«Cancel Culture ist ein Programm, das Deutungshoheit sichert und damit Macht.“
Dieser Befund über die neue «sanfte Zensur» ist im neuen Buch des Kommunikationswissenschaftlers Michael Meyen zu finden. Es heißt so wie das Phänomen, das er beschreibt: «Cancel Culture».
Meyen analysiert darin nicht nur einzelne Fälle wie Warnhinweise vor alten Filmen, vermeintlich nicht bestellbare Bücher und Quasi-Berufsverbote für Menschen, die diffamiert werden. Er zeigt laut Untertitel «Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören»..
Prof. Michael Meyen am 18. Juli in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Am Donnerstag hat er das Buch im Berliner «Sprechsaal» vorgestellt und dabei deutlich gemacht, wer für Cancel Culture verantwortlich ist:
«Die Cancel Culture geht von den Leitmedien aus und von den Institutionen, die der Parteienstaat sich extra dafür geschaffen oder sich in den letzten Jahren unterworfen hat, die er gekapert hat. Diese Form der Zensur stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat.»
Mit dieser These unterscheide sich sein Buch von anderen zum Thema, hob der Kommunikationswissenschaftler hervor. Wie im Buch ging er im Vortrag vor allem auf die Grundlagen der Cancel Culture ein. Dazu gehöre die «Bewusstseinsindustrie» mit ihren Massen an prekär Beschäftigten.
Wer in den großen Städten mit ihren hohen Lebenshaltungskosten lebe und in der «Bewusstseinsindustrie» aus Bildung, Kultur, Medien und Politik arbeite, habe oft nur Zeitverträge und halbe Stellen. Dieses «intellektuelle Prekariat» konkurriere um die Posten in der Bewusstseinsindustrie.
Gefahr für die Demokratie
Es arbeite die Themen und die Moral ab, die von oben vorgegeben werden. Das sei das Futter für die Propaganda und die Zensur, die im Digitalkonzernstaat in der Zusammenarbeit von Regierung und Unternehmen durchgesetzt werden.
Meyen stellte zu Propaganda und Zensur fest, dass diese als Begriffe für die Analyse westlicher Gesellschaften den Wissenschaftlern «weggenommen» worden sei. Beides werde nur noch dem politischen Gegner in anderen Systemen zugeschrieben.
Es gelte für Sozialwissenschaftler nicht mehr als legitim, Propaganda und Zensur auch in den westlichen Gesellschaften auszumachen – «beides machen nur die anderen». Dass sie auch in dem Fall zutreffende Begriffe sind, dafür liefert er in seinem Buch eine Reihe von Beispielen.
«Propaganda, ist für mich jeder Versuch staatlicher Stellen, öffentliche Meinung auf eine bestimmte Weise zu beeinflussen. Propaganda verlangt zwingend nach Zensur, wenn ich Öffentlichkeit auf bestimmte Weise beeinflussen will.»
Der Kommunikationswissenschaftler verwies auf das aktuelle Beispiel der politischen und medialen Aufregung um die Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Das zeige, wie gegenläufige Ansichten, Gegenmeinungen unterdrückt werden. Das geschehe sogar erfolgreich, wie er an den verbreiteten Ansichten über Ex-US-Präsident Donald Trump zeigte.
Die gegenläufigen Ansichten und Aussagen würden durch Zensur unterdrückt. Sie komme gegen Botschaften und Inhalte zum Einsatz, die sich durch zwei Eigenschaften auszeichnen würden: Die eine ist der Widerspruch zur herrschenden Meinung und die andere die hohe Reichweite unter der Bevölkerung. Deshalb werde gegen Medien wie KenFM oder wie jüngst das Magazin Compact vorgegangen.
Meyen, der als Professor für Kommunikationswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) das von ihm Beschriebene selbst erlebt hat, machte klar:
«Propaganda und Zensur widersprechen meinem Demokratieverständnis. Demokratie ist für mich die Möglichkeit für uns alle, mitbestimmen zu können, wenn es um unser Leben geht, also um die Bedingungen geht, unter denen wir leben.»
