Sowohl in ihrer Torheit als auch in ihrem Ruhm seien die nationalen Schicksale der Briten und der Franzosen untrennbar miteinander verbunden, schreibt das britische Magazin The Critic. Rishi Sunak und Emmanuel Macron hätten die beiden «großen Nationen» erneut auf eine Linie gebracht, indem sie «schlecht kalkulierte Schnellwahlen» ausgerufen hätten, die das beabsichtigte Ergebnis spektakulär verfehlt hätten.
Die erste Runde der französischen Parlamentswahlen hat Marine Le Pens Rassamblement National (RN) zum Sieg verholfen und Macrons zentristisches Bündnis auf den dritten Platz verwiesen, so das Magazin. Für die linke Neue Volksfront habe der Wahlausgang schwierige Bedingungen für die zweite Runde geschaffen. Wenn man den ersten Ergebnissen Glauben schenken dürfe, sei mit einer noch nie dagewesenen Anzahl von Stichwahlen zu rechnen, wenn die Wähler am 7. Juli erneut zu den Urnen gehen.
Angesichts der «drohenden nationalistischen Mehrheit» würden traditionelle politische Annahmen auf den Prüfstand gestellt. Dies zeige sich am besten an dem anhaltenden «Psychodrama» innerhalb der Mitte-Rechts-Partei Les Republicains nach Aufrufen zur Zusammenarbeit mit Le Pen. In Macrons eigener Mitte-Koalition herrsche Uneinigkeit darüber, ob die Wähler im nächsten Wahlgang die nationalistische Rechte oder die radikale Linke unterstützen sollten.
Unter der Führung von Marine Le Pen habe die Partei ihr Image aufpoliert, sich professionalisiert und «kultivierte Persönlichkeiten» wie den Parteivorsitzenden Jordan Bardella gefördert, urteilt The Critic. Der «Cordon sanitaire» (dt. «Schutzzone», in Deutschland in diesem Zusammenhang eher «Brandmauer» genannt), der den RN einst vom französischen politischen Establishment trennte, werde langsam ausgehöhlt.
Die große Geschichte dieser Wahl sei jedoch nicht der Erfolg des Rassamblement National. Vielmehr sei die Geschichte viel, viel größer: Der «rechte Nationalismus» sei heute ein unvermeidliches Merkmal des politischen Lebens in Europa. Die etablierten Parteien gäben ihre Weigerung auf, mit nationalistischen Bewegungen zusammenzuarbeiten, und kopierten viele ihrer auffälligsten politischen Maßnahmen. So würden ihre Ideen, ihre Rhetorik und ihr politischer Stil von Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten gleichermaßen übernommen.
Erste Anzeichen für diese «neue europäische Realität» seien bereits sichtbar, so in den Niederlanden, in Schweden oder in Italien. Aber auch in Dänemark, Deutschland und Österreich erkennt The Critic beispielsweise einen «Rechtsruck in der Migrationsfrage».
Die große Ironie bestehe darin, dass Großbritannien das einzige europäische Land zu sein scheine, das von dieser neuen Realität verschont bliebe – trotz fast eines Jahrzehnts von Äußerungen über einen «gefährlichen Rechtsruck» nach dem Brexit. Während sich Europa politisch nach rechts bewege, werde Großbritannien mit überwältigender Mehrheit eine Mitte-Links-Regierung wählen, ist das Magazin überzeugt.
Die britische «aufrührerische populistische Bewegung» sei im Vergleich zu ihren kontinentalen Pendants bemerkenswert dilettantisch. Derweil habe die traditionelle Mitte-Rechts-Partei nicht begriffen, wie ernst das Migrationsproblem wirklich sei.
Nach Ansicht von The Critic ist es unwahrscheinlich, dass die Parlamentswahl am 4. Juli ein nationalistisches Erdbeben auslösen wird, wie es sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals abzeichne. Allerdings gebe es erste Anzeichen dafür, dass sich die britische politische Kultur in eine deutlich europäische Richtung bewegen könnte.
Und nach der Wahl sei es leicht vorstellbar, dass der Rest der Konservativen Partei in einen ähnlichen «Bürgerkrieg» verwickelt werde wie Éric Ciotti und Les Republicains – zerrissen von der Frage, ob man mit dem «Rechtspopulisten» Nigel Farage und seiner Reform UK auf Distanz gehen solle.
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