Wer dem weissen Kaninchen folgt, sieht das Wunderland mit anderen Augen!
Alice im Wunderland
Welchem Kaninchen (oder Krokodilen) wird Südafrika nach den Wahlen im Mai dieses Jahres folgen? Erstmals besteht die Möglichkeit seit 1994 (erste freie und demokratische Wahlen), dass der ANC (African National Congress, gegründet 1912, verboten 1960-1990) die 50%-Hürde nicht schafft, um alleine weiter zu regieren. Neues Regierungsblut täte dem stagnierenden Land sehr gut.
Denn gerade bei den bei den letzten beiden Wahlen hatte man als Beobachter den Eindruck, dass sich die südafrikanischen Wähler, insbesondere die deutliche schwarze Mehrheit, wie in einem Stockholm-Syndrom* mit dem ANC gefangen sieht: Irgendwie kann man doch gar nicht anders, als diejenigen zu wählen, die einem 1990 und die Jahre davor aus den Fängen der Apartheid befreit haben, auch wenn viele dieser alten Kämpen nicht mehr aktiv oder gar am Leben sind.
Allerdings gibt es auch unerfreuliche Koalitionsszenarien, sollte der ANC die 50% nicht schaffen. Wir werden auf diese in einem zweiten Teil eingehen, zuerst aber eine Bestandesaufnahme dieses so grossartigen Landes.
Die Probleme eines nie ganz erwachsen gewordenen Postapartheid-Südafrikas lassen sich in vier Hauptkategorien zusammenfassen:
- 1. Wirtschaft
- 2. Staatsbetriebe und Korruption
- 3. Kriminalität versus Sicherheit
- 4. Bildung
1. Wirtschaft
Wuchs die Wirtschaft, insbesondere zur Präsidialzeit von Mandela-Nachfolger Thabo Mbeki (1998-2008) um teilweise 6% pro Jahr und schuf damit auch viele Arbeitsplätze, stagniert sie seit der Regentschaft seines Nachfolgers Jacob Zuma (2009-2017). Auch Cyrill Ramaphosa, selbst Milliardär, auf dem die Hoffnungen der Wirtschaft ruhten, konnte bisher das Steuer nicht herumreissen. Der Friede im gespaltenen ANC ist ihm wichtiger als greifende Reformen und die Bekämpfung der Korruption: Es gab Jahre, da war das Wachstum unter 1%, selten aber über 2%. Damit gehen Arbeitsplätze im Zeitalter der Automatisation und Digitalisierung verloren.
Betrug der südafrikanische Durchschnittslohn 1960 in tiefster Apartheid-Zeit 107% des weltweiten Durchschnittlohns (andere Subsahara-Staaten 30%!), sank er in Südafrika im Jahre 2021 auf 54% (andere Subsahara-Staaten auf 15%).
Die Arbeitslosigkeit beträgt aktuell 42,6% (bei unter 25jährigen 60%), die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich seit 2012 verdoppelt. 17 von 60 Millionen leben von sogenannten social grants, also von der öffentlichen Hand.
Ausländische Investitionen sind nicht nur wegen der gigantischen Energiekrise (siehe unter 2. Staatsbetriebe und Korruption) rückläufig: Das ständige Zündeln mit der Landreform, die nichts anders ist als eine Grundbesitzenteignung ohne jegliche Kompensation («Expropriation without Compensation») schreckt jeden klar denkenden Investor ab, da er sich jeden Moment um seinem Besitz geprellt sehen kann. Auch Präsident Ramaphosa äussert sich zur «Landreform» nur fuzzy-wuzzy-mässig, auf jeden Fall alles andere als klar und deutlich.
Zudem ist Südafrika auf ausländisches Geld angewiesen. Die Sparquote der Südafrikaner ist sehr gering. Die Südafrikaner geben Geld aus, als gäbe es kein Morgen, die Sparquote sinkt seit 20 Jahren. Gemäss dem STANLIB Savings Report haben nur Zimbabwe, Venezuela, Ägypten, Griechenland, Kenya und Namibia eine tiefere Sparquote. Zudem ist Südafrika von den grossen Rating Agenturen auf «Junk Status» reduziert worden – die Aufnahme von Geld kostet viel Geld!
2. Staatsbetriebe und Korruption
Nirgends ist die Korruption so grassierend wie bei den sogenannten SOE, den State owned enterprises (Staatsbetrieben), allen voran bei Eskom, der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft. Es mag als unwahrscheinlich erscheinen, dass Eskom 2001 zum besten Energieverteiler weltweit gekürt wurde.
Mittlerweile vergeht seit zwei Jahren kein Tag, an dem Strom nicht für Stunden im ganzen Land unterbrochen wird (natürlich zu unterschiedlichen Zeiten). Dafür hat man sogar den euphemistischen Begriff des «Loadshedding» (in etwa mit Spannungsverlust zu übersetzen) kreiert. Auch der Schreibende hat eine App, auf welcher er am Vortag sehen kann, wann für wie lange und oft in seinem Bezirk der Strom unterbrochen wird.
Die Gründe für diese Entwicklung sind mannigfaltig, im Vordergrund stehen Vernachlässigung der Infrastruktur, nepotistische Personalpolitik mit entsprechender Korruption und eine offiziell existierende Kohlemafia: Es kann schon mal vorkommen, dass an einem Tag (oder besser in einer Nacht!) 2000 (zweitausend) Tonnen Kohle nicht an ihren Kraftwerkdestinationen eintreffen (das entspricht etwa 60 Lastwagen) und/oder grosse Teile der Kohle durch Steine «ersetzt» werden. Gwente Mantashe, der Energieminister (ANC) widersetzt sich zudem der grossräumigen Einführung anderer Energien wie Gas, Sonne oder Atomstrom. Er bezeichnet sich sogar öffentlich (und mit Stolz!) als Kohlefundamentalist.
In der Zeit zwischen 1970 und 1989 wurden 19 Kraftwerke gebaut, danach noch zwei wesentliche (Kusile und Medupi), beide mit gigantisch verzögerter Fertigstellung. In den 80er Jahren hatte Südafrika eine Kapazität von 40’000 Megawatt, aktuell effektiv noch von 27’000. Die direkten Kosten für die Wirtschaft sind durch Stromausfälle auf 600 Milliarden Rand zu beziffern – circa 28 Milliarden Franken (Quelle CSIR – Council for Scientific and Industrial Research).
Gemäss dem CEO des Bureaus of Economic Research, Hugo Pienaar, kostet jede Stunde Stromausfall von Montag bis Freitag 500 Millionen Rand (ca. 23 Millionen Franken). Darin sind, wie man neuerdings sagt und schreibt, die kollateralen Kosten nicht inkludiert – oder wie soll man ein durch nicht funktionierende Infrastruktur (Spitäler, Rettungsdienste, Polizei, Transport etc.) Menschenleben beziffern?
Transnet (Eisenbahn und Häfen) ist als SOE ebenfalls am Boden. Viele Produkte aus den Minen kommen so nicht mehr auf die Schiene und zum Exporthafen in Richards Bay. 1960 hatte die Republik Südafrika das elftgrösste Schienennetz weltweit mit knapp 31’000 Kilometern. Das im Rahmen des NDP (National Development Plan) ausbedungene Konzept «from Road to Rail» (von der Strasse auf die Schiene) ist krachend gescheitert.
South African Post Office funktioniert kaum noch. Wichtige Briefe oder Kleingüter werden per DHL et al. transportiert. South African Airways (SAA), eine einst stolze Fluggesellschaft, mit der ich oft von Frankfurt nach Kapstadt und zurück geflogen bin, ist noch ein wenig bedeutender lokaler Carrier.
Wer versucht, mit der Korruption aufzuräumen, wie der im Februar 2023 entlassene CEO von Eskom, André der Ruyter, der in 18 Monaten deren Schulden um mehr als 20% zu reduzieren vermochte, wird auch schon mal mit Zyanid vergiftet. Er überlebte knapp und ging dann an die Öffentlichkeit, unter anderem mit einem Interview bei Annika Larsen. Oder mit dem Buch «Truth to Power – my three years inside Eskom». Das war dann sein Entlassungsurteil.
3. Kriminalität und Sicherheit
Nur in den letzten drei Monaten des Jahres 2022 sind in ganz Südafrika 7555 Menschen ermordet worden. Gemäss UNO sind im ersten Jahr des Ukrainisch-Russischen Kriegs 7199 Zivilisten gestorben (Ukraine Casulty update UN 13.2.2023). Im ganzen 2022 wurden in Südafrika 11’000 Menschen umgebracht, mehr als 30 pro Tag! Ein Auftragsmord ist für knapp 3000 Rand (150 Franken) zu haben. Seit 2012 steigen die Zahlen stetig. Das organisierte Verbrechen (Kohle, Taxiindustrie, Drogen) führt aufgrund der hochkorrupten Behörden ein Herrenleben. Die einzig wirklich effektive Einheit, die Scorpions, wurden von Jacob Zuma abgeschafft. Sie hatten ihren Nasen zu viel bei ihm und seinen Günstlingen reingesteckt.
4. Bildung
Gewissen Schulen mangelt es nicht nur an Büchern und Heften, sondern auch an Toiletten – es gibt dort noch Latrinen. 81% der Schüler können nach vier Jahren nicht den einfachsten Text lesen und verstehen. Gemäss TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Studies) belegt Südafrika unter 40 Ländern weltweit den vorletzten, bei den nichtmathematisch-wissenschaftlichen Fächern den stolzen letzten Platz. Das Unglaubliche daran ist, dass Südafrika zum Beispiel doppelt so viel ausgibt wie Russland, das allerdings die Plätze sechs und drei belegt. Auch bei der Vergabe von Lehrerstellen wäscht eine ANC-Hand die andere …
Zum Schluss des ersten Teils noch eine Pointe, sogar zum Schmunzeln, wenn es nicht so bitter wäre:
Die Partei DA (Democratic Alliance), die bei uns im Western Cape die Provinz-Regierung stellt, hat gemäss dem Auditor-General-Report (so was wie ein Geschäftsprüfungsbericht auf kommunaler Ebene) bei 73% der geprüften Gemeinden (22 von 30) einen sogenannten Clean Sheet (nichts zu beanstanden) bekommen. In den anderen acht Provinzen (vorwiegend ANC-dominiert) waren es 8% der Gemeinden (19 von 227).
Südafrika steht nicht nur vor neuen Wahlen, sondern vor einer schicksalsträchtigen Zeit. Die nächsten Monate und vielleicht ein, zwei Jahre werden richtungsweisend werden.
Wohin könnte die Reise Südafrikas gehen? Davon mehr im nächsten Newsletter/Mittwochskommentar!
PS: Viele, die noch nie im südlichen Afrika waren, werden sich vielleicht die Frage stellen: Wie kann man freiwillig immer wieder in ein solches Land zurückkehren oder gar dort leben? Eine wirklich rationale Antwort gibt es darauf nicht. Am ehesten hatte diese Ernest Hemingway:
«If I ever have seen magic, it has been in Southern Africa». Tja …
*Stockholm-Syndrom: Unter dem Stockholm-Syndrom wird ein psychologisches Phänomen verstanden, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies könne dazu führen, dass die Opfer mit den Tätern sympathisieren und mit ihnen kooperieren.
Der Begriff Stockholm-Syndrom, der als Syndrom in einschlägigen medizinisch-diagnostischen Klassifikationssystemen wie dem ICD-11 nicht verzeichnet ist, geht auf die Geiselnahme am Norrmalmstorg vom 23. bis 28. August 1973 in der schwedischen Hauptstadt Stockholm zurück, [1] die seinerzeit in den «Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung» geriet. (Wikipedia)
Bei dem Überfall auf die Schwedische Kreditbank im Zentrum der Stadt wurden vier der Angestellten als Geiseln genommen. In den folgenden 131 Stunden der Geiselnahme sei zum ersten Mal, so das Nachrichtenmagazin Spiegel im Jahr 2016 unter dem Titel «Die Geburt des Stockholm-Syndroms» – «über einen schwedischen Kriminalfall quasi live berichtet» worden. Die Geiseln begannen, eine fast freundschaftliche Beziehung zu den Tätern entwickeln.
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Dies ist der Newsletter von Marco Caimi, Arzt, Kabarettist, Publizist und Aktivist. Aus Zensurgründen präsentiert er seine Recherchen nebst seinem YouTube-Kanal Caimi Report auf seiner Website marcocaimi.ch. Caimis Newsletter können Sie hier abonnieren.