Leitmedien als Kumpane
Propaganda und Zensur würden mit Hilfe der sogenannten Leitmedien um- und durchgesetzt, die das «Gedächtnis der Gesellschaft» fütterten. Diese Medien würden die Themen bestimmen, über die die Menschen reden. Wenn jemand nicht wisse, was in den Leitmedien berichtet wurde, falle er «aus der Gruppe von Menschen, die man ernst nehmen muss».
Die sogenannten Leitmedien geben laut Meyen die Themen und auch die herrschende Moral vor und weiter. Auch dafür sei das Magazin Compact ein Beispiel, das nur wenige wirklich kennen würden und gelesen hätten. Aber die meisten hätten aus den Nachrichten erfahren, es sei «rechtsextremistisch».
Der «Stempel, den die Leitmedien für diese Angebote in das Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt haben», wirke. Deshalb sei es schwer, diese Art von Zensur auch als solche deutlich zu machen und zu benennen.
Als eine der Grundlagen dieser Mechanismen beschrieb der Kommunikationswissenschaftler «eine sehr homogene Besetzung in einer Redaktion» in den etablierten Medien. Es handele sich vorrangig um «Mittelschichtkinder mit akademischer Bildung, die in teuren Großstädten leben. Um seine Kinder heute in den Journalismus zu schicken, muss man Geld haben».
Der Weg zu einer festen Stelle, wenn es solche noch gibt, sei zugleich sehr lang und dauere mehrere Jahre. Das bedeute lange Zeit wenig Einkommen und Unsicherheit, die sich junge Menschen aus Arbeiterfamilien nicht leisten könnten. Gegenwärtig würden zwei Drittel der Programmmacher im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 18.000 Menschen, ohne festen Arbeitsplatz arbeiten, so Meyen.
Das sei bis Ende des 20. Jahrhunderts anders gewesen, erklärte er und stellte fest, dass Journalismus heute ein prekärer Beruf ist. Das sorge dafür, dass es in den Medien keinen Widerstand gegen die Vorgaben von oben gebe.
Aufrüstung des Propagandaapparates
Vorgaben seien aber nur selten nötig, wofür eine «Verantwortungsverschwörung» sorge: Diese stütze sich zum einen auf das vermeintliche Wissen der Journalisten, «was gut und richtig ist» – «das ist bei Journalisten oft das Gleiche wie bei anderen Eliten in Wirtschaft, Kultur, Politik». Zum anderen wüssten die Journalisten, dass sie Einfluss auf die Gesellschaft und die Öffentlichkeit haben.
Und zuletzt bereinigten sie die Wirklichkeit um die Teile, die dem im Weg stehen könnten, was sie für gut und richtig hielten. Gleichzeitig würden seit Jahren die Stellen selbst in den Lokalredaktionen abgebaut, was Konkurrenz und Konsensdruck erhöhe.
Meyen machte im Vortrag wie auch im Buch für die letzten Jahrzehnte eine zunehmende Moralisierung in Politik und Medien aus. Gleichzeitig seien die Lebenswelt und die Themen der arbeitenden Menschen weitgehend daraus verschwunden.
Doch während man in den Medien fortgesetzt Stellen abbaue, rüste der politische und staatliche Propaganda-Apparat weiter auf. Dazu gehöre auch die zunehmende Kumpanei zwischen Regierungsstellen und Leitmedien, wie sich auch beim Überfall auf die Compact-Zentrale gezeigt habe. Solche Vorfälle habe es auch schon in den Jahren davor gegeben, so beim Vorgehen gegen einen Verlag, der kurdische Literatur herausgab.
Dabei würden die «Stempel im Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft» in Bezug auf vermeintliche «Rechtsextremisten» und «Terroristen» helfen, eingebrannt mit Hilfe der Leitmedien. Dafür würde zum Beispiel auch die auf 40 Mitarbeiter aufgestockte Abteilung für «strategische Kommunikation» im Bundesaußenministerium unter Annalena Baerbock (Grüne) sorgen.
Zunehmend würden politische Gelder in Sozialwissenschaften gegeben. Und ein staatlich finanziertes «Beauftragten-Heer» für alle möglichen und unmöglichen Teilaspekte der Gesellschaft und des Zusammenlebens, selbst in der Wirtschaft, würde die Medien mit den gewünschten Botschaften füttern.
