In Folge des Einmarsches in die Ukraine – aber auch schon zuvor – ist Russland ins Visier westlicher Politiker und Medien geraten. Sie wollen es «ruinieren», «besiegen», mit allen Mitteln und bis zum letzten Ukrainer.
Bisher scheuen sie nur vor dem Einsatz eigener Soldaten im Stellvertreterkrieg gegen Russland auf ukrainischem Boden zurück. Doch schon drohen sie den Menschen in den eigenen Ländern, die russische Armee stehe bald vor der eigenen Tür.
Es bleibt die Frage, warum das so ist, wo diese Hysterie, dieses mediale Geschrei herkommt, warum der Westen, vorneweg auch Deutschland, so kriegslüstern ist. Mögliche Antworten bietet auch in diesem Fall der Blick in die Geschichte, der Parallelen wie auch Kontinuitäten erkennbar werden lässt.
Sie sind unter anderem in dem 2014 erschienenen kleinen Buch von Annika Mombauer über «Die Julikrise» von 1914 vorhanden. Darin beschreibt die Autorin «Europas Weg in den Ersten Weltkrieg» vor nun 100 Jahren. Sie stützt sich auf zahlreiche historische Forschungen und Erkenntnisse, auf Dokumente und Studien.
Beim Lesen hat mich etwas erstaunt: Immer wieder beschreibt Mombauer die Angst vor Russland bei den Herrschenden in Deutschland und Österreich-Ungarn, den beiden Kriegstreibern. Die gab es danach aber auch bei anderen im Westen wie Großbritannien, ganz unabhängig von der Frage, ob diese überhaupt berechtigt war.
Das scheint ein treibendes Motiv derjenigen gewesen zu sein, die vor 100 Jahren früher oder später einen Krieg für unabwendbar hielten – und sich dabei überhaupt nicht wie die vermeintlichen «Schlafwandler» verhielten. Gerade angesichts des Krieges in und um die Ukraine samt der politischen und medialen Hetze der westlichen Regimewechsler und Kriegstreiber gegen Russland verblüffte mich, was ich da erfuhr.
Zugleich half es mir zu erkennen und zu verstehen, woher diese Angst vor Russland und die Hetze gegen dessen politische Führung herkommt, die versucht, eine eigenständige Politik zu machen, und wie alt diese Angst ist, die jetzt wieder so hervorgekehrt wird. Sie ist danach auch älter als die Furcht vor den Kommunisten beziehungsweise Bolschewisten, die 1917 die Macht in Russland eroberten.
Interessant fand ich ebenso, zu lesen, wie alt in der Politik die Methode «Haltet den Dieb!» ist, sprich, den anderen die eigene Kriegstreiberei zuzuschreiben. Als Beleg führe ich im Folgenden einige Textstellen aus dem Buch von Mombauer an.
London: Angst um den eigenen Einfluss und die eigenen Kolonien
• «Besondere Kopfschmerzen bereitete den Diplomaten in London die Gefahr, die ein erstarktes Russland in Zukunft für das britische Empire, insbesondere für Indien, darstellen konnte. Es zeichnete sich bereits deutlich ab, dass Russland über kurz oder lang Deutschland militärisch überlegen sein würde.» (S. 20)
• «In London herrschte Ungewissheit darüber, wer in Zukunft die größere Bedeutung für das britische Weltreich darstellen würde: Deutschland, das schon seit Jahren offensichtlich versuchte, Großbritanniens Stellung zu unterminieren, und das den Status quo auf dem Kontinent infrage stellte, oder Russland, das ohne die Bedrohung aus Deutschland seine Aufmerksamkeit auf britische Kolonien, insbesondere Indien konzentrieren könnte. …
Auch in Paris sah man das Potential des russischen Kolosses und erkannte den hohen Stellenwert der französisch-russischen Freundschaft in der Diplomatie.» (S. 24)
