Das Thema für diesen Beitrag hat sich mir von zwei Seiten nahegelegt; von einer Rückfrage in einem älteren Artikel und von dem Politwahn dieser Tage, wie er sich in deutschen Landen hochschaukelt.
Vor einigen Jahren brachte eine konservative Internetseite einen Beitrag über die verschiedenen geistigen Quellen im damaligen deutschen Widerstand. Das betont christliche Verantwortungsgefühl vieler gestand ihnen der Autor durchaus zu. Zugleich jedoch war er skeptisch geblieben. Wie vertrage sich das denn: ein ehrliches Ringen um nationale Fragen und Nöte mit einem auf Universalismus angelegten Glauben? Schwächt oder sabotiert so ein globaler Glaube ans Überirdische nicht von vornherein jeden konkreten Einsatz im Hiesigen?
Den zweiten Impuls gab mir die Hysterie auf deutschen Straßen und in den Parlamenten. Ein und dieselben Menschen, die einen «Zusammenhalt der Gesellschaft» proklamieren, verfallen in wüste Reflexe, sobald ihnen andere den Spiegel der Realität vor Augen halten, weil sie das überlieferte Eigene schützen wollen. Die einen werden dann laut und gewalttätig, andere gehen den geschmeidig-moralistischen Weg modischer Ignoranz. Längst totgeglaubte Fackelaufmärsche wie jetzt in Gießen treffen sich mit dem platten Humanismus eines Kirchenmannes. Und jeder weicht der Frage aus, was denn wirklich dem Leben und Überleben des Landes, der Nation dienen würde.
Das Dezember-Heft der Zeitschrift Crisis trägt den Titel «Heimat − Völker − Nationen». Seine Autoren stammen überwiegend aus den orthodoxen Ostkirchen, also einer im Westen politisch recht unbelasteten kirchlichen Tradition. Ich gehe im Folgenden den Grundgedanken des Hauptbeitrags entlang: «Die Nation in der Kirche», verfasst von dem rumänischen Schriftsteller und Theologen Răzvan Codrescu. Der Aufsatz hätte auch anders herum lauten können, nämlich: «Die Kirche in der Nation».
Ja, wie verhält sich nun beides zueinander: Kirche bzw. christlicher Glaube (für einen orthodoxen Christen ist beides kaum zu trennen) und Nation? Die eben skizzierte aggressive Ratlosigkeit nennt Codrescu die «Identitätskrise» als «einem der Markenzeichen des ‹modernen Menschen›». Sie sei «der Hauptfaktor für die Auflösung der traditionellen Kulturen». Entnationalisierung gehöre dabei zum «Prozess der tendenziösen Vereinheitlichung», heraus aus «gefestigten Persönlichkeiten von Gemeinschaften» und in alter kommunistischer Manier hinein in eine «getarnte Form des Totalitarismus».
Dieser neuen Masse im Wege stünden die «konzentrischen Kreise des Gemeinschaftslebens»: Familie, Nation und Kirche als die gottgegebenen Stützen für das Leben und das Heil, das gereinigte Leben. Natürlich sei der Nationalismus als glaubenslose Ideologie missbraucht worden, was es leichter macht, ihn als eine per se todbringende Krankheit zu verleumden. Doch der moderne Anti-Nationalismus läge damit mindestens gleichauf.
Codrescu bringt eine positive Analogie. So, wie der einzelne in seinem Leben das verwirklichen soll, was «seiner eigenen Besonderheit» entspricht, so sollen auch die Nationen «auf der Grundlage ihrer eigenen Tradition (…) ihren spezifischen Beitrag zur Menschheit» leisten. Auf diese Weise entstehe eine «Einheit in der Vielfalt aller Gemeinschaften». Chauvinismus hingegen beruhe «weniger auf der Liebe zur eigenen Nation als auf dem Hass gegen andere Nationen».
In einem schöpfungsgemäß natürlichen «Nationalismus» (im Sinne eines wertschätzenden Patriotismus) weiß sich der Mensch in eine Verantwortung gestellt. Ausgehend von den vorgefundenen Traditionen, schaut er, was davon in welcher Weise diesem Kulturkreis zum Leben dient.
Das Volk ist nach Codrescu die zeitliche wie überzeitliche Gemeinschaft der Generationen in einer Nation; also einer geistigen Erbfolge, in die man geboren wird oder die man nachträglich annimmt, würde ich im Sinne des Autors ergänzen. «In einer geheimnisvollen Beziehung zu jedem persönlichen Schicksal» lebt und verwirklicht sich dieses Volk.
«Die Nation wird als eine Art ‹erweitertes Selbst› eines jeden von uns wahrgenommen», wie er schreibt, und zwar mit seinen Licht- wie auch mit seinen Schattenseiten. Kein Volk ist davor gefeit, die Berufung seiner Nation zu verlassen, sie zu entwürdigen. Dann braucht es aber glaubensvolle einzelne, eine kleine Minderheit, «die der Linie der Nation folgt und sie bezeugt» und so die ganze Nation retten kann. Codrescu sieht sie in einer Analogie zu den «Gerechten» aus 1. Mose 18.
Abraham betete dort zu Gott für die vor ihrer Vernichtung stehende Stadt Sodom:
«Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose!»
Nur hatten sich schließlich keine zehn gefunden, und das Gericht nahm seinen Lauf.
Wo die Nation verabsolutiert oder nicht weniger absolut negiert wird, dort «hat der wahre Nationalist [verstanden als der nichtidealisierende Patriot] die moralische und historische Pflicht, es zurechtzuweisen und von seiner Schurkenhaftigkeit zu erwecken»; er «versucht nicht, sich einzuschmeicheln, sondern sein Volk zu entzaubern, um es von seinen derzeitigen Gebrechen und Schwächen zu befreien».
Dessen Nation soll ja mit ihrem je eigenen Charakter hervortreten und gerade damit die farbenfrohe Schöpfung bereichern. Nach den Worten des rumänischen Philosophen Andrej Pleșu brauche es dazu eine «Offensive der Kreativität».
Sind das Gedankengänge, denen mein anfänglich zitierter konservativer Skeptiker folgen könnte oder möchte? Greifen hier Glaube und nationales Denken in schlüssiger Weise ineinander? Bieten diese Hinweise heutigen Herkunftsleugnern und Hysterikern eine Brücke über ihre Reflexe und Tabus hinweg, hin zu einem demütigen Ringen um den immer neuen wie stets schon in der Tradition angebahnten nationalen Weg?
Ihr kleines Heftchen «Unser Weg durch die Nacht. Worte an meine Schweizer Freunde» aus dem Jahr 1949 beschließt die deutsche Dichterin Gertrud von le Fort mit den Worten: «Unsere Illusionen über dieses Volk, unser Stolz auf dieses Volk sind, was seine zeitgenössische Erscheinung betrifft, gefallen − unsere Liebe zu ihm nicht. Sie ist vielmehr tiefer und mächtiger denn je.»
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Wort zum Sonntag vom 26. Januar 2025: Genug geopfert!
Wort zum Sonntag vom 8. September 2024: Die Suche nach dem Geist, ebenfalls ausgehend von einem Crisis-Beitrag
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.