hitler verglichen, «weil die Übertreibung der Bedrohung für sie so wichtig ist, um die öffentliche Unterstützung für höhere Verteidigungsausgaben aufrechtzuerhalten und die europäische Öffentlichkeit weiterhin für die Politik gegenüber der Ukraine zu gewinnen.»
Mearsheimer stellt dagegen klar, «dass die Vorstellung, Russland sei darauf aus, die gesamte Ukraine zu erobern, Unsinn ist». Das gelte auch für die Vorstellung, dass es Osteuropa erobern und den Rest Europas bedrohen wird. Letzteres werde schon durch die militärischen Fakten, wie sie sich bei aller russischen Überlegenheit im Ukraine-Krieg zeigen, widerlegt.
Mearsheimer meint – im Unterschied zu Rogosin –, dass Putin sehr wohl die Macht des ukrainischen Nationalismus verstehe, gerade nach drei Jahren Krieg. Auch deshalb habe er gar kein Interesse, die gesamte Ukraine zu erobern, «da die westliche Hälfte der Ukraine von ethnischen Ukrainern bevölkert ist, die die Russen hassen und alles tun würden, um sich einer russischen Besatzung zu widersetzen».
Moskauer Reaktionen
Der Politologe erinnert in dem Zusammenhang auch daran, dass Russland am 24. Februar 2022 laut Aussage des heutigen ukrainischen (und russischstämmigen) Oberbefehlshabers Oleksandr Syrskyj nur mit 100.000 Soldaten einmarschierte – viel zu wenig für die angebliche «Vollinvasion». Zudem habe Moskau Kiew kurz danach bereits Verhandlungen für eine Friedenslösung vorgeschlagen, die dann bei den Gesprächen beider Seiten im Frühjahr 2022 in Istanbul auch möglich schien. Mearsheimer dazu:
«Es ist ganz klar, dass diese Verhandlungen gescheitert sind, weil die Vereinigten Staaten und Großbritannien in Gestalt von Boris Johnson den Ukrainern gesagt haben, sie sollten sich aus den Verhandlungen zurückziehen.»
Mit dem Einmarsch habe Putin verhindern wollen, dass die Ukraine zu einem «Bollwerk des Westens an der Grenze zu Russland» wird. Zuvor habe er aber «alles getan, um einen Krieg zu vermeiden», so Mearsheimer mit Verweis auf die russischen Verhandlungsangebote Ende 2021 und Anfang 2022. Schon 2014 hatte er in einem Beitrag zum Ukraine-Konflikt geschrieben, dass der Westen für diesen verantwortlich sei und Moskau nur reagiere. Im aktuellen Interview sagt er:
«Es waren die US-Amerikaner, die kein Interesse daran hatten, mit Putin zu verhandeln und diesen Krieg zu vermeiden.»
Aus seiner Sicht geschah das, «weil sie dachten, dass sie mit Sanktionen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld die Russen in die Knie zwingen könnten». Die Verhandlungen von Istanbul seien dann boykottiert worden, weil der Westen nicht an einem Friedensabkommen, sondern daran interessiert gewesen sei, den Krieg fortzusetzen. Das scheint weiterhin so zu sein, auch wenn die USA als Initiator des Krieges sich aus diesem zurückziehen wollen – ihre Vasallen in der «Koalition der Willigen» übernehmen nun die Aufgabe. Mearsheimer dazu:
«Diese europäischen Politiker, Leute wie Keir Starmer, Macron und so weiter und so fort, haben sich von Anfang an fest dazu verpflichtet, die Russen zu besiegen. Und das wäre eine demütigende Niederlage für sie.»
Der US-Politologe warnt in dem Interview vor den Folgen: Das Endergebnis werde sein, «dass die Ukraine einen großen Teil ihres Territoriums verlieren wird und ein dysfunktionaler Reststaat sein wird». Selenskyj und seine Unterstützer würden den Krieg fortsetzen wollen, um ihre Situation zu retten, was aber scheitern werde.
