Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor 18 Monaten stand Europa vor einer potenziellen Energiekrise. Dank eines milden Winters und einer Strategie zur Senkung des Energieverbrauchs und zur Diversifizierung der Lieferanten konnte diese bewältigt werden, schreibt Michael Bradshaw in The Conversation. Bradshaw ist Professor für globale Energie an der Warwick Business School der englischen Universität Warwick.
Deutschland, Italien und andere Länder, die auf Gas angewiesen sind, hätten ihre Abhängigkeit von russischem Gas ohne grössere Stromengpässe verringern können, so Bradshaw. Die Energiepreise seien im Jahr 2023 gesunken und die Gasspeicher seien fast voll.
Die Energiesituation in Europa bleibt laut dem Professor jedoch aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit von verflüssigtem Erdgas (LNG) prekär, da sie die europäischen Länder anfällig für Marktschwankungen macht. Diese Importe würden kurzfristig eingekauft, anstatt die in Asien üblichen langfristigen, ölindexierten Verträge zu nutzen.
Wie Bradshaw erklärt, hat die Europäische Kommission Initiativen zur Koordinierung der LNG-Nachfrage ergriffen, deren Wirksamkeit jedoch ungewiss sei. Ausserdem befürchte die Branche, dass diese Art der staatlichen Intervention nach hinten losgehen und das Funktionieren des Marktes untergraben könnte.
Der Autor stellt fest: Norwegen habe sich zu Europas führendem Pipeline-Gaslieferanten entwickelt, doch Wartungsarbeiten hätten dessen Infrastruktur belastet.
Laut Bradshaw wird erwartet, dass die EU auch in den kommenden Jahren Gas aus Russland beziehen werde. Dieser Versorgungsweg sei jedoch gefährdet. Die Bemühungen Europas, den Gasverbrauch zu senken, würden vor Herausforderungen stehen, da nicht alle EU-Mitglieder verbindliche Massnahmen zur Energieeinsparung eingeführt hätten.
Hohe Energiepreise könnten sich gemäss Bradshaw negativ auf die Industrie auswirken, insbesondere in Deutschland.
Der Professor ist allerdings der Ansicht, dass Mitte der 2020er Jahre der Druck auf Gas durch neue LNG-Lieferungen aus den USA und Katar nachlassen dürfte. Die europäische Gas-Nachfrage werde den Prognosen zufolge bis 2030 deutlich zurückgehen.
Die Energiewende weg von fossilen Brennstoffen bleibe jedoch eine Herausforderung, da Länder wie Frankreich und Deutschland in Bezug auf Kernenergie und erneuerbare Energien gespalten seien. Bradshaw schliesst:
«Auch wenn es Europa gelungen ist, sich vom russischen Pipelinegas abzukoppeln, wird es der Volatilität der globalen Gasmärkte ausgesetzt bleiben, wenn es seine Gasnachfrage in den kommenden Jahren nicht deutlich reduziert.»