Die inzwischen erfolgte teilweise Freigabe westlicher Waffen zu Angriffen auf russisches Territorium für Kiew, birgt die «Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Soldaten der NATO und russischen Streitkräften und der Ausweitung des Krieges auf ganz Europa. Denn schon beim kleinsten Zwischenfall wäre die NATO unmittelbar in Kampfhandlungen mit Russland verwickelt.»
Das hat der Ex-General Harald Kujat in einem am 30. Mai veröffentlichten Interview mit der Zeitung Preußische Allgemeine erklärt. Er war Bundeswehr-Generalinspekteur und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Kujat bezog in seine Warnung auch den angekündigten Einsatz westlicher Ausbilder und Berater für die ukrainischen Truppen an der Front mit ein.
Er verwies auf die Risiken der Waffenfreigabe am Beispiel des ukrainischen Drohnenangriffs auf ein russisches Frühwarn-Radar der strategischen Nuklear-Abwehr Ende Mai.
«Derartige Angriffe gefährden auf unverantwortliche Weise das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland und können katastrophale Folgen haben.»
Kujat machte darauf aufmerksam, dass sich bereits militärische Berater westlicher Staaten in der Ukraine aufhalten. Seit Dezember 2023 sei zudem der US-amerikanische General Antonio Aguto mit einem Beraterteam in Kiew, um der militärischen Führung der Ukraine «über die Schulter zu schauen». Aguto ist den Angaben nach der Chef der in Wiesbaden stationierten «Security Assistance Group Ukraine» der US-Armee, die Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten koordiniert, die ukrainischen Streitkräfte bei der Operationsplanung unterstützt und sie mit Informationen versorgt.
Zunehmende Gefahr
Der ehemalige höchste Bundeswehr- und NATO-Offizier zeigte sich sicher, dass Russland den westlichen Schritten nicht tatenlos zusehen werde. Inzwischen hat Russlands Präsident Wladimir Putin auch sogenannte asymmetrische Antworten angekündigt. Kujat schätzte gegenüber der Zeitung ein:
«Hier liegt die eigentliche Gefahr – in der schrittweisen Eskalation der verschiedenen Seiten hin zu einem Zustand, bei dem es zu einem direkten militärischen Konflikt zwischen der NATO und Russland kommt, mit dem Risiko eines auf den europäischen Kontinent begrenzten Nuklearkrieges.»
Vielen Politikern im Westen sei nicht bewusst, «wohin ihre Argumentation uns alle führen kann». Es werde verkannt, was Eskalation in einem Krieg bedeute, so der Ex-General mit Blick auf die Waffen-Freigabe und die westlichen Ausbilder in der Ukraine. Zugleich forderte er die bundesdeutschen Politiker auf, «auch an unsere eigenen Interessen zu denken».
Mit der Freigabe westlicher Waffen gegen russische Ziele würden zunehmend Tabus aufgeweicht, erklärte ebenso der Sicherheitsexperte und ehemalige Bundeswehr-Oberst Wolfgang Richter. In einem am 1. Juni veröffentlichten Interview mit der Berliner Zeitung (BLZ) stellte er zugleich klar, dass das am Verlauf des Krieges nichts ändern werde.
Die Ukraine befinde sich seit ihrer gescheiteren «Gegenoffensive» im Herbst 2023 in der strategischen Defensive, trotz der rund 1.550 gelieferten gepanzerten Kampffahrzeuge aus dem Westen. Einzelne Waffensysteme seien keine «Gamechanger», so Richter, was auch für die teilweise Freigabe der westlichen Waffen gegen russische Ziele gelte.
Richter betonte, dass die Beschränkungen für weitreichende Waffen aus den USA für Kiew weiter bestehen würden, um das nukleare Gleichgewicht zwischen den USA und Russland nicht zu gefährden. Den ukrainischen Angriff auf das russische Frühwarn-Radar sei ein «Tabu-Bruch» gewesen.
Aufgeweichte Tabus
Dass nach den USA auch die deutsche Bundesregierung ihr anfängliches Zögern aufgegeben hatte und auch deutsche Waffen für Kiew freigab, begründete der Experte damit, dass Kanzler Olaf Scholz (SPD) der US-Linie folgt. Und er machte deutlich:
«Wir befinden uns jetzt jedenfalls in einer Diskussion, die vor zwei Jahren völlig ausgeschlossen war.»
Bisherige Tabus würden allmählich aufgeweicht und beide Seiten würden weiter an der Eskalationsspirale drehen. Inzwischen hat der französische Präsident Emmanuel Macron, der frühzeitig westliche Bodentruppen für die Ukraine forderte, angekündigt, Kiew Kampfjets vom Typ Mirage 2000 liefern zu wollen.
