Die Geschichte wiederholt sich nicht. Selbstverständlich kann man nicht aufgrund von Vorkommnissen in der Vergangenheit Rückschlüsse auf die Zukunft ziehen. Aber mit den richtigen Fragen von heute kann die Vergangenheit interpretiert werden, und es lassen sich mit der gebotenen Vorsicht gewisse Lehren ziehen. Auch in Bezug auf die Neutralität. Dieses außenpolitische Konzept ist über die Jahrhunderte immer wieder in Verruf geraten. Dennoch wenden es viele Länder bis heute mit Erfolg an.
Die Neutralität der Schweiz – im Kalten Krieg und darüber hinaus für Jahrzehnte in West und Ost unbestritten – gerät seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt unter Druck. Es sind vor allem zwei Argumente:
- Die Schweiz sei ein «sicherheitspolitisches Vakuum». Da sie nicht in die Nato-Struktur eingebunden sei, würde sie aus der Reihe tanzen.
- Der Angriff auf die Ukraine bedürfe der Solidarität. Kiew müsse man mit Waffen beistehen. Die Neutralität, die das nicht zulasse, sei da hinderlich und würde Neutrale zu Komplizen Russlands machen.
Das erste Argument leuchtet nur dann ein, wenn man in der Nato eine lediglich sehr defensive, auf reine Verteidigung angelegte Organisation sieht. Aber nach den zahlreichen Völkerrechtsverletzungen von Ländern, die dieser Organisation angehören, würde eine Einbindung eines Neutralen dazu führen, dass dieser aufgrund der Beistandsverpflichtung in einen Krieg hineingezogen werden kann, aus dem er sich, wenn er neutral bliebe, heraushalten kann. Es hat aus Nato-Sicht eine gewisse Logik, aber aus Schweizer sicht führt es zu einer großen Einengung des Handlungsspielraums.
Das zweite Argument wäre dann verständlich, wenn man allen Völkerrechtsverletzungen mit gleicher Vehemenz entgegentreten würde. Das tut man aber nicht. Im Gegenteil: Heute ist unbestritten, dass der US-Angriff auf den Irak eine Völkerrechtsverletzung darstellte und die angeführte Begründung, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, auf einer Lüge beruhte. Ende 2023 griff Aserbaidschan die armenische Enklave Bergkarabach an und vertrieb etwa 120.000 Armenier von der angestammten Scholle. Im Westen ist aber Aserbaidschan immer noch als Rohstofflieferant wohlgelitten. An Baku und seinem Waffenbruder Türkei wird kaum Kritik geübt.
Damit ist klar, dass politisch entschieden wird, ob einer Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzung entgegengetreten wird – und zwar sehr selektiv. Damit ist ein Neutraler auch hier gut beraten, sich weiterhin an die Haager Landkriegsordnung zu halten, die es ihm verbietet, einen Kriegsführenden einseitig militärisch zu begünstigen, und es gebietet, sich bei der außenpolitischen Kommunikation am Völkerrecht zu orientieren.
Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Schweiz seit 500 Jahren mit diesem Konzept gut fährt. Man sprach zwar ursprünglich noch nicht von Neutralität, aber das Prinzip war das Gleiche. Bereits während des Dreißigjährigen Krieges blühte die Schweiz, während Europa sonst verwüstet wurde. Und bereits damals wurden die Vorwürfe laut, die Schweiz sei ein Kriegsgewinnler. Der Erfolg wurde gekrönt, indem im Frieden von Münster und Osnabrück die Neutralität ausdrücklich bestätigt und die Unabhängigkeit der Schweiz diplomatisch anerkannt wurde. Nach dem Schweizer Verhandlungsführer, dem damaligen Basler Bürgermeister Wettstein, wurde eine große Rheinbrücke benannt.
Diese Friedensordnung bestand bis zu den Napoleonischen Kriegen. In der Schweiz gab es kriegerische Auseinandersetzungen – aber es handelte sich dabei um Glaubenskriege zwischen verschiedenen Kantonen. Außenpolitisch wurde die Schweiz nicht bedroht. Ein wichtiger Exportartikel – Soldaten. Schweizer Regimenter kämpften an allen Fronten, aber nicht gratis («pas d’argent, pas des Suisses», sagte der Sonnenkönig), und die Heimat blieb friedlich. So konnte die Schweiz im Bedarfsfall auf kampferprobte Truppen zurückgreifen, was sie aber bis 1798 nicht musste.
Die große Ausnahme waren die Napoleonischen Kriege, in die die Schweiz übel hineingezogen wurde. Es darf aber nicht vergessen werden, dass das zum Teil durch eigenes Unvermögen geschah. Die Franzosen bewegten sich in einer Zangenbewegung von Nordwesten und Südwesten auf Bern zu. Im Großen Rat wurde aber bis zum letzten Moment darüber gestritten, ob sich Widerstand lohnen würde. Im Süden gewannen dann die Schweizer Truppen die Schlacht, während sie im Norden eine schmerzende Niederlage einfuhren. Das verdeckt aber, dass die Franzosen mit größerer Entschlusskraft durchaus zu schlagen gewesen wären.
Nun wurde die Schweiz gezwungen, beim Hegemonieversuch Napoleons mitzumachen; Schweizer Truppen wurden in die Grande Armée eingezogen. Nur ein kleiner Teil kehrte zurück. Geschichten über das Schicksal der Schweizer Truppen haben sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der Schweiz eingebrannt.
