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Das Thema Migration ist für Wähler in Deutschland vor der Bundestagswahl in knapp zwei Wochen anscheinend das wichtigste Thema. Die Zeitung Welt am Sonntag (WamS) berichtete am Sonntag auf Seite 1, laut einer in ihrem Auftrag durchgeführten Umfrage stehe das Thema für fast ein Drittel der Befragten an erster Stelle.
Demnach werden die Themen Zuwanderung und Wirtschaft als wahlentscheidend angesehen. 31 Prozent der Befragten gaben laut der Zeitung an, dass ihnen das Thema «Migration» am wichtigsten sei. Es folgten die Themen «Wirtschaftliche Entwicklung und Inflation» (26 Prozent), «Soziale Sicherheit» (16 Prozent) und «Kriminalität und innere Sicherheit» (11 Prozent).
Nach den Themen Krieg und Frieden scheint gar nicht erst gefragt worden zu sein, obwohl die etablierten Parteien allesamt mehr Geld für Rüstung ausgeben und die Gesellschaft «kriegstüchtig» machen wollen. Gleichzeitig soll dafür in anderen Bereichen gespart werden. Beobachter vermuten, dass mit der verschärften Debatte um Migration, nach Taten wie in Magdeburg und Aschaffenburg, davon gezielt abgelenkt werden soll.
«Migration ist seit Jahren eines der drei Top-Themen für Wähler», zitiert die Zeitung Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie. Das zeige sich bei den letzten Landtagswahlen, der Europawahl und nun auch bei der Bundestagswahl, so Vorländer. Deutschland unterscheide sich damit «deutlich» von anderen EU-Staaten, in denen etwa die wirtschaftliche Lage oder der Krieg in der Ukraine als wichtiger angesehen werden.
Der Umfrage nach sehen vor allem Männer (34 Prozent) das Thema Zuwanderung als entscheidend an. Bei den Frauen waren es demnach nur 29 Prozent. Unterschiede gebe es außerdem bei den Altersgruppen und je nach Parteizugehörigkeit.
Während es insbesondere Jüngere weniger beschäftigt, ebenso jene, die eher linke Parteien unterstützen, sorgten sich Befragte, die konservativen Parteien nahestehen, mehr um das Thema. So sind es den Angaben nach bei den FDP-Wählern 34 Prozent, bei den Unionswählern 37 Prozent und bei den AfD-Wählern 65 Prozent, die das Thema Migration als am relevantesten ansehen.
Wunsch nach weniger Zuwanderung
Daran habe auch die in den letzten Wochen verschärfte Ausländerpolitik der Bundesregierung nichts geändert, wird Migrationsexperte Vorländer von der Zeitung zitiert. Er verweist im Zusammenhang mit den jüngsten Morden von aus dem Ausland stammenden Männern auf «Vollzugsdefizite im bestehenden System, wie die Anschläge von Magdeburg und Aschaffenburg gezeigt haben».
Dennoch scheinen solche Anlässe Grund für viele Menschen in Deutschland zu sein, grundsätzlich weniger Zuwanderung zu wollen und anhand von einzelnen Ereignissen Migranten grundsätzlich als potenzielle Gefahr zu sehen. Ein Taxifahrer erklärte mir unlängst, deshalb AfD wählen zu wollen, weil nur diese Partei ein Konzept dafür habe.
Die aktuelle Debatte, die anscheinend gezielt von größeren durch die Politik verursachten Problemen ablenkt, ignoriert wesentliche Fakten. Dazu gehört, dass die Bevölkerung in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren um insgesamt nur ein Prozent angewachsen ist. Darauf macht das kritische Portal gewerkschaftsforum.de in einer ausführlichen Analyse zur politischen Ökonomie der Zuwanderung aufmerksam.
Demnach habe die Zuwanderung die sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland kompensiert:
«Zwischen den Jahren 2000 und 2022 sind 8,1 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft netto (Zuzüge abzüglich Abzüge) nach Deutschland zugewandert. Im gleichen Zeitraum haben netto 0,6 Millionen deutsche Staatsbürger das Land verlassen. Die Bevölkerungszahl ist in derselben Zeit allerdings nur um eine Million gestiegen, also von 82 auf 83 Millionen.»
Im Jahr 2022 machten der Analyse zufolge zugewanderte Menschen rund 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus, weitere sechs Prozent waren direkte Nachkommen von ihnen. 40 Prozent der nach Deutschland Eingewanderten seien seit 2013 hinzugekommen. Sie seien mit einem Durchschnittsalter von knapp 30 Jahren deutlich jünger als die deutschen Staatsbürger ohne Einwanderungsgeschichte, dort liege das Durchschnittsalter bei 47 Jahren.
Der Text setzt sich mit der öffentlich wahrnehmbaren Debatte um die Zuwanderung auseinander. In dieser würden das Asylrecht, die Abwehr unwillkommener Menschen beziehungsweise sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge und die Behebung des Fachkräftemangels durch die Abwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland miteinander verbunden. Diese Fragen hätten aber «dieselben Ursachen und Hintergründe».
Mehrheit aus Europa
Autor Laurenz Nurk verweist darauf, dass mit 59 Prozent der überwiegende Teil der Zugewanderten nach Deutschland aus Europa stammt, davon allein 89 Prozent aus den ehemaligen Ostblockländern. 29 Prozent seien aus asiatischen Ländern zugewandert und nur sechs Prozent aus Afrika.
«Ausschlaggebend für die Einwanderung aus europäischen Staaten seit 2005 war die Aufnahme von Staaten des ehemaligen Ostblocks in die EU», schreibt er. Die Eurokrise habe ab 2010 dazu beigetragen, dass vermehrt EU-Bürger aus dem Ausland eingewandert sind. Und allein im Jahr 2022 seien fast eine Million ukrainische Staatsbürger nach Deutschland gekommen.
«Die Migrationswellen aus Asien sind größtenteils auf die Zuwanderung aus den Kriegs- und Krisenregionen Syrien, Afghanistan und Irak sowie von hoch qualifizierten Indern zurückzuführen.»
Ebenso gebe es seit 2005 eine vermehrte Abwanderung von Bürgern mit deutscher Staatsangehörigkeit. Immer mehr hochqualifizierte Deutsche würden aufgrund besserer Arbeitsbedingungen ins Ausland auswandern.
Die Analyse beschreibt ausführlich die Rahmenbedingungen und auch Hürden für Menschen, die nach Deutschland einwandern. Dazu gehört demnach:
«Menschen aus Staaten, die nicht der EU angehören und in Deutschland Arbeit suchen, haben es in der Regel sehr schwer, eine Aufenthaltsgenehmigung mit der Erlaubnis, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, zu erhalten. Leichter ist es, wenn sie hochqualifiziert sind, aus bestimmten Ländern kommen oder über bestimmte Qualifikationen verfügen, an denen es in Deutschland mangelt.»
Es wird auch daran erinnert, dass von den 8,1 Millionen Menschen, die zwischen 2000 und 2022 nach Deutschland eingewandert sind, insgesamt rund 2,4 Millionen (30 Prozent aller Zugewanderten) aus dem Irak (0,2 Millionen), aus Afghanistan (0,3 Millionen), aus Syrien (0,8 Millionen) und 1,1 Millionen aus der Ukraine stammen. Sie kommen aus Ländern mit Kriegen und Konflikten, an denen sich Deutschland und seine engsten wirtschaftlichen und militärischen Verbündeten direkt oder indirekt maßgeblich beteiligen beziehungsweise beteiligt haben.
Nicht hinterfragte Gründe
In der aktuellen Diskussion werde hauptsächlich gefragt, ob die Zuwanderung einen Gewinn oder eine Belastung für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft bedeute. «Kaum jemand aber fragt nach den Gründen für den Import der Arbeitskräfte», so der Autor. Er stellt klar:
«Es geht darum, dass sich die bestehenden Strukturen nur durch mehr Zuwanderung aus dem Ausland erhalten lassen. Das ist vor allem eine Frage der Ökonomie und nicht der Moral. Für die Ware Arbeitskraft gelten die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie, so wie für alle anderen Waren auch.»