Plattformen als «Zensurmaschinen»
Meyen bezeichnete die Zensur als die «andere Seite der Propaganda-Medaille». Diese sei von der Europäischen Union (EU) mit dem Digital Services Act (DSA) massiv ausgebaut worden. Damit mache man die Internetkonzerne mit ihren digitalen Plattformen zu Kumpanen der Politik und zu «Zensurmaschinen».
Aber auch die Technologie der Internet-Plattformen wirke als Zensurmechanismus, da Reichweite von Inhalten und Botschaften nur durch Moralisieren erreichbar sei. Zugleich unterstütze sie die «Mechanik der Cancel Culture»:
«Wir haben Leitmedien, die eine bestimmte Moral vorgeben, die bestimmte Themen vorgeben. Wir haben eine Reihe von Aktivisten im Hintergrund, die bereit sind, sich entsprechend zu äußern. Und wir haben die Angst vor dem öffentlichen Pranger.»
Er habe das selbst erlebt, sagte Meyen und verwies auf dem Umgang der LMU mit ihm, nachdem ihm Aktivisten mit Hilfe der Süddeutschen Zeitung Nähe zu Antisemiten und «Verschwörungstheoretikern» vorgeworfen hatten. Er sei durch die Zeitung gar zum «Fall für den Verfassungsschutz» erklärt worden, weil er sich für ein «Querdenker»-Medium engagiert habe.
Wer einmal durch Leitmedien, Plattformen oder einen Wikipedia-Eintrag negativ gebrandmarkt worden sei, laufe «Gefahr, dass ihnen entweder der Raum gekündigt wird, Demonstranten vor der Tür stehen, dass Bankdirektoren ihre Konten kündigen». Die Angst vor dem öffentlichen Pranger bringe Bankdirektoren, Saalbetreiber, Buchherausgeber dazu, sich von Veranstaltungen und Menschen zu distanzieren.
Geistige Verarmung
Dieses digitale Kesseltreiben mit einem negativen Wikipedia-Eintrag als Höhepunkt sorge dafür, dass Autoren keine Bücher mehr veröffentlichen, Künstler nicht mehr auftreten und ausstellen, Wissenschaftler nicht mehr lehren und vortragen können. Es treffe inzwischen selbst Ärzte, wie Meyen am Beispiel eines Psychiaters schilderte, der sich aktivistischen Trends widersetze.
«Allein schon die Angst, dass dieser Mechanismus in Gang gesetzt wird, führt dazu, dass bestimmte Dinge nicht mehr passieren, dass bestimmte Dinge nicht mehr stattfinden. Bestimmte Ausstellungen, bestimmte Vorträge, bestimmte Bücher werden nicht mehr publiziert.»
In der Folge würden viele Dinge nicht mehr an die Öffentlichkeit kommen. Vieles werde «stillschweigend entsorgt». Das Ergebnis ist nicht nur eine Verengung des Debattenraumes, der zunehmend beklagt wird, sondern die Unterdrückung jeglichen freien Diskurses, worauf Meyen auch aufmerksam machte.
Diese Entwicklung führe auch zu einer geistigen Armut in der Gesellschaft, die nur noch den Unterschied zwischen Gut und Böse zulässt – mit Hilfe der auf 0 und 1 basierenden digitalen Technologie. Eines der Mittel gegen die geistige Verarmung seien analoge Bücher, erklärte der Kommunikationswissenschaftler. In der Diskussion nach seinem Vortrag betonte er nochmals:
«Macht hat der, der bestimmen kann, wie wir über die Wirklichkeit sprechen, wie wir die Wirklichkeit sehen.»
Er hat nach seinen Worten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass «Ideen wachsen werden, auch Informationssammlung und Aufbereitung auf eine andere Basis zu stellen, als wir das jetzt in den Leitmedien haben». Das gesellschaftliche Bewusstsein für die Rolle der Medien habe in den letzten zehn Jahren zugenommen, was eine Quelle für eine Gegenbewegung sei.
Buchtipp:
Michael Meyen: «Cancel Culture – Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören»
Verlag Hintergrund 2024. 80 Seiten; ISBN 978-3-910568-07-5; 10,90 Euro
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