• «Andererseits stellte Russland, für den Fall, dass Frankreich und Russland aus einem Krieg gegen Deutschland siegreich hervorgehen würden, eine Bedrohung für das britische Empire dar, denn ein siegreiches Russland würde sich zweifellos als Nächstes gegen Indien richten. ‹Russland wäre in der Lage, in Regionen, in denen wir leider sehr schwach sind, für uns extrem unangenehm zu werden›, sorgte sich Nicholson im Mai 1914. Solche Überlegungen spielten im britischen Foreign Office auch im Juli eine Rolle. Noch waren zwar Österreich-Ungarn und Deutschland die potentiellen Feinde, aber langfristig wurde die deutsche Furcht vor einem übermächtigen Russland sogar in London geteilt. Selbst in Paris war man davon überzeugt, dass die Russen in Zukunft unbesiegbar werden würden.» (S. 84)
• «… Belgiens Schicksal würde die Briten nicht kaltlassen und konnte der Bevölkerung gegenüber als Erklärung dienen, warum man sich in diesen Krieg auf dem Kontinent einmischen musste, auch wenn für das Kabinett der ausschlaggebende Grund nicht Belgiens Schicksal, sondern Russlands zukünftige militärische Macht gewesen war. …
Die Entscheidung für eine Unterstützung der Entente-Länder, die dann am Nachmittag [des 2. August 1914] in einer zweiten Sitzung fiel, beruhte vor allem auf der Tatsache, dass man letztendlich in Whitehall ein feindliches Deutschland weniger fürchtete als ein feindliches Russland, …» (S. 111ff.)
Berlin und Wien: Aus Angst in den Krieg und Russland für schuldig erklären
• «In Berlin drang Moltke … auf einen baldigen Krieg. ‹Es blieb seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, solange wird den Kampf noch einigermaßen bestehen können›, notierte Staatssekretär des Äußeren Gottlieb von Jagow nach einem Gespräch mit dem Generalstabschef im Frühsommer 1914. Dementsprechend bat Letzterer den Staatssekretär, ‹unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen›. Selbst in Großbritannien räumte man ein, dass Russlands gewaltige Heeresvermehrung und der Ausbau des Eisenbahnsystems langfristig ernste Folgen für Deutschland haben würde. …
Im April 1917, so sagte man voraus, würde Russland zwei Millionen Soldaten für den Ernstfall aufrufen können. Deutschland würde dann nicht mehr in der Lage sein, einen Zweifrontenkrieg gegen Russland und Frankreich siegreich zu bestehen. Kein Wunder, dass dies in Deutschland Ängste auslöste. ‹Die Zukunft gehört Russland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alb auf uns legt›, sorgte sich Kanzler Bethmann Hollweg im Juli 1914.» (S. 21f.)
• «Bethmann Hollweg war davon überzeugt, dass Russland in wenigen Jahren unbesiegbar sein würde, und dies erklärt, warum er es auf einen Krieg ankommen lassen wollte, solange ein Sieg noch in Aussicht stand. Bei den Militärs herrschte eine ähnliche Furcht vor der zukünftigen Übermacht Russlands; ein Präventivkrieg war die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Russland bald unbesiegbar werden würde.» (S. 42)
• «Das Versprechen von Berlin [Österreich-Ungarn zu unterstützen] ermöglichte es der Wiener Regierung, ihren nächsten Schritt gegen Serbien zu planen, was in einer historisch entscheidenden Sitzung des gemeinsamen Ministerrates am 7. Juli geschah. Dabei war allen Teilnehmern durchaus bewusst, dass ein Vorgehen gegen Serbien einen Krieg mit Russland nach sich ziehen könnte. Der Vorsitzende, Berchtold, führte aus, ‹dass ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Russland zu Folge haben könne›. Dieser sei auf lange Sicht unvermeidlich, da Russland eine österreichfeindliche Außenpolitik betreibe. ‹Die logische Folge … wäre, unseren Gegnern zuvorzukommen und durch eine rechtzeitige Abrechnung mit Serbien den bereits in vollem Gange befindlichen Entwicklungsprozess aufzuhalten, was später nicht mehr möglich sein würde.›» (S. 43f.)