«Tatsache ist, dass die Russen auf dem Schlachtfeld gewinnen und die Ukrainer nichts tun können, um das Blatt zu wenden und das verlorene Gebiet zurückzuerobern. Das wird nicht passieren. Wenn die Ukraine den Krieg fortsetzt, wird sie noch mehr Menschen verlieren und noch mehr Gebiet verlieren, und am Ende wird sie immer noch ein dysfunktionaler Reststaat sein.»
«Das ist eine Katastrophe», stellt Mearsheimer fest und erinnert daran, dass Selenskyj, der 2019 mit dem Versprechen auf Frieden gewählt wurde, den Krieg längst hätte beenden müssen und können. Die Ukraine wäre heute in einer «unendlich besseren Lage», wenn er im April 2022 nicht auf die Amerikaner und Boris Johnson gehört und sich mit den Russen geeinigt hätte.
Vermeidbarer Krieg
Dabei hätte der Krieg, der laut Kiew und seiner Unterstützer nicht mit Gebietsverlusten für die Ukraine enden dürfe, auch vorher vermieden werden können, worauf der ungarische Diplomat György Varga bereits 2024 hinwies. Die Ukraine habe das Minsker Abkommen von 2015 über die friedliche Wiedereingliederung der rebellischen Ostukraine «fast acht Jahre lang ignoriert» – «mit der Unterstützung der Garanten des Abkommens (Berlin, Paris)». Varga stellte Anfang dieses Jahres dazu fest:
«Die Ukraine kämpft heute mit Unterstützung der NATO-Länder um die Rücknahme von Gebieten, deren friedliche Wiedereingliederung sie im Zeitraum von 2014 bis 2022 abgelehnt hat.»
Der US-Politologe Mearsheimer sieht heute als «am wenigsten schlechte Alternative» für Kiew, den Krieg zu beenden und sicherzustellen, «dass man nicht noch mehr Territorium verliert, als man bereits verloren hat, und dass man nicht noch mehr Ukrainer verliert, als man bereits verloren hat». Es wäre entgegen der westlichen, moralisch geprägten Sicht, wonach weitergekämpft werden müsse, für die Ukraine «moralisch und strategisch richtig, den Krieg zu beenden». Er glaube, dass er militärisch enden wird, «aber nicht zum Vorteil der Ukraine».
«Mein Fazit lautet daher, dass Präsident Selenskyj, der sich meiner Meinung nach in einer unglaublich schwierigen Lage befindet, die nationale Sicherheit seines Landes dennoch schlecht gemanagt hat.»
Er hält es angesichts der Lage auf dem Schlachtfeld und auch an der ukrainischen «Heimatfront» für «schwer vorstellbar, dass die Ukraine einen Zusammenbruch vermeiden kann». Mearsheimer befürchtet, dass der Krieg nicht durch ein Friedensabkommen beendet wird, sondern als «eingefrorener Konflikt». Das bedeute, dass es zwischen der EU und Russland nur «vergiftete und schreckliche Beziehungen» geben werde.
Aber die Europäer würden auch unter dem Krieg leiden, vor allem wirtschaftlich. Und:
«Wenn man sich die Folgen dieses Krieges für Deutschland ansieht, wäre Deutschland ohne Krieg und mit guten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland viel besser dran gewesen. Die Europäer zahlen hier also einen hohen Preis.»
Mearsheimer warnt die Russen vor Euphorie ob der durch Trump geänderten US-Politik gegenüber ihnen. Er sei eine «Ausnahmeerscheinung» angesichts der Mehrheit im außenpolitischen und sicherheitspolitischen Establishment der USA. Die würde Putin und Russland weiterhin so sehen wie die meisten europäischen Politiker.
Die regierenden Eliten in Europa würden heute fast ausnahmslos Putin und Russland zutiefst feindlich gesinnt sein und die Ukraine weiterhin unterstützen wollen. «Aber unten in der Bevölkerung gibt es viel Widerstand gegen diese Politik», so der Politologe. Er rechnet zukünftig mit einer «sehr unbeständigen Situation» in Bezug auf die Haltung der Staats- und Regierungschefs gegenüber Russland.
«Wir werden uns nicht damit zufrieden geben, dass Russland ukrainisches Territorium annektiert. Wir werden Russland viel Ärger bereiten, damit meine ich den Westen, ebenso wie die Ukrainer. Die Russen werden sich natürlich revanchieren.»