Höflichkeit ist nicht immer eine Tugend, auch keine christliche. Sie kann ebensogut eine moralisch verkleidete Ausrede sein, wenn man den Dingen nicht ins Auge schauen will, den Dingen wie den Menschen. Sein Gegenstück ist der klarsichtige tapfere Mensch.
Hinter einem entschiedenen «Kämpfer gegen Rechts» oder gegen «Fremdenfeindlichkeit» kann sich auch eine schwache Persönlichkeit verbergen, die um den Applaus der Massen buhlt und dafür gegenwärtige Not und langfristiges Elend einer entsprechenden Politik ausblendet, und auch ein politisch korrekter Hassredner im Parlament oder auf der Straße würde besser dreimal nachdenken, bevor er einmal seine Verleumdungen hinausposaunt. Hier wäre also durchaus Zurückhaltung angebracht, gewürzt mit einem Schuss Höflichkeit.
Anders verhält es sich bei offenkundigen Mißständen. Wenn Männer in geschlechtlich-kultureller Aneignung ihren Trieb mit ihrer Identität verwechseln und dafür vom Gesetzgeber gestreichelt werden, wenn um Abtreibungskliniken eine Bannmeile des Todes errichtet werden soll, wenn Kriegstüchtigkeit wieder ein Ziel und die Ostfront eine gängige Vorstellung werden soll − dann grenzen zurückhaltend vorgetragene Reaktionen geradezu an Mittäterschaft.
«Unsere Gesellschaft ist so furchtbar höflich, daß sie gesellschaftliche Übel nicht verfluchen kann; statt dessen zieht sie es vor, Gott zu lästern», schreibt Eugen Rosenstock und erklärt daraus ein doppeltes Verhängnis: Der einzelne erstickt an seiner selbstverordneten Sprachlosigkeit, und in der Breite befördern wir die Zerrüttung. «Aber innerhalb einer schlechten Gesellschaft ist es meine Pflicht, sie zu desintegrieren, das heißt, sie weiter auseinanderfallen zu lassen.»
Das gelingt eigentlich nur Menschen mit Maßstäben und mit der Überzeugung und der Kraft, für sie auch einzutreten und Nachteile in kauf zu nehmen. Dafür gibt es aber Vorbilder.
Johann Walter (1496-1570) war ein Mitstreiter von Martin Luther. In seinen späten Jahren erschien ihm die Reformation und mit ihr eine innere Erneuerung Deutschlands gefährdet. In seinen Augen falsche theologische Kompromisse und Lug und Trug bis in höchste Ämter bedrohten den Glauben wie den Frieden im Lande.
Walters Antwort auf diese Mißstände fiel alles andere als zimperlich aus. In insgesamt 26 Strophen dichtete der frühere sächsische Hofkapellmeister im Jahr 1561 auch gegen Heuchelei von oben an:
Wach auf, wach auf, du deutsches Land!
Du hast genug geschlafen,
bedenk, was Gott an dich gewandt,
wozu er dich erschaffen.
Bedenk, was Gott dir hat gesandt
und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen!
.
Es ist nicht auszusprechen mehr
die Bosheit, Sünd und Schande,
die grausam Gottes Läst’rung schwer,
so jetzt in deutschem Lande.
Solch Sünde ist so hoch gebracht,
dass auch dafür der Himmel kracht,
erschüttert seine Bande.
.
All Ständ’ sind jetzt so gar verderbt.
Will niemand sich erkennen
mit gutem Schein, doch so gefärbt,
tun all sich Christen nennen.
Und wird der göttlich Name teu’r
zur Sünd’ gebraucht so ungeheu’r,
Deutschland wird sich abrennen.
3 von 26 Strophen, in denen er zur Gottes-Umkehr aufruft. Fürs Gesangbuch seien sie nie gedacht gewesen, wurden dafür aber vor rund hundert Jahren wiederentdeckt. Einige Strophen finden sich aber inzwischen auch im derzeitigen deutschen Evangelischen Kirchengesangbuch wieder.
Aus freiem Christenstand ist Johann Walter eingestanden für seine Überzeugung und hat in klaren Worten benannt, was in Kirche und Staat schiefläuft. Beide rief er zur Umkehr, damit sie ihr Erbe nicht verschleudern: weder ihr tradiertes aus Kultur und Geschichte noch ihr verheißenes aus dem Leben mit Christus, hier und dereinst.
Die Zeiten haben sich nur unwesentlich geändert:
«Wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten?» 1. Korinther 14, Vers 28
Denn hier gilt tatsächlich die sonst immer ironisch gemeinte Redewendung: «Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.»
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Wort zum Sonntag vom 30. Juni 2024: Es geht um die Treue
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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