Mehr als eine Millionen Menschen in Deutschland sind weniger von Armut bedroht oder betroffen – das sagt zumindest die offizielle Statistik. Für die ist das Statistische Bundesamt (Destatis) zuständig, das dafür nur noch eine von möglichen Berechnungsmethoden verwendet. Die Folge: Statt 16,6 Prozent «Armutsquote» in Deutschland beträgt der Anteil der Betroffenen nun offiziell 15,5 Prozent an den rund 83,5 Millionen Einwohnern – was rund eine Million Menschen ausmacht.
Gegen diesen statistischen Trick haben 30 deutsche Armuts- und Sozialforscher, unter anderem der Sozialforscher Christoph Butterwegge und der Sozialexperte Ulrich Schneider, mit einem Brief an die Destatis-Präsidentin Ruth Brand protestiert. Darüber hat das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) am Donnerstag berichtet. Demnach werfen die Sozialwissenschaftler und -experten den Statistikern vor, die Armutsquote klein rechnen zu wollen.
Dem Bericht nach geht es darum, dass das Statistische Bundesamt die Armut in Deutschland nur noch nach einer Methode erfasst und die bisher ebenfalls benutzte Berechnungsmethode wie auch deren Ergebnisse von der Destatis-Webseite gelöscht hat. Der Sozialexperte Ulrich Schneider, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, bezeichnete den Vorgan laut RND als «brisant» und vermutet Manipulation oder «zumindest ein interessengeleitetes Vorgehen».
Die Autoren des Protestbriefes kritisieren demnach «einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit». Der Vorgang grenzt aus ihrer Sicht «an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden».
Das Problem dabei ist allerdings, dass das Statistische Bundesamt auf seiner Webseite zwar erklärt, es stelle «neutrale, objektive und fachlich unabhängige Statistiken zur Verfügung». Aber es ist und bleibt eine «selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat», wie es im zugrundeliegenden Bundestatistikgesetz heißt.
Dort ist auch zu lesen, dass die Leiter der Statistikbehörde vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt werden. Festgelegt ist ebenso, dass das Statistische Bundesamt «seine Aufgaben nach den Anforderungen der fachlich zuständigen Bundesministerien» erfüllt. Damit ist der politische Einfluss auf die vermeintlich unabhängigen Statistiken per Gesetz gegeben und insofern wenig verwunderlich.
Das Statistische Bundesamt begründet laut RND die Umstellung mit einer EU-weiten Vergleichbarkeit. Bei der nunmehr angewandten Methode würden die Einkommensarten jeweils einzeln und ausführlich abgefragt, statt nur als Gesamtsumme. Damit könne im Vergleich zu bisher vermieden werden, dass Einkommen, die nicht aus Erwerbsarbeit stammen, unberücksichtigt blieben, so zum Beispiel staatliche Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, BAföG, Pflegegeld oder Wohngeld.
Dass die Regierung die Armut, die auch ihrer Politik geschuldet ist, kleingerechnet sehen will, wenn sie diese schon nicht ignorieren kann, ist nicht überraschend. In Deutschland gilt als offiziell «armutsgefährdet», wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat. Diese Grenze lag 2024 für Alleinlebende bei 1.378 Euro und für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.893 Euro. Das betraf offiziell rund 13,1 Millionen Menschen.
Laut RND ist die Zahl der «von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten» Menschen mit derzeit rund 17,6 Millionen Menschen noch deutlich höher. Wie viele Menschen tatsächlich von nicht ausreichendem Einkommen leben müssen, zeigte eine Destatis-Meldung vom 24. Juni dieses Jahres. Danach kann etwa jede fünfte Person in Deutschland sich keinen einwöchigen Urlaub leisten.
Als besonders von Armut bedroht und betroffen gelten Arbeitslose, Alleinerziehende, schlecht Ausgebildete sowie Familien mit vielen Kindern. Zunehmend wird auch vor den Folgen der steigenden Pflegekosten gewarnt. Die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt, sieht die Pflege als «Armutsfalle», wenn mancherorts Pflegebedürftige mehr als 4.000 Euro pro Monat zuzahlen müssen.
Zudem gibt es in Deutschland regionale Unterschiede, was sich insbesondere an vergleichsweise geringeren Einkommen und Vermögen in Ostdeutschland zeigt. Zwar seien dort die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten geringer als im Westteil des Landes, aber das gleiche das Gefälle nicht aus, heißt es im RND-Bericht. Zugleich gibt es auch im Westen regionale Unterschiede, so hat Bremen bundesweit die höchste Armutsquote.
Laut dem im April 2025 vorgestellten «Armutsbericht 2025» des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, sind einkommensarme Menschen in den vergangenen Jahren ärmer geworden. Danach lag das mittlere Einkommen von Personen unterhalb der Armutsgrenze im Jahr 2020 noch bei 981 Euro im Monat, während es im Jahr 2024 preisbereinigt nur noch 921 Euro betrug. «Die Armen werden ärmer», erklärte demnach Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.
«Die Kaufkraftverluste der vergangenen Jahre verschärfen die ohnehin schon schwierige finanzielle Lage von Millionen Betroffenen.»
Insgesamt müssen 2024 dem neuen Armutsbericht zufolge 15,5 Prozent der Bevölkerung zu den Armen gezählt werden – nach der offiziellen Berechnung. Die Armutsquote stieg demnach um 1,1 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr an. Der Bericht des Paritätischen weist darauf hin, dass von Armut auch junge Erwachsene und Rentner betroffen seien, wobei die Altersarmut stark weiblich geprägt sei.
Ebenso wird auf die Zahl derer hingewiesen, «die in erheblicher materieller Entbehrung leben»: 5,2 Millionen Menschen – darunter 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,2 Millionen Vollzeiterwerbstätige – können sich demnach etwa nicht leisten, die Wohnung warm zu halten oder alte Kleidung zu ersetzen.
Die hohen Wohnkosten tragen zur wachsenden Armut bei, erklärte der Sozialforscher Christoph Butterwegge in einem Interview im Dezember 2024. Es werde meist nur auf das Einkommen geschaut, ohne zu berücksichtigen, was schon für das Wohnen abfließe, sagte er.
«Auch die Energie-Armut nimmt zu, die Ernährungs-Armut, denn auch da sind die Preise deutlich gestiegen.»
Wer auch noch eine neue Wohnung brauche und entsprechend höhere Wohnkosten habe, gerate «dann erst recht unter Druck», so Butterwegge gegenüber dem Sender RBB24. Viele Menschen müssten mittlerweile 40 oder 50 Prozent ihres Einkommens in die Miete stecken.