Das Misstrauen der Bürger hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Eine Vertrauenskrise ist omnipräsent: Regierungen und Medien verlieren mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Demokraten – die gern einmal als linke oder rechte Populisten bezeichnet werden – haben Aufwind. Eine Entwicklung, die Ausdruck dieses Unbehagens ist. Und die eigentlich gar nicht neu ist.
Der Ökonom Bruno S. Frey und der Historiker Oliver Zimmer gehen in ihrem Buch «Mehr Demokratie wagen» der Frage nach, woher diese weitverbreitete Skepsis gegenüber den Eliten herkommt.
Sie sind sich einig: Ein Grundproblem sei das bestehende repräsentative System, das die besser situierten Schichten massiv bevorzuge und die breite Bevölkerung aussen vor lasse. In ihren Augen braucht es deshalb dringend Reformen und, wie der Titel des Buches sagt, «mehr Demokratie». Wege dahin zeigen die Autoren auch auf. Transition News veröffentlicht nachfolgend Auszüge aus dem Vorwort des Buchs.
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Am 28. Oktober 1969 forderte Willy Brandt als frisch gekürter Regierungschef die Mitglieder des Bundestags auf, in Deutschland künftig mehr Demokratie zuzulassen. «Wir wollen mehr Demokratie wagen.»
So lautete der kurze Satz, der eine naturgemäss eher technische Regierungserklärung zur vielleicht berühmtesten politischen Rede der deutschen Nachkriegszeit machte. Die Warnung, dem demokratischen Geist der Deutschen sei (noch) nicht zu trauen, wies der sozialdemokratische Bundeskanzler zurück:
«Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.»
Die Grundaussage dieses Buches lautet, dass Willy Brandts Ruf nach mehr Demokratie heute wieder besonders aktuell ist, und zwar nicht nur in Deutschland. Brandt argumentierte, dass die deutsche Demokratie nur durch erhöhte bürgerliche Partizipation zu sichern sei. Zu dieser Einschätzung passt die doppelte Selbstkritik am Schluss seiner Rede – eine Selbstkritik, die sich auf die Politiker wie auf die Bürger der jungen Republik bezog:
«Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.»
Der Sozialdemokrat forderte eine deutsche Gesellschaft, die sich durch mehr «Mitbestimmung» und «Mitverantwortung» auszeichnen und dadurch den Bürgerinnen und Bürgern «mehr Freiheit» gewähren sollte. Er verlangte die verstärkte Einbeziehung der «begründeten Wünsche der gesellschaftlichen Kräfte».
Dabei redete er einer erweiterten demokratischen Selbstbestimmung das Wort: Innenpolitisch durch Anhörung der Opposition, die sich in den 1960er Jahren ausserhalb des Parlaments manifestiert hatte; aussenpolitisch durch Einforderung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen bei gleichzeitigem Bekenntnis zur «europäischen Friedensordnung».
Gut zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalistischen Diktatur verstand Willy Brandt unter «mehr Demokratie wagen», dass die demokratische Selbstverantwortung höher gewichtet werde als die Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat. Den Vorschlag, das aktive Wahlalter von 21 auf 18 und das passive von 25 auf 21 Jahre zu senken, rechtfertigte er mit der Aussicht auf Freiheitsgewinn: «Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.»
Was genau eine Regierungserklärung zur historischen Rede werden lässt, ist schwer zu sagen. Dazu gehört aber, dass sie mehr von ihren Anspielungen, Widersprüchen und Überraschungen lebt als von den Intentionen ihrer Schöpfer.
So verknüpfte Brandt seine Aufforderung nach vermehrter demokratischer Teilnahme mit der Aussicht auf Modernisierung durch Planung. Wie diese beiden Dinge – kontrollierter Wandel und demokratische Partizipation – zusammengehen sollten, liess seine Rede weitgehend offen.
