Frieden ist die Forderung unserer Tage. Um sich greifen tut das Gegenteil, seit bald zehn Jahren auf immer mehr Ebenen offenkundig. Konzepte und Ideen für den Frieden werden zahlreiche gehandelt, und ich wünsche jeder von ihnen von Herzen Erfolg. In unserem Suchen und Tasten und Befürchten tut sich aber noch eine weitere Tür auf: diejenige des Bertolt Brecht.
Als junger Student besuchte er 1920 ein Passionsspiel in Augsburg. Das hinterließ bei ihm offenbar einen großen Eindruck, denn in sein Tagebuch schrieb er dazu: «Abends in der ‹Großen deutschen Passion› der Brüder Faßnacht (...) gewisse Bibelworte nicht totzukriegen. Sie gehen durch und durch. Man sitzt unter Schauern, die einem, unter der Haut, den Rücken lang herunterstreichen, wie bei der Liebe.»
Dieses tiefe Erkennen und Erkanntwerden, wenn man sich und seine Lage im Bibelwort wiederfindet, ist zugleich das Ende aller Religion. Denn die will über «heilige» Personen und Orte, Dinge und Handlungen, sich «dem Göttlichen» nähern. Das Wort hingegen nähert sich einem selber und knüpft den Faden zu Geist und Seele.
Wir können den Ball, die «Beweisführung», da ganz flach halten. Was sagen zum Beispiel dieses alten Worte des Propheten Jesaja aus über unsere Zeit?
«Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis erklären, die Bitteres süß und Süßes bitter nennen!» (Jesaja 5, Vers 20)
Ziemlich viel sagen sie aus. Konkreter wird der Prophet weiter hinten in seiner Schrift, in Kapitel 59:
«Denn eure Hände sind mit Blut befleckt und eure Finger mit Unrecht; eure Lippen reden Lügen, und eure Zunge dichtet Verdrehungen. Keiner erhebt Klage mit Recht, und keiner führt eine Rechtssache gemäß der Wahrheit; man vertraut auf Nichtiges und redet Unwahres; man geht mit Unheil schwanger und gebiert Frevel.» (Verse 3.4)
Dem einen und der anderen in Justiz und Politik könnte hier durchaus ein «Schauern (…) den Rücken lang herunterstreichen». Und im gleichen Ton geht es weiter:
«Ihre Füße laufen zum Bösen und eilen, um unschuldiges Blut zu vergießen; sie hegen schlimme Absichten; Verwüstung und Zerstörung bezeichnen ihre Bahn. Den Weg des Friedens kennen sie nicht; es ist kein Recht in ihren Spuren; sie machen sich krumme Pfade; keiner, der darauf geht, kennt den Frieden.» (Verse 7.8)
Damit wäre fast schon alles gesagt. Fast. Doch die Lage zu beschreiben, ist nur das eine. Das andere ist, den Schritt darüberhinaus aufzuzeigen, den zweiten Pfeiler der Wahrheit. Von ihm her fällt ein neues Licht auf das Ganze. Von dieser weiteren, dieser erweiterten Position aus schreibt Petrus seinen ersten Brief:
«Dann [sc. wenn ihr einmal euer volles Erbe antretet] werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus.» (1. Petrus 1,6.7)
Hinter diesen «Anfechtungen» darf man auch Zustände wittern wie jene, auf die Jesaja seinen Finger gelegt hatte. Aber ihre Opfer haben einen anderen Stand. Hatten sie früher passiv erlitten bis aktiv geflucht, so nehmen sie die Enge jetzt als eine Bewährung. Die Logik ist folgende: Wenn Christus dem Tod die Macht genommen hat, dann sind auch heutige Todesmächte ent-machtet − in dem Sinne, dass sie einem selber für einen höheren Zweck dienen müssen. Sie machen klar, wo ich selber stehen, mich neu hinstellen darf.
Denn beide umschreiben sie Realität, Jesaja wie Petrus: der eine die bereits vor Augen stehende und der andere die noch vor Augen zu tretende.
«Wunder sind die Erfahrungen, die wir noch nicht gemacht haben,» schreibt der Kirchenlehrer Augustin. Bertolt Brechts Urteil geht in die gleiche Richtung. 1928 wurde er gefragt, welches Buch ihm denn den größten Eindruck gemacht habe. Seine Antwort: «Sie werden lachen: die Bibel.»
Ich nenne das die offene Tür zum Frieden. Und dieser Frieden wird ausstrahlen. Geht nicht anders.