Vorab: Ich finde, dass diese beiden Begriffe die Sache zu sehr vereinfachen. «Die Kirche», «der Staat» − immer stecken dahinter konkrete Menschen. Und immer haben diese Menschen eigene Interessen, verfolgen die eine oder andere Agenda. Eingedenk dieser Tatsache verwende ich diese Begriffe hier.
Für mich als Christen ist das Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat permanent greifbar. Ich sitze sozusagen zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite ist Jesus mein Herr. Seine Worte sind mir Richtschnur, nach denen ich − zugegeben − mal besser, mal weniger gut lebe. Sein Sterben und Auferstehen befreien mich zum Leben. Wir nennen ihn Christus, den Gesalbten; ein Herrschertitel.
Auf der anderen Seite sagt Jesus im Johannes-Evangelium (18,36f), sein Reich sei eben nicht von dieser Welt. In dieser Welt aber sind demnach alle Christen auch Teil ganz weltlicher Institutionen, Gemeinschaften, Werteordnungen. Wir sind Staatsbürger, Untertanen, Steuerzahler.
Im Glauben sind wir frei, in der Welt aber nicht. Martin Luther hat das 1520 in seiner Schrift «Von der Freiheit eines Christenmenschen» beschrieben. « Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand Untertan.» Diese Freiheit führt in die Liebe, um deretwillen auch freiwillig auf Freiheit verzichtet werden kann. Deswegen gilt gleichzeitig: «Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.»
Glaube in der Welt ist ein dynamischer Prozess, könnte man beschönigend sagen. Leicht ist das nicht. Kirchenleitungen und -mitglieder standen und stehen vor der Frage: Wie interpretiere ich diese Freiheit und wem steht sie zu? Vor diesem Dilemma standen Christinnen und Christen immer und besonders in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die einen beantworteten die Frage mit der Gründung der Deutschen Christen, die anderen in der Bekennenden Kirche.
Freiheit funktioniert eben nicht nur in eine Richtung. Wenn eine Gruppe sich die Freiheit nimmt, zu sagen, zu schreiben und zu tun, was sie für richtig hält, gleichzeitig aber einer anderen Gruppe eben dieses Recht abspricht, dann hat das mit Freiheit nichts mehr zu tun, sondern mit Zwang.
Wer gibt also vor, was ich als Freiheit anzusehen habe? Wer gibt vor, was ich als Dienst am Nächsten anzusehen habe? Sind hier andere Meinungen erlaubt? Offenbar nicht, nein.
Am 6. Januar 2025 haben sächsische Bischöfe die ökumenische Initiative «Für alle» eröffnet. Die Idee dieser landesweiten kirchlichen Initiative: Zur Wahl aufrufen und gegen Extremismus Haltung zeigen. «Wir setzen uns ein für Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Wir setzen uns ein für Demokratie und gegen Extremismus», heißt es auf der Website.
Wenn ich das lese, möchte ich laut «Ja!» rufen. Ich unterstütze den Wunsch, demokratische Strukturen in diesem Land zu schützen und Menschen zu animieren, zur Wahl zu gehen. Denn das ist im Moment noch die beste Möglichkeit, an der politischen Willensbildung teilzuhaben; abgesehen natürlich von der Möglichkeit, sich aktiv in einer Partei hochzudienen. Auch ich setze mich für Nächstenliebe ein und meide Extremismus. Die Würde des Menschen ist auch in meinem Weltbild unantastbar.
Nach meinen Erfahrungen in den Jahren seit 2020 habe ich da aber meine Anfragen, ob es in der Initiative um die Demokratie als solche geht oder eher darum, bestimmte Willensäußerungen aus dem demokratischen Diskurs zu drängen.
Warum sage ich das? Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass jeder, der sich im kirchlichen Dienst nicht impfen ließ − oder «spiken», wie Professor Haditsch sagen würde −, nicht nur eine andere Meinung von der Lage hatte und haben durfte, sondern sich eben damit schuldig gemacht habe. Ich habe damals auch einen Brief von meiner Kirchenleitung bekommen, in dem die Impfung gegen das SarsCov2-Virus als «Nächstenliebe» bezeichnet wurde.
Mit anderen Worten: Die Ebenen wurden gewechselt − von einer säkularen, im Grundgesetz geschützten Willensäußerung hin zu einer theologisch-moralischen Ebene.
Wer sich nicht impfen lässt, der missbraucht damit − frei nach Luther − seine gottgeschenkte Freiheit, schwingt sich durch fehlende Nächstenliebe zum Herren über seinen Nächsten auf und begibt sich also in den Stand der Sünde.
Damals wurde eine Vorgabe der Regierenden, nämlich sich ein nicht ausreichend erprobtes Gentherapeutikum spritzen zu lassen, in den Kirchen landauf, landab für sakrosankt erklärt. Auch in meiner Gegend sind damals 2G-Gottesdienste gefeiert worden.
Nun also wieder dieselbe Schiene. Dieses Mal geht es um die Demokratie und wie Christinnen und Christen diese zu verstehen haben. Wenn ich mich recht erinnere, haben katholische Bischöfe in Deutschland schon klar durchgegeben, welche Partei für Christen nicht wählbar sei.
Die Verquickungen zwischen «Staat» und «Kirche» schlagen tiefe Wurzeln bis in das Denken und Handeln hinein. Ich kann keine Lösungen anbieten, aber möchte doch den Elefanten im Raum benennen.
Denn ich sitze zwischen den Stühlen. Ich bin ein Staatsbