Ein Schweizer Restaurantbesitzer verfolgt einen mutmaßlichen Einbrecher und erschießt ihn – ein klarer Fall von vorsätzlicher Tötung, so scheint es. Doch wie hoch sollte die Strafe ausfallen? Die Antwort hängt offenbar stark davon ab, welcher Richter den Fall beurteilt. Das belegt eine neue Untersuchung des Zürcher Doktoranden Luca Ranzoni. Er ließ 241 Strafrichterinnen und -richter aus der ganzen Schweiz einen fiktiven Fall bewerten – mit verblüffendem Ergebnis: Das Strafmaß reichte von einem Jahr bedingt bis zu 15 Jahren Gefängnis. Das berichtete kürzlich die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) in einem längeren Artikel, der viel zu wenig beachtet wurde.
Damit offenbart die Studie einen zentralen Schwachpunkt der Schweizer Justiz: Es gibt keine einheitliche Strafzumessung. Obwohl alle Richterinnen und Richter denselben Fall vorgelegt bekamen, gingen ihre Urteile weit auseinander – im Durchschnitt um mehr als drei Jahre. Dabei weichen viele Strafen sogar vom gesetzlichen Mindestmaß ab, ohne dass eine Begründung eingefordert wurde. «Die Dimension des Zufalls ist erheblich», warnt Ranzoni. Und das sei mit dem verfassungsmäßig garantierten Gleichheitsgebot nur schwer vereinbar.
Ranzonis Umfrage, die Teil seiner Dissertation an der Universität Zürich ist, zeigt auch: Die Unterschiede in den Urteilen sind nicht nur bei Kapitalverbrechen groß. Bei Körperverletzung, Diebstahl und Betrug fallen die Unterschiede sogar noch drastischer aus. Die höchste Strafe bei einem Körperverletzungsfall betrug das 48-Fache der niedrigsten – bei identischem Sachverhalt.
Einen Grund für diese massive Streuung sieht Ranzoni im Strafgesetz selbst, das bei der Strafzumessung viel Ermessensspielraum lässt. Richterinnen und Richter müssen individuell entscheiden, ob der Täter aus edlen Motiven handelte, unter Druck stand oder Reue zeigte. Diese Flexibilität soll eigentlich ermöglichen, Ungleiches ungleich zu behandeln – in der Praxis aber führt sie offenbar zu Willkür.
Hinzu kommen kantonale Unterschiede. Wer in Zürich vor Gericht steht, muss mit deutlich härteren Strafen rechnen als in Waadt oder im Wallis. In Letzterem sprachen die meisten Richter Urteile unter fünf Jahren aus, während in Zürich fast ein Viertel zehn Jahre oder mehr verhängte. Für Ranzoni ist klar: Diese Unterschiede lassen sich nicht mit dem Föderalismus rechtfertigen – denn das Strafgesetz gilt seit 1943 national.
Besonders überraschend: Die befragten Richter hielten das Durchschnittsurteil von 6,7 Jahren Haft mehrheitlich selbst für unangemessen – allerdings aus entgegengesetzten Gründen. Ein Teil empfand es als zu streng, ein anderer als zu milde. Ein einheitliches Strafempfinden scheint es also nicht einmal innerhalb der Justiz selbst zu geben.
Noch gravierender ist jedoch, dass es in der Schweiz keine zentrale Datenbank gibt, in der erstinstanzliche Strafurteile erfasst werden. Ranzoni fordert daher eine gesetzliche Pflicht zur Publikation sämtlicher Urteile – als Grundlage für ein nationales Informationssystem zur Strafzumessung. Nur so könne die Justiz erfahren, wie ähnliche Fälle bisher beurteilt wurden, und so ein Mindestmaß an Gleichbehandlung garantieren. Bis es so weit ist, bleibt die Schweizer Strafjustiz ein System mit erheblichem Zufallsfaktor.
«Die Verwirklichung der Rechtsgleichheit in der Strafzumessung ist mangelhaft», resümiert Ranzoni.
Und fügt hinzu:
«Damit darf die Schweiz nicht zufrieden sein.»