• «Jagow brachte die deutsche Furcht auf den Punkt: ‹In einigen Jahren wird Russland schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zal seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. Unsere Truppe wird inzwischen immer schwächer.›» (S. 53)
• «Ein Leitfaden der Politik Bethmanns in der Julikrise war es, die anderen Mächte den ersten Schritt tun zu lassen, damit diese als Aggressoren erschienen.» (S. 71)
• «Den erneuten Vorschlag aus London, eine Konferenz einzuberufen, konnte man in Berlin allerdings schlecht rundweg ablehnen. … Täte Berlin das, ‹so würden wir von der ganzen Welt für die Konflagation verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden.› Dies, so Bethmann, wäre aber vor allem auch innenpolitisch von Schaden, ‹wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen›. Damit ist die Hauptmotivation des Bethmann’schen Kalküls in der Julikrise auf den Punkt gebracht. Und am 27. Juli fasste Müller die ‹Tendenz unserer Politik› nochmals zusammen: ‹Ruhige Haltung, Russland sich ins Unrecht setzen lassen, dann den krieg aber nicht scheuen.» (S. 79)
• «Die Besprechungen in Potsdam [am 27. Juli 1914] fasste Moritz von Lyncker, der Chef des kaiserlichen Militärkabinetts, wie folgt zusammen: ‹Unsere Politik sei darauf gerichtet, Russland in die Rolle des Provozierenden zu drängen. Wir seien aber nicht bemüht, Österreich von weiterem Vorgehen zurückzuhalten.» (S. 81)
• «Kanzler Bethmann Hollweg … war gegen übereilte Schritte – allerdings nicht, weil er den Kriegsausbruch hätte verhindern wollen, sondern wegen seiner Absicht, den Gegner für den Kriegsausbruch verantwortlich zu machen. Seine Kalkulation lautete: Wenn Russland ‹durch einen Angriff auf Österreich die allgemeine Kriegsfurie› entfessele und damit ‹die Schuld für den großen Kladderadatsch auf sich nehmen würde›, könne sich England nicht auf Russlands Seite gesellen.» (S. 90)
• «Als der Zar aus Berlin persönliche Telegramme von seinem Cousin Wilhelm II. erhielt, die noch Hoffnung auf die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung der Krise zuließen, verweigerte er der vom Ministerrat unter Druck der Militärs empfohlenen Gesamtmobilmachung seine Zustimmung. Was man in Petersburg nicht ahnen konnte: Der Telegrammwechsel war von Bethmann Hollweg mit einem klaren Ziel inszeniert worden – den Russen die Schuld für den Kriegsausbruch zuzuschieben. Am 28. Juli schickte der Kanzler seinen Entwurf an den Kaiser, versehen mit der Erklärung, ein solches Telegramm werde, ‹wenn es dann doch noch zum Kriege kommen sollte, die Schuld Russlands in das hellste Licht setzen›.» (S. 100)
• «Nach langen Debatten konnte man sich in Berlin dann endgültig darauf einigen, dass die Mobilmachung am 31. Juli um 12 Uhr erklärt werden und am nächsten Tag in Kraft treten sollte. Nun hoffte man inständig, Russland möge seine Mobilmachung zuvor bekannt geben, um den gewünschten Anschein zu erwecken, die deutsche Mobilmachung sei die Antwort auf die russische Generalmobilmachung, denn man wollte Petersburg ja die Verantwortung für die Eskalation der Situation zuschieben. …
Die Gesamtmobilmachung in Russland am 31. Juli machte zwar einen Krieg wahrscheinlicher, aber sie war nicht der Grund für den Ausbruch des Krieges.» (S. 102f.)
Am Ende gilt, dass sich jede und jeder selbst ein eigenes Bild und Urteil machen soll und muss. Das Buch von Annika Mombauer ist darüber hinaus interessant als Überblick zur Frage, wie und warum vor 100 Jahren der erste von zwei Weltkriegen vom Zaun gebrochen wurde.
Mir macht ehrlich gesagt das, was die westlichen Kriegstreiber heute in der Ukraine anrichten und von sich geben, Angst, selbst wenn es nur verbales Säbergerassel sein sollte. Da kann ich mich nicht gelassen oder gar zynisch zurücklehnen und einfach nur zuschauen.
Zum Buch:
Annika Mombauer: «Die Julikrise – Europas Weg in den Ersten Weltkrieg»
Verlag C.H.BECK 2014. 128 Seiten; ISBN 978-3-406-66108-2; 8,95 Euro
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