Wenn Le Pen wirklich gute Chancen hat, die Präsidentschaft für sich zu entscheiden, wird es einen Autounfall geben.
Ein hoher EU-Beamter
Liebe Leserinnen und Leser
Vor vielen Jahren sprach ich mit dem Assistenten des damaligen EU-Kommissionspräsidenten. Beim Nachtessen behandelten wir populistische und rechtsextreme Bewegungen in Europa. Er sagte mir offen, dass es eine Grenze der Toleranz für demokratische Entscheide gäbe und dass das politische System reagieren würde, wenn zum Beispiel Le Pen sehr gute Chancen hätte, die Präsidentenwahl in Frankreich für sich zu entscheiden. Le Pen hat sich seither gemäßigt, aber die Frage bleibt.
Rumänien kann von Glück reden, dass Syrien seit dem Wochenende die Schlagzeilen beherrscht. Es gab nur kurze Meldungen über die Annullation der Präsidentenwahl, kaum zwei Tage vor dem entscheidenden Ausstich. Dennoch ist das, was passierte, enorm wichtig. Wie ich heute beschrieben habe, deuten die Umstände darauf hin, dass hinter den Kulissen über die richtige Strategie gerungen wurde – und dass der Entscheid vielleicht auch durch Brüssel und Washington beeinflusst wurde, quasi der Autounfall-Moment.
Auch gemässigte Medien wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) beurteilen das Vorgehen der rumänischen Behörden als Skandal. Die Gegnerin des ultranationalistischen – ich würde sagen: rechtsextremen Kandidaten – Calin Georgescu, Elena Lasconi, kritisierte den Gerichtsentscheid ebenfalls äußerst scharf. Es gibt zu viele Ungereimtheiten; man kann nicht von einem unbeeinflussten Gerichtsentscheid ausgehen, der nur von rechtlichen Erwägungen getragen ist.
Damit ist nicht gesagt, dass Georgescu ein Unschuldslamm ist. Wenn er behauptet, dass seine ausgefeilte TikTok-Kampagne gratis war, dann ist das unglaubwürdig. Aber schauen die Gerichte bei jedem Kandidaten gleich gut hin? Und hätte er nicht früher gestoppt werden müssen?
Georgescu ist auch deshalb eine problematische Figur, weil er die für den Holocaust in Rumänien Verantwortlichen als Helden bezeichnet und auch in Sachen Wirtschaftspolitik abstruse Positionen vertritt.
Die während der Wahlkampagne gemachten antisemitischen und gegen Minderheiten gerichteten Äußerungen und die der Legionärsbewegung sowie Ion Antonescu gegenüber geäußerten Sympathien von Calin Georgescu widersprechen tatsächlich demokratischen Prinzipien. Die Legionärsbewegung, oder Eiserne Garde, war eine faschistische Massenbewegung der Zwischenkriegszeit, die drittgrößte nach der faschistischen Partei Italiens und der deutschen NSDAP, die der Königsdiktatur von Ion Antonescu den Weg bereitete. Unter Antonescu fielen rund 300.000 Juden dem Holocaust zum Opfer. Rund 25.000 Roma wurden ins rumänisch besetzte Transnistrien deportiert.
Werden solche Kandidaten per Gerichtsentscheid von den Wahlen ausgeschlossen, dann wird dieser problematischen Erinnerungskultur Vorschub geleistet. Politiker wie Georgescu können sich dann als Opfer inszenieren. Auch die im Moment laufenden Razzien sind in diesem Zusammenhang nicht hilfreich.
Wer die Wahlkarte der Parlamentswahlen Rumäniens ansieht, stellt Interessantes fest. In den Landkreisen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien gehörten, gewann die sozialdemokratische PSD die Mehrheit der Stimmen, oder in zwei Fällen die rechtsextreme AUR und nur in Bukarest und Umland bürgerliche Parteien.
In Siebenbürgen und im Banat, Gebiete, die bis zum Ersten Weltkrieg zu Ungarn gehörten, dominieren bürgerliche Parteien oder der Ungarnverband, denn es gibt nach wie vor Gegenden, in denen ethnische Ungarn in der Mehrheit sind. Historische Reminiszenzen prägen das Wahlverhalten bis heute.
Ja, Georgescu kann als «minder genehm» bezeichnet werden. Aber dies sollte an der Urne geschehen. Auch der problematischen rumänischen Erinnerungskultur wegen.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk