Der deutsche Historiker Kiran Klaus Patel präsentiert mit «Europäische Integration» eine knappe und dichte Darstellung der Geschichte des europäischen Einigungsprojektes seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Integrationsgeschichte beginnt mit den ersten zwecks nationalstaatlicher Kooperation gegründeten Organisationen auf dem europäischen Kontinent nach 1945 und schliesst in der Gegenwart mit einer Europäischen Union (EU), die vor allem versuche, Erreichtes zu konservieren.
Ausserdem stellt Patel die These auf, dass die EU sich zunehmend von einem Freiheits- zu einem Sicherungsprojekt transformiert hat. Patel untersucht, weshalb sich die Europäische Gemeinschaft (EG, später EU) als dominante Organisation durchgesetzt hat.
Zweiter Weltkrieg: Durchbruch für europäische Kooperation
In der Antike diente der Begriff «Europa» lediglich als mythologischer und geografischer Referenzwert. Noch bis ins 19. Jahrhundert blieben Vorstellungen eines geeinten Europas nebensächlich. Durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wurden besonders wirtschaftliche und politische Einigungsideen greifbarer, die jedoch elitär blieben. Patel zieht hier Graf Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union als Beispiel heran.
Der Zweite Weltkrieg hat für Patel den Durchbruch für die europäische Kooperation markiert. Die Zerstörungen delegitimierten einen überzogenen Nationalismus und erforderten einen Wiederaufbau. Ein Zusammenschluss schien erstmals eine ernsthafte Option zu werden.
Laut Patel gab es dazu vier Motive: 1. Friedenssicherung; 2. Lösung der deutschen Frage; 3. Wohlstandsgewinn; 4. Selbstbehauptung Europas in der neuen weltpolitischen Bipolarität. Verflechtung sollte gegenüber neuen Kriegsgelüsten präventiv wirken. Aus diesen Überzeugungen entstanden konkurrierende Organisationen: zum Beispiel 1947 die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) oder 1948 der von den USA initiierte Marshall-Plan.
Man profitierte von früheren Erfahrungen der internationalen Kooperation (z.B. Postwesen, Telegrafnetz), doch eine supranationale Abtretung der nationalen Souveränität war in vielen Ländern nicht mehrheitsfähig – vor allem in sensiblen Bereichen ist dies bis heute so geblieben.
Die UNECE hat sich gemäss Patel bald als nicht zukunftsfähig für eine europäische Lösung erwiesen, denn die beteiligten Siegermächte standen sich im Kalten Krieg gegenüber. Mehr noch: Europa wurde in eine transatlantische Kooperation hineingedrückt, da der Kontinent nach dem Krieg für eine eigene weltpolitische Positionierung zu schwach war.
Die USA wurden durch ihre Sicherheitsgarantie zum Hegemon in Westeuropa, so Patel. Ein erfolgreicherer Neuanlauf sieht er in der Schuman-Erklärung von 1950 mit der Idee, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu gründen (EGKS, Gründung 1951 mit 6 Ländern), wobei weder UNECE, Europarat, OEEC oder WEU aufgelöst wurden.
Die Friedensfrage wurde dabei mit dem für Aufrüstung zentralen Wirtschaftszweig verknüpft. Die gleichzeitige Aussicht auf eine gleichberechtigte französisch-deutsche Partnerschaft nur wenige Jahre nach Kriegsende war innovativ.
Doch auch die EGKS lebte nur kurz: Antworten auf die Kohlekrise wurden national gesucht. Wie Patel mehrfach veranschaulicht, ist es typisch für den Integrationsprozess, dass die Realpolitik sich mächtiger als Vertragswerke erweist. Doch auf Krisen folgten stets Einigungsversuche. Patel sieht darin keinen Masterplan, eher eine Mischung aus visionärem Denken und konsensorientiertem Pragmatismus.
Neue Versuche
Die Römischen Verträge 1957 stellten einen neuen Konsolidierungsversuch dar. Es wurden Kompromisse in weniger sensiblen Bereichen staatlichen Handelns gesucht (z.B. Binnenmarkt und Energie), die konsensfähiger waren. So wurden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) eingerichtet. Diese Institutionen gingen mit der EGKS in der EG auf, wie mit dem Maastrichter Vertrag 1992 beschlossen wurde.
Die EG wurde trotz hoher Erwartungen und Ausrichtungsstreitigkeiten eine tragende Säule der neuen EU und 2009 mit dem Vertrag von Lissabon aufgelöst. Die EWG erwies sich nicht zufällig als Zugpferd der Integration. Die freie Zirkulation von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital fiel in die Phase des Nachkriegsbooms; man konnte sich politische Projekte leisten. Mit der EWG verfügte Europa auch über ein gemeinsames Instrument auf globaler Ebene (Bsp.: GATT-Verhandlungen).