Bei der Friedensordnung von Wien (1815) wurde die Schweiz dann ausdrücklich wieder als neutral bezeichnet, mehr noch: Die Neutralität wurde als im Interesse des europäischen Gleichgewichts bezeichnet. Wenn man vom kurzen, aber politisch folgenreichen Sonderbundskrieg (1848) absieht, ist die Schweiz seit der napoleonischen Zeit unversehrt geblieben – bis zum heutigen Tag. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Neutralität in den Pariser Vorortsverträgen erneut bestätigt, und sie ruht völkerrechtlich seit dem Abschluss der Haager Landkriegsordnung (1907) auf dieser Konvention.
In der Zwischenkriegszeit verfügte die Schweiz mit Giuseppe Motta (katholisch-konservativ, heute Mitte/Tessin) über einen erfahrenen und versierten Außenpolitiker. Er führte die Schweiz in den Völkerbund, zog dann aber im richtigen Moment die Reißleine. 1936 machte die Schweiz bei den Völkerbundsanktionen gegen Italien nicht mit. Gegenüber Mussolini, aber auch gegenüber der Sowjetunion konnte er eine sehr deutliche Sprache sprechen. Leider verstarb er 1940 im Amt, und die Fehler und kommunikativen Patzer seines Nachfolgers Marcel Pilet-Golaz (FDP/VD) mussten andere ausbügeln, nicht zuletzt der Armeechef, General Guisan (VD) und der bis heute verkannte und unterschätzte Wirtschaftsminister Walther Stampfli (FDP/SO).
Die Frage, warum die Schweiz unversehrt den 2. Weltkrieg überstand, ist bis heute umstritten. Eigentlich erstaunlich. Die Fakten waren schon in den 80er Jahren klar. Seither ist viel geforscht worden, auch staatlich gefördert und gelenkt, aber es ist kaum etwas aufgetaucht, was das Geschichtsbild und das, was wir nicht schon wussten, komplett umstoßen würde.
Wer eine einzige Ursache sucht, wird zwangsläufig scheitern. Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft? Pragmatismus? Hartes Verhandeln und gleichzeitig Flexibilität, Ausnutzen der geostrategischen Position (Alpenpässe); das alles spielte eine Rolle. Wichtig zu wissen ist, dass die Neutralität als außenpolitische Maxime hier als Richtschnur diente und letztlich erfolgreich war.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Schweiz nicht wirklich eine Ausnahme war. Anfang des Zweiten Weltkriegs gab es eine ganze Reihe von neutralen Ländern. Erwähnt wird heute immer, dass Holland, Belgien und Luxemburg überfallen wurden. Das ist richtig. Deutschland hatte ein geostrategisches Interesse, die Länder sind schwer zu verteidigen, und Hitler konnte überlegene Kräfte mobilisieren.
Aber es gibt auch die Gegenbeispiele. Spanien, Portugal, Irland, Schweden, aber auch die Türkei und einige andere außereuropäische Länder waren neutral und blieben unversehrt.
Schweden lieferte über den geostrategisch wichtigen, deutsch besetzten Hafen Narvik in Norwegen, das kriegswichtige Eisenerz, hatte geostrategisch eine weniger wichtige Position und wurde in Ruhe gelassen.
Insbesondere Spanien, aber auch Portugal sympathisierten zwar mit dem Hitler-Regime, blieben aber trotzdem neutral und unversehrt. Sie hatten Zugang zu den Weltmeeren und waren eine Handelsdrehscheibe. Vor allem Portugal hatte damals noch ein weitläufiges Kolonialreich mit einem regen Handel. Sie gerieten deshalb nie wirklich in den Fokus.
Irland ist abseits gelegen. Großbritannien hätte es aber gerne gesehen, wenn das Land auf seiner Seite in den Krieg eingetreten wäre. Dublin konnte aber erfolgreich widerstehen. Dennoch gab es eine Reihe von geheimen militärischen und geheimdienstlichen Kooperationen mit den Alliierten. Wichtig waren vor allem der Hafen von Limerick und der in unmittelbarer Nähe gelegene Flughafen Shannon zum Umschlag von kriegswichtigen Gütern, wenn der direkte Weg von den USA nach Großbritannien ohne Versorgungsstopp zu lange war.
Irland hat damit seine geostrategische Position in die Waagschale geworfen. Es hat zwar das Neutralitätsrecht geritzt – wie auch die Schweiz –, kam aber unversehrt durch.
Dass ein neutraler Staat wie die Schweiz heil durch einen Krieg kommt, ist beileibe keine Ausnahme. Die Neutralität legt ihm keine Fesseln an, im Gegenteil: Mit einem Schuss Pragmatismus gehandhabt, ist dieses Konzept zukunftsweisend. Selbstverständlich kommt es auf die konkreten Umstände an.
Die oben genannten Beispiele zeigen aber, dass eine Neutralitätspolitik Erfolg hat, wenn ein gewisser innenpolitischer Konsens in Bezug auf Außenpolitik besteht. Im Zweiten Weltkrieg hätten zum Beispiel Österreich und die Tschechoslowakei eine Neutralitätspolitik nicht mit Aussicht auf Erfolg durchziehen können, weil es große Differenzen in Bezug auf die außenpolitische Orientierung gab. Und selbstverständlich muss die Neutralität bewaffnet sein, und es muss klar sein, dass die Armee im Notfall auch eingesetzt wird und ein möglicher Aggressor das Land nicht gratis erhält. Dann kann eine pragmatische, aber am Völkerrecht orientierte Neutralitätspolitik im Krisen- und Kriegsfall auch in Zukunft greifen.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben sich in der Schweiz in Bezug auf die Neutralität Differenzen ergeben. Eine Zustimmung zur Neutralitätsinitiative wäre die Gelegenheit, hier die Fronten wieder zu schließen.
Der Autor dieses Beitrags ist Vorstandsmitglied der Bewegung für Neutralität bene.swiss. Eine Version dieses Artikels ist bereits auf deren Plattform erschienen.