Doch diese Ungereimtheit trat angesichts der Forderung nach mehr Demokratie in den Hintergrund. Wer spricht heute noch von den raumgreifenden technokratischen Passagen in Brandts Regierungserklärung? Es ist der Ruf nach mehr Demokratie, der (auch ausserhalb Deutschlands) im Gedächtnis der Menschen hängengeblieben ist.
Dieser Ruf verlieh seiner Rede ein Eigenleben; etwas, was sie nur schwer domestizierbar macht. Vielleicht erklärt dies auch, weshalb sie von vielen deutschen Politikern und Intellektuellen bis heute vornehmlich im Geiste der vorsichtigen Beschwichtigung ausgelegt wird: weniger als Aufruf zu genuiner Reform denn als gediegenes Bekenntnis des grossen Nachkriegskanzlers zur repräsentativen Demokratie.
Das ist Brandts Rede natürlich auch. Und gleichzeitig geht sie deutlich über ein solches Bekenntnis hinaus. Inhaltlich gehört sie zu jener Tradition der Herrschaftskritik, die seit dem 19. Jahrhundert – besonders von Seiten jenes linksdemokratischen Lagers, dem Brandt entstammte – immer wieder vorgetragen wurde.
Die Kritik bezieht sich seit dem sogenannten «Völkerfrühling» von 1848 insbesondere auf das, was man im deutschen Sprachraum repräsentative Demokratie, im englischen dagegen meistens – und von der Sache her ungleich präziser – als repräsentatives Regieren (representative government) bezeichnet.
Eine solche Kritik stellt das repräsentative System nicht grundsätzlich in Frage. Was sie fordert, ist die Erweiterung des liberalen Verfassungsstaates durch vermehrte demokratische Teilhabe. Und gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Misstrauens gegenüber dem politischen Status Quo.
Denn das repräsentative System steht hier unter dem, wie wir meinen, berechtigten Verdacht, den Interessen und Präferenzen einer wohlhabenden, mit Bildungszertifikaten ausgestatteten Schicht besser zu entsprechen als jenen der Mehrheit, die diese Privilegien nicht geniesst.
Er wäre geradezu fahrlässig, einen solchen Befund als Verschwörungstheorie zu verunglimpfen. Denn was hier in der Kritik steht, ist ein epistokratisches, mitunter elitäres Politikverständnis. Wie das Wort Demokratie stammt auch der Begriff Epistokratie aus dem Griechischen. Ein Epistokrat ist jemand, der eine Herrschaft der Wissenden (episteme: «Wissen; kratia; «Herrschaft») unterstützt. Aus epistokratischer Warte gefährdet die partizipatorische Demokratie (demos: «Volk»; kratia; «Herrschaft») die Interessen des Staates.
Die beschriebene Kritik des Repräsentativsystems ruft uns etwas in Erinnerung, das heute nur noch selten öffentlich diskutiert wird. Sie erinnert uns daran, dass die herkömmliche Gleichsetzung von Repräsentation und Demokratie – konzeptuell wie historisch – unhaltbar ist. Darauf haben am wortgewaltigsten die politischen Philosophinnen Hannah Arendt und Hanna Fenichel Pitkin hingewiesen.
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Über die Autoren:
Bruno S. Frey ist politischer Ökonom und Research Director von Crema (Center for Research in Economics, Management and the Arts, Switzerland). Er war Professor an den Universitäten Konstanz, Zürich, Chicago, Warwick und ist jetzt ständiger Gastprofessor an der Universität Basel.
Oliver Zimmer hat an der Universität Zürich und an der London School of Economics and Political Science studiert (PhD 1999). Von 2005 bis 2021 war er Professor für Moderne Europäische Geschichte an der University of Oxford. Seit 2022 ist er Forschungsdirektor bei Crema in Zürich.
Buch-Hinweis:
Bruno S. Frey & Oliver Zimmer: Mehr Demokratie wagen
Für eine Teilhabe aller. Aufbau, 2023. 157 S., 22 €. ISBN: 978-3-351-04175-5
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