So entwickelte sich die EG laut Patel in den 1970er- und 80er Jahren zur systemisch bedeutsamen Macht, begünstigt durch neue Regierungskonstellationen in den Schlüsselländern Frankreich und Deutschland. Der Haager Gipfel 1969 sollte den Markt vollenden sowie die Politikfelder der EG erweitern und bestehende (z.B. Handelspolitik) vertiefen. Die EG verkörperte immer mehr die Gesamtidee der europäischen Kooperation.
In den späten 1980er Jahren wurde die wirtschaftliche Kooperation massiv vorangetrieben, vor allem durch den französischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Zuvor hatte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit der Cassis-de-Dijon-Entscheidung 1979 entscheidend dazu beigetragen, Handelsbarrieren abzubauen. Folgerichtig war der Binnenmarkt beim ersten grossen Reformvertrag seit 30 Jahren (Einheitliche Europäische Akte, 1987) eines der wichtigsten Anliegen.
Für die Durchschlagskraft der EG sprachen laut Patel folgende Gründe: 1. Die Markt- und Zollunion beeinflusste zahlreiche weitere Bereiche wie Konsumfragen, Berufsausbildung oder Sozialpolitik; 2. Eine verglichen mit den anderen Organisationen verbindliche Rechtskultur; 3. Mehr Finanzressourcen. Zudem wurde die EG in den 1970er- und 80er Jahren normativ aktiv.
Die Süderweiterungsrunde betraf mit Griechenland, Portugal und Spanien Länder mit kürzlich abgeworfenen Diktaturen – Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wurden zu gemeinsamen Werten, was auch für die Ost-Staaten nach dem Ende des Eisernen Vorhangs galt.
Die Auflösung der Sowjetunion veränderte die weltpolitische Lage rasch und erhöhte den Reformdruck auf die EG – als Reaktion wurde der Maastrichter Vertrag 1992 beschlossen, aus dem die EU hervorging. Damit ist der Argumentationsstrang von Patel abgeschlossen und die Untersuchungsfrage beantwortet.
Von der Euphorie zur Abschottung
Das Ende des Kalten Krieges und der Vertrag von Maastricht schürten neue Euphorie. Durch die Schengener Grenzöffnung konkretisierte sich das europäische «Freiheitsprojekt» (S. 61) immer weiter. 2007 wurden ehemalige Ostländer in die EU aufgenommen. Doch ab Ende der 2000er Jahre schlug die Marschrichtung gemäss Patel um und die EU wurde ein «Sicherungsprojekt».
Die Krisenintervalle verkürzten sich, die Schattenseiten der Globalisierung wurden sichtbarer. Fortan galt es, das Erreichte zu bewahren. Wegen der Finanzkrise 2007 – von den USA ausgehend – entwickelte sich in mehreren Ländern eine akute Banken- und Staatsschuldenkrise. Echte Reformen blieben aus, der finanzkapitalistische Status quo sollte durch Austeritätspolitik gerettet werden.
So klar wie selten zuvor war zu sehen, dass die Integration Gewinner und Verlierer hervorbringt. Die Zustimmung zum Einigungsprozess schwand.
Auch im Bereich Migration und Asyl galt speziell ab 2015 aufgrund mangelnder Regelungen: sichern und abschotten. Nationale Alleingänge kompensierten eine kaum koordinierte EU, die Grenze erhielt ihre verschwunden geglaubte Bedeutung zurück. Unterschiedliche Lösungsansätze in Finanz- und Migrationsfragen spalteten die EU.
Der Brexit 2016 unterstrich einerseits, dass Integration nicht die einzige Marschrichtung darstellt, andererseits war es eine weitere Krise, welche die EU paradoxerweise stärkte. In das Bild des Sicherungsprojekts passt eine erst am 8. Juni 2023 von den EU-Innenministern beschlossene Verschärfung der Asylgesetze.
Die Lektüre von Patel lässt den Schluss zu, dass das «Freiheitsprojekt» besonders eines der Wirtschaftsliberalisierung war, wohingegen das «Sicherungsprojekt» versucht, sich in einer multipolaren Welt mit aufstrebenden Machtplayern wie China zu behaupten.
Patel streicht hervorragend heraus, was den gesamten Integrationsprozess begleitet: Es wird schrittweise aus- und umgebaut, die Akteure lernen und verhandeln, vieles bleibt informell und unvollständig, Krisen offenbaren Schwächen und erzwingen Lösungen. Patel charakterisiert die EU deshalb als «Kompromiss- und Ermöglichungsmaschine» (S. 118).
Er veranschaulicht an vielen Beispielen auch Zielkonflikte im Einigungsprozess, wo nationale Eigeninteressen häufig mit Gemeinschaftsinteressen kollidieren. So pochten die hoch verschuldeten Länder im Zuge der Finanzkrise 2007 auf eine Schuldengemeinschaft, was nicht erwidert wurde. In dieser Phase unterspülte die EU ihre Grundsätze mehrfach. So wurde die Sparpolitik unter neoliberalem Geist mit Technokratie und Demokratiedefizit umgesetzt (hier sind US-Einflüsse des Washington Consensus erkennbar).
Massnahmen zur Banken- und Staatsrettung verstiessen gegen Maastrichter Kriterien oder die No-Bailout-Klausel. Hier kontrastiert Patel wiederum die konkreten Auswirkungen der grossen Vorgänge: Banken wurden gerettet, aber dem Kleinbürger in Griechenland wurde die Rente gekürzt.
Notorisches Demokratiedefizit
In diesen Zusammenhang passt die neoliberale Gesinnung des Euros. Er sollte den Wettbewerbsdruck erhöhen und Unternehmen im globalen Kontext kompetitiver machen. Politischer Wille war wichtiger als ökonomische Realität. So konnten viele Länder die Haushaltskriterien nicht einhalten und operierten mit geschönten Zahlen.
Wieder zeigt Patel ein Paradox auf: Obwohl die Währungsunion nationaler Souveränitätsverlust bedeutete, schien der Euro für viele vorteilhaft, denn er brach die Dominanz der D-Mark, harmonisierte den Handel und die Staaten konnten sich über die Finanzmärkte günstiger finanzieren, was die EU wiederum unabhängiger vom Dollar und den USA machte. Doch der Euro war wie viele EU-Projekte elitär.
So ist es nicht verwunderlich, dass Europa für viele Menschen lange kaum eine Rolle spielte: Sie wurden auch nicht dazu befragt. In diesem notorischen Demokratiedefizit, insofern ist Patel zuzustimmen, liegt «der Ursprung von Problemen […], welche den Einigungsprozess später […] belasten sollten.» (S. 26)
Patel versteht es, auf den Integrationsprozess wirkende externe Faktoren miteinzubeziehen. Egal ob Koreakrieg, Suezkrise, das Ende der Sowjetunion oder die deutsche Einheit: Stets beschleunigten aussergewöhnliche Ereignisse europäische Weiterentwicklungen. Schade, dass hier das Verhältnis EU-Russland ausgespart wird.
Im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik (z.B. Standards für brasilianischen Honig, S. 72) hatte die Aussen- und Sicherheitspolitik der EU kaum globale Auswirkungen. Fragen zur Positionierung etwa beim Arabischen Frühling oder zur Ukraine spalteten die EU und offenbarten ihre Unbedarftheit in geopolitischen Angelegenheiten.
Die gemeinsame Sicherheitspolitik war schon immer schwach: Bereits die Europäische Verteidigungsgemeinschaft war 1954 gescheitert. Stattdessen begab man sich unter den Schutzschirm der USA.
Generell gilt festzuhalten: Patel ermöglicht dank holistischer wie konkreter Analyseschärfe ein breites Verständnis für den verschachtelten Integrationsprozess. Im Fazit wirft er einen Blick in die Zukunft, wo die Prognose allerdings in diverse Krisensymptome ausfranst.
So werden Phänomene wie das Klima zur Apokalypse stilisiert, was wissenschaftstheoretisch problematisch ist, weil es kaum möglich ist, die zukünftige Entwicklung von nicht-linearen dynamischen Systemen über einen längeren Zeitraum zuverlässig vorauszusagen.
Patel scheint den Widerspruch zu übersehen, dass der Green New Deal ein elitäres Top-Down-Programm ist, das im Rahmen einer mit dem Prädikat «grün» eingefärbten Wirtschaftswachstumsstrategie propagiert wird. Dabei liegt ein vergleichbares demokratisches Defizit vor, das Patel zuvor bei einigen tendenziell neoliberalen Integrationsprozessen kritisiert hat.
********
Zum Autor:
Kiran Klaus Patel ist Professor für Europäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Buch-Hinweis:
Kiran Klaus Patel: Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart. C.H.Beck, 2022. 128 S., 9,95 €. ISBN 978-3-406-78496-5.
Weitere Infos und Bestellung beim Verlag hier. Einzelne Buch-Bestellungen werden in Deutschland, nach Österreich und in die Schweiz versandkostenfrei geliefert.
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2022 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare