Rund 100.000 sowjetische beziehungsweise russische Militärs hätten in der Bundesrepublik bleiben und mit Einheiten der Bundeswehr und aus Frankreich gemeinsame Manöver durchführen können. Zugleich hätten sie weiterreichende Verbindungen aufbauen können. Diesen Vorschlag soll der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 gemacht haben, als über den Abzug der damaligen sowjetischen Truppen vom früheren Gebiet der DDR verhandelt wurde.
Doch die sowjetische Seite, allen voran Michail Gorbatschow, sei darauf gar nicht erst eingegangen – und die US-Regierung sei strikt dagegen gewesen. Diese geschichtliche Episode schilderte am 12. September 2019 in Berlin der ehemalige russische Generaloberst Anton Terentjew. Er war von 1992 bis 1994 der letzte Stabschef der inzwischen russischen Truppen in der wiedervereinigten Bundesrepublik («Westgruppe der Truppen» – WGT).
Am 9. September 1994 verließ er als letzter russischer Soldat in einer Transportmaschine vom Typ Il-76 vom Flugplatz Berlin-Schönefeld aus Deutschland. Der Abzug der russischen Truppen war offiziell am 31. August 1994 abgeschlossen worden.
Vergebene Chancen
Terentjew, der Kohl als «weisen Politiker» bezeichnete, meinte, dessen Vorschlag hätte ein Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit in Europa sein können. Doch diese Chance sei vergeben worden. Er sagte das bei einer Veranstaltung im Deutschen-Russischen Museum Berlin-Karlshorst (das sich nur noch «Museum Berlin-Karlshorst» nennt), die an den Abzug vor 30 Jahren erinnerte. Wie bei einer ähnlichen Veranstaltung zwei Tage zuvor machte er auf die geopolitischen Zusammenhänge und Folgen aufmerksam.
Generaloberst a.D Anton Terentjew 2019 in Berlin Karlshorst (Foto: Tilo Gräser)
Der Ex-General bedauerte, dass in den damaligen Verträgen mit Moskau über Zusammenarbeit die militärische Frage ausgeklammert worden sei. Es hätten gemeinsame deutsch-sowjetisch bzw. -russische Manöver vereinbart werden können. «Man hätte in den Manöverpausen in den Zelten sitzen und miteinander Tee oder Kaffee trinken können», stellte sich Terentjew vor.
«So etwas macht es schwerer, aufeinander zu schießen.»
Der einstige hochrangige russische Militär machte wie bereits am 10. September 2019 in Berlin deutlich, wie tief in Russland die Enttäuschung über die westliche Politik nach 1990 sitzt. Er wiederholte seine grundsätzliche Kritik an der Nato-Osterweiterung.
Zwei Tage zuvor hatte er sich beklagt, dass die Bundesrepublik «Ostdeutschland für ein Butterbrot bekommen» habe. Auch bei dem Anlass verwies er auf ein Zitat Kohls, wonach dieser bei den Verhandlungen mit Gorbatschow bereit gewesen wäre, bis zu 100 Milliarden D-Mark für die DDR zu zahlen. Gorbatschow hätte den Fehler gemacht, «sich schon mit 7,8 Milliarden zufrieden zu geben», so der russische Generaloberst.
In Karlshorst betonte er erneut, es sei unverständlich, dass die russischen Truppen nach fast 50 Jahren abzogen, während die westlichen Alliierten bis heute bleiben. Er fragte, ob Deutschland denn wirklich souverän sei.
Hindernisreicher Abzug
Terentjew ist nicht irgendein ehemaliger sowjetischer Offizier, sondern war später stellvertretender Oberbefehlshaber der russischen Landstreitkräfte. 2019 war er Präsident der «Union der Veteranen der Truppengruppe in Deutschland». Als solcher kam er mit einer mehrköpfigen Delegation in die Bundesrepublik, um an Veranstaltungen zum WGT-Abzug vor nun 30 Jahren teilzunehmen.
Vor ihm hatte der Historiker Christoph Meißner vom Museum in Karlshorst einen Überblick über die damaligen Vorgänge gegeben und wie es zu diesen kam. Dabei wurde deutlich, dass bei den offiziellen Feiern einer «logistischen Meisterleistung» und eines «Abzugs in Würde» der russischen Truppen Zweifel daran ausgeblendet wurden.
Meißner machte klar, dass der drei Jahre dauernde Abzug von 340.000 Soldaten und 200.000 Zivilisten nicht so problem- und reibungslos ablief, wie es oft dargestellt werde.
«Zunächst weigerte sich das Oberkommando der WGT, auf die Abzugspläne der Politik einzugehen. Erst der Wechsel zu Generaloberst Matwej Burlakow im Dezember 1990 brachte Schwung in die Planungen und Umsetzung des Abzuges.»
Später sollte der General in einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel feststellen: «Bei uns zu Hause interessierte sich niemand für das Schicksal der Westgruppe.»
Unterschiedliche Sichten
Der Historiker beschrieb die politischen, gesellschaftlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Abzuges. So habe die ostdeutsche Bevölkerung einen sofortigen Truppenabzug gefordert, der aber nicht umsetzbar gewesen sei. Auch gegen die fortgesetzten Truppenmanöver sei protestiert worden, die aber für das WGT-Kommando wichtigen gewesen seien, «um die Disziplin in der Truppe aufrechtzuerhalten».
«Für die Deutschen spielten diese Faktoren aber eine untergeordnete Rolle, ebenso wie der Zerfall der Sowjetunion, der aber für die heimkehrenden Soldaten eine große Belastung darstellte.»
Nach den internen Machtkämpfen in der Noch-Sowjetunion mit dem Putschversuch im August 1991 und dem Ende der Organisation des Warschauer Vertrages im März 1991 habe sich die WGT «wie auf einer Insel fern der Heimat» gefühlt. Meißner erinnerte an die Debatten um die Umweltschäden im Zusammenhang mit dem Abzug. Am Ende seien die möglichen Einnahmen für den Verkauf der Gebäude und Gelände mit den Kosten der Maßnahmen, sie von Munitions - und anderen Rückständen zu säubern, verrechnet worden – als «Null-Lösung».
Ex-General Terentjew fragte dazu, ob jemals die Schäden berechnet worden seien, welche die faschistische deutsche Wehrmacht ab dem 22. Juni 1941 auf dem Gebiet der Sowjetunion anrichtete, und ob es dafür jemals eine Entschädigung gab.
Ungeliebte Sieger
Der Historiker vom Museum in Berlin-Karlshorst verwies ebenso auf die humanitäre Hilfe aus Deutschland, die für die russischen Soldaten und ihre Angehörigen bis 1994 geleistet wurde. Dazu gehörte ein Unterstützungsfonds, den Bundeswehr-Angehörige gemeinsam mit russischen Offizieren gegründet hatten. Dieser half zum Beispiel, notwendige Operationen für kranke Kinder von Truppenangehörigen zu ermöglichen.
«Jede Seite schaute vor allem auf sich selbst», sagte Meißner zur Frage, ob der Abzug ein Beitrag zur Vertrauensbildung gewesen sei. Der Historiker zeigte am Beispiel, wie über den offiziellen Abschied 1994 diskutiert wurde, wie unterschiedlich die Sichten der beteiligten Seiten waren.
Die WGT habe sich aus ihrer Sicht als «Freunde» verabschiedet. «Doch war es wirklich würdevoll, den russischen Soldaten eine Abschiedsparade zu verwehren und stattdessen ein militärisches Zeremoniell mit Kranzniederlegung im Treptower Park abzuhalten?», fragte Meißner.
«Der deutschen Seite war stets daran gelegen, die russischen Soldaten so schnell wie möglich aus dem Land zu bekommen.»
Verweigerte Würde
Die drei Westalliierten hatten eine gemeinsame Truppenparade und Abschiedsfeier mit den russischen Truppen abgelehnt. Und so wurden die Soldaten und Offiziere – mit immer noch dem Roten Stern an den Mützen –, deren Vorgänger einst als Sieger nach Berlin kamen, am 31. August 1994 auf dem Gendarmenmarkt mit einer großen Zeremonie samt Kanzler Kohl und Russlands Präsident Boris Jelzin nach Hause verabschiedet.
Die westlichen Besatzungstruppen aus den USA, Großbritannien und Frankreich bekamen dagegen am 8. September des Jahres einen «Großen Zapfenstreich» der Bundeswehr am Brandenburger Tor und eine eigene Parade. Ex-General Terentjew machte in Karlshorst seinem Ärger darüber Luft:
«Die Sowjetunion hat 27 Millionen Menschen durch den Krieg verloren. Die Rote Armee hat das deutsche Volk und ganz Europa vom Faschismus befreit. Sie hätte dadurch einen adäquaten Abschied durch die westliche Koalition verdient.»
Für Ex-Bundeswehr-Oberst Karl Robert Woelk war die Art und Weise des Abschiedes dagegen in Ordnung, wie er in der Veranstaltung erklärte. Er gehörte damals neben ehemaligen DDR-Offizieren zum Bundeswehr-Verbindungskommando zur WGT. «Jeder hat seins bekommen, was er verdient hat», kommentierte er die getrennten Abschiedsveranstaltungen für die Alliierten 1994.
Zweierlei Maß
Auf erkennbare Verwunderung im Publikum dazu erklärte er, dass die westlichen Besatzungsmächte für die Bundesrepublik zu «Schutzmächten» geworden seien. Dagegen seien die ehemals sowjetischen und dann russischen Truppen zwar «Erben des Sieges», aber weiterhin Besatzungstruppen gewesen.
Das habe auch ein Großteil der einstigen DDR-Bevölkerung so gesehen, sagte der Ex-Oberst. Nur vereinzelt hätten sich Bundeswehrgeneräle für eine gemeinsame Verabschiedung ausgesprochen.
Woelk begründete die unterschiedliche Behandlung der einstigen alliierten Besatzungsmächte unter anderem noch mit dem Verhalten der sowjetischen Truppen bei den Ereignissen wie der Berlin-Blockade 1948. Auf die vom Westen aktiv beförderten Ursachen dafür ging er ebenso wenig ein wie Museumsdirektor Jörg Morré, der dazu noch den 17. Juni 1953 und den Mauerbau am 13. August 1961 aufzählte.
Ex-General Terentjew nahm das beiden nicht persönlich übel. Er reichte dem einstigen Bundeswehr-Oberst Woelk die Hand und sagte: «Es lebe unsere militärische Freundschaft.» Er machte in der Veranstaltung seiner tiefen Enttäuschung über die westliche Politik seit dem Abzug 1994 deutlich Luft.
Gleichfalls stellte der Ex-WGT-Stabschef klar:
«Die sowjetischen Truppen hatten keinerlei Angriffspläne.»
Es sei für sie immer nur darum gegangen, sich im Fall eines westlichen Angriffs zu verteidigen.
Klares Bekenntnis
Terentjew erinnerte an das Lied «Meinst Du, die Russen wollen Krieg?» nach einem Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko. Auch das heutige Russland wolle keinen Krieg und niemanden angreifen, betonte er. Das Land werde aber niemals zulassen, dass es angegriffen werde, stellte er mit Blick auf die Gegenwart klar.
Gegen Ende des Abends an historischer Stelle in Karlshorst, in dem Raum, in dem am 8. Mai 1945 die deutsche Kapitulation unterzeichnet wurde, sagte der Ex-General vor fünf Jahren:
«Mein Land, unsere Staatsführung und wir Russen, wir sehen keinen besseren Freund im Westen als die Deutschen und Deutschland! Diese Freundschaft wird von Russland immer sehr stark angestrebt.»
Russland würde weiter seine Hand ausstrecken, auch wenn Deutschland «ein bisschen zurückhaltend» sei, sie anzunehmen. «Seien Sie mutig», forderte Terentjew 2019 die Deutschen auf, «und machen Sie den Handschlag mit Russland! Davon gewinnt Europa und das kommt der ganzen Welt zugute!»
Horst Teltschik erinnerte 2019 an den russischen Truppenabzug (Foto: Tilo Gräser)
Über den Abzug 1994, dessen Bedeutung und die Folgen hatte bereits zwei Tage zuvor eine Veranstaltung in Berlin, organisiert von der «Stiftung West-Östliche Begegnungen», diskutiert. Bei dieser hatte Horst Teltschik, damals Kohls außenpolitischer Berater und unmittelbar an den Verhandlungen mit Moskau auf dem Weg zur Deutschen Einheit beteiligt, an die Zeilen aus einem Lied erinnert, das 1994 russische Soldaten bei der Abschiedsveranstaltung auf dem Gendarmenmarkt in Berlin sangen:
«Wir sind als Feinde gekommen und wir gehen als Freunde.»
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