Und er erinnert daran, dass bis zu einem gewissen Grad das Überangebot an Arbeitskräften für den Druck auf die Löhne erwünscht ist, wenn auch natürlich nicht von den betroffenen einheimischen Beschäftigten. Ebenso macht er darauf aufmerksam, dass zugewanderte Menschen meist in Niedriglohnbereichen wie Gastronomie, Reinigungsbranche und Pflege tätig sind, wenn sie denn arbeiten dürfen und eine Arbeit finden. Nurk zieht ein Fazit aus der bisherigen Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland:
«Ein Ergebnis nach 75 Jahren gelenkter Zuwanderung, 45 Jahren geleiteter Ost-West-Wanderung und 25 Jahren gesteuerter Zuwanderung von Flüchtlingen ist, dass der sozio-ökonomische Status von zugewanderten Menschen deutlich unter dem der einheimischen Bevölkerung liegt.»
Es sei «ein Skandal», dass die zugewanderten Menschen nach fast 75 Jahren Einwanderungserfahrungen in Deutschland «überwiegend am Rand der Gesellschaft existieren müssen und damit einer permanenten strukturellen Diskriminierung unterliegen». So habe 2023 die Armutsquote bei zugewanderten Menschen bei 28,6 Prozent und bei älteren Zuwanderern sogar bei 31,2 Prozent gelegen, während diese Quote bei der Gesamtbevölkerung bei 16,6 Prozent liege.
Das Beispiel Armut zeige deutlich, «welche Rolle den zugewanderten Menschen in unserer Gesellschaft zugedacht wird und wurde». Der Autor verweist darauf, dass die Betroffenen immer wieder versuchen, aus ihrer Opferrolle herauszutreten, Widerstand zu leisten, sich selbst zu organisieren und gegen die Arbeits- und Lebensverhältnisse aufzubegehren.
Deutschland ist demnach «der größte Profiteur dieser Entwicklung, auch wenn dies ein großer Teil der Bevölkerung, angeheizt von Politik und Medien, derzeit anders sieht». Auf das Thema der Ausländerkriminalität, das für viele die Wahlentscheidung mitbeeinflusst, geht der Text des kritischen Gewerkschafters nicht ein.
Ursachen der Kriminalität
Doch was er beschreibt, die soziale Lage der Zugewanderten, gehört zu den Ursachen von Kriminalität, auch unabhängig von der Herkunft. Darauf machte unter anderem der Kriminologe Tobias Singelnstein vor etwa einem Jahr in einem Interview mit dem Sender rbb24 aufmerksam.
Die Frage der Staatsbürgerschaft sei keine wirklich sinnvolle Kategorie bei der Analyse der Kriminalstatistik, erklärte er zur Frage des hohen Anteils der Ausländerkriminalität in der Statistik (41 Prozent der Verdächtigen). Die soziale Lage, in der Menschen lebten und aufgewachsen seien, spiele «die wichtigste Rolle dabei, ob sie Straftaten begingen».
«Das ist eigentlich das entscheidende Kriterium, nicht die Herkunft oder die Staatsbürgerschaft.»
Für Singelnstein war die Debatte um Ausländerkriminalität eher Teil des Problems als Teil der Lösung: «Weil sie nämlich für Stigmatisierung und für Ausgrenzung sorgt und deshalb auch der Integration im Wege steht.»
Doch daran ändern die aktuellen Debatten vor der Wahl, die vordergründig und populistisch geführt werden, nichts. Und auch nach der Wahl wird sich voraussichtlich kaum etwas an der Lage der Zugewanderten ändern, außer dass Zugangsregeln symbolisch verschärft werden, egal, wer dann regiert. An der Lage der einheimischen Bevölkerung und den Problemen der Gesamtgesellschaft wird sich ebenfalls kaum etwas zum Guten ändern.
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