Laut Ex-Oberst Richter würden die früheren roten Linien «Wir werden keine Kriegspartei» immer stärker verschoben und die entsprechenden Tabus «zunehmend brüchig». Er warnte auch ausdrücklich vor einem im Westen diskutierten «unverantwortlichen» Vorschlag für eine «Flugverbotszone» über der Ukraine. Diese wäre «de facto eine Kriegshandlung gegen die russischen Luftstreitkräfte» und «ein eindeutiger Schritt hin in Richtung eines großen Krieges».
Aus seiner Sicht gibt es in Moskau keine Pläne für einen Einsatz von Atomwaffen im Krieg in der Ukraine. Das bestätigte Präsident Putin am Freitag beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Richter sagte dazu im Interview mit der BLZ:
«Das Tabu gegen den Einsatz von Atomwaffen zu brechen, würde nicht nur harsche Reaktionen des Westens heraufbeschwören, sondern Russland weltweit isolieren. Das hat auch Chinas Staatschef beim Besuch des Bundeskanzlers deutlich gemacht. Letztlich besteht die Gefahr eines unmittelbaren militärischen Zusammenstoßes mit der NATO. Das kann keine vernünftige Zielsetzung Moskaus sein.»
Existenzielle Bedrohung
Zugleich warnte der Militär- und Sicherheitsexperte vor einer Situation, die für Moskau bedeuten könne, dass die politische Existenz Russlands oder das nukleare Gleichgewicht auf dem Spiel steht. Dann könnten sich die Risikoeinschätzungen ändern und diese Schranke vor einem Nuklearkrieg fallen. Richter erinnerte an die Erklärung der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und anerkannten Atommächte vom Januar 2022:
«Ein Nuklearkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.»
Auf die schwerwiegenden Folgen einer weiteren Eskalation im Krieg in der Ukraine machte auch der ehemalige hochrangige Bundeswehr-Offizier Ralph Thiele aufmerksam. In einem am Mittwoch veröffentlichten Gespräch mit dem Magazin Focus online warnte er davor, «ohne strategische Reflexion einfach immer weiter Waffen an die Ukraine zu liefern. Das sei «eine existenzielle Bedrohung für den Westen».
Der Westen agiere ohne klare Strategie und wie bei einem Pokerspiel «ohne starke Hand», wird Thiele zitiert. Der Einsatz sei «nicht nur die ukrainische, sondern auch die Sicherheit unserer eigenen Bevölkerung und Prosperität». Russland habe ein «volles Blatt», der Westen dagegen nur ein «leeres Blatt» und «kaum relevante militärische Fähigkeiten».
Thiele, unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. und früher bei der NATO tätig, verwies darauf, dass die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr seit Ende des Kalten Krieges massiv reduziert worden sind. Das erfolgte auch, weil unter anderem in der Folgezeit Experten die Vorwarnzeit für einen Angriff aus dem Osten auf die Bundesrepublik auf mehrere Jahre einschätzten. Das ist unter anderem in einem Bericht zur Zukunft der Bundeswehr einer entsprechenden Kommission unter dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 2000 nachzulesen.
Aus Sicht von Ex-Oberst Thiele bedeutet die westliche Freigabe von Waffen gegen russische Ziele für Russland nur, mehr Soldaten zu verlieren. Zugleich verfüge Russland über genügend Soldaten und Munition sowie eine leistungsfähigere Rüstungsindustrie. Ebenso verwies er darauf, dass die ukrainischen Truppen «körperlich und geistig erschöpft» seien und nicht allein mit mehr Waffen zu einer «fitten Truppe» würden.
Zudem machte er auf die Konsequenzen von erweiterten Waffenlieferungen wie illegalen Waffenschmuggel, Sabotage und Anschläge auf kritische Infrastruktur aufmerksam. Politik und Medien würden den Einsatz von Waffen und Truppen «nicht ausreichend reflektiert vorantreiben», kritisierte er.
Das sieht er unter anderem in der heutigen Politikergeneration begründet, in der erfahrene Politiker wie einst Willy Brandt, Herbert Wehner oder auch Helmut Kohl fehlen würden. Diese hätten aufgrund ihrer eigenen traumatischen Kriegserfahrungen vergleichbare Eskalationen «mit Sicherheit» vermieden. Laut Focus online bezeichnete Thiele die Stimmungsmache, «die die deutsche Bevölkerung in ein Kriegsengagement treibt» als «hoch riskant».
Der Ex-Offizier sprach sich dem Bericht nach für ein Ende des Krieges in der Ukraine aus, «um die Ukraine und den Westen vor noch größerem Schaden zu bewahren». Weiter Waffen an die Ukraine ohne Begleitstrategie für ein Kriegsende zu liefern, habe «düstere Zeiten» zu Folge. Der Westen müsse seine Politik überprüfen und an die gefährliche Situation anpassen, wurde Thiele zitiert.
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