Wieviel Druck verträgt die Leitung? Ab welchem Punkt platzt sie? Man kann von Glück sagen, wenn er rechtzeitig einen Ausgang findet und sich entladen kann, bevor ein Schaden, ein vielleicht noch grösserer Schaden, entsteht.
Dieses Bild kam mir in der vergangenen Woche bei den Berichten aus dem Corona-Untersuchungsausschuß des Brandenburger Landtags. Zwei hochrangige Leiter von RKI und PEI, Robert-Koch- und Paul-Ehrlich-Institut, sollten Abgeordneten und Fachleuten Red und Antwort stehen. Die PEI-Mitarbeiterin Brigitte Keller-Stanislawski konnte viel Druck loswerden; jener von Lothar Wieler vom RKI wurde nur teilweise umgeleitet.
Der Unterschied zwischen beiden: Frau Keller-Stanislawski war kurz vorher pensioniert worden, wohingegen Herr Wieler noch im Arbeitsleben steht und anscheinend mehr zu verlieren hätte. Frau Kellers Aussage-Genehmigung ihres früheren Arbeitgebers umfasste lediglich eine einzelne Seite, jene von Herrn Wieler deutlich mehr. Frau Keller stand selbständig Red und Antwort, Herrn Wieler hatte man einen Body- and Mindguard beigesellt.
Das schlug sich in dem nieder, was und wie sie berichteten. Lothar Wieler versteifte sich auf die Richtigkeit seines damaligen Verhaltens, während Brigitte Keller denn doch wesentliche Einblicke gab in eine hoffnungslos überforderte Behörde.
Einzelheiten ihrer Aussagen muss ich hier nicht referieren; sie sind gut dokumentiert worden (zum Beispiel hier und hier). Viel aufschlussreicher ist ein Blick auf das Aussageverhalten der beiden. Bei der ehemaligen PEI-Mitarbeiterin brach sich eine Ehrlichkeit Bahn, der frühere RKI-Chef glänzte in einem «Dogmatismus», an den er möglicherweise sogar selber weiterhin glaubt.
Offenbar gehen diese beiden Menschen ganz unterschiedlich mit ihrer eigenen entscheidenden Instanz um, mit ihrem Gewissen: erste Druckentlastung auf der einen Seite, bleibende Druckumleitung auf der anderen.
Wie viele Menschen wie Frau Keller mag es in derartigen Instituten, in Parteizentralen und Regierungen geben, die Not und Unzulänglichkeit, Betrug und Täuschung, sehr wohl wahrnehmen, aber sich gezwungen sehen, das Elend zu decken?
Wieviel Druck baut sich in solchen Menschen auf? Wie gehen sie damit um? Ich sehe drei mögliche Wege:
1. Man leidet und wird über kurz oder lang krank;
2. man ergibt sich und stumpft ab in einem «Dienst nach Vorschrift» oder
3. man beteiligt sich aktiv an diesem Treiben.
Diese drei Wege schliessen einander natürlich nicht aus; sie können sogar eine fatale Linie ergeben. Und auf jeder dieser Stufen bezieht der Mensch eine andere Stellung zu seinem Gewissen.
1. Er hält es wach und findet sich nun in einem permanenten aufreibenden Zwiespalt wieder zwischen niederem Tun und höherer Einsicht.
2. Er spaltet sein Gewissen ab als störend und unpassend und landet in einer ethischen Schwebe, jedem Wind der Manipulation ausgeliefert.
3. Er tauscht seine eigene innere Stimme ein gegen den Ruf eines vermeintlich höheren Zieles, für das nun einmal Opfer zu bringen seien.
Gewissen heisst im Altgriechischen des Neuen Testaments «syn-oidesis», wörtlich: «Mit-Wissen»: Die eigene Einsicht weiss sich begleitet von «etwas Weiterem», mit dem sie sich abspricht, auch abstimmt. Bezogen auf unsere Dreiteilung, sind das: mitgebrachte Werte – ein postuliertes Nichts – eine Autosuggestion.
Dass dies keine bloße Theorie, keine kopflastige Konstruktion ist, zeigt sich an der Gegenprobe. Wer auf sein zwielichtiges Tun direkt angesprochen wird, es darlegen und Rechenschaft geben soll, der verhält sich auch entsprechend:
3. Er versteift sich aufs eigene Rechthaben.
2. Er verweist auf Vor-Gesetzte und Vor-Schriften.
1. Er weiss sich überführt und lässt Druck ab.
Die Reihenfolge von 3 zu 1 ist zugleich die Rangfolge für Menschlichkeit, für Menschwerdung. Der Maßstab ist die eigene Ansprechbarkeit. Wenn die unterdrückt wird, verkümmert nicht nur etwas im Menschen; es droht sein ganzes Wesen von innen heraus zu ersticken.
Umgekehrt heisst das:
«Alles, was der einsame Mensch weiß, muß er einmal offen um des Heils willen in der Gemeinschaft mit anderen bekennen können, (...) denn gerade an solchem Heraustreten aus der Funktion entzündet sich meine Hoffnung.»
Eugen Rosenstock-Huessy in Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, Seite 42
Druck und Verführung innerhalb der obengenannten Einrichtungen und vieler anderer müssen immens sein, wenn offenbar viele erst spät wagen, aus ihren Funktionen herauszutreten, oft erst nach einer Pensionierung. Wieviel Not hätte vorher verhindert werden können!
Aber Innehalten lässt sich lernen. Durch die ganze Bibel hallt Gottes erster Ruf nach dem Menschen:
«Wo bist du?» 1. Mose 3,9
Versteckt hatte er sich, aus schlechtem Gewissen. Die Anrede macht ihn wieder ansprechbar, damals wie heute. Das Innehalten vor Gott geschieht durchwegs so, dass man sich von einem Einzelwort berührt weiss. Das entlastet dann zutiefst und stellt den Menschen auf neuen Grund.
Auf dem entsteht nun langsam der Mut, sich nicht wegzuducken, bis irgendwelche Umstände vielleicht ein freies Wort erlauben könnten. Man lernt noch innerhalb eines verordneten Chaos, zu seinem Gewissen zu stehen, denn es entwickelt sich zu einem Mit-Wissen mit dem Lebendigen Gott, einem heiligen Abgleichen mit dem Grund aller Dinge.
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Wort zum Sonntag vom 3. September 2023: wachsam, gläubig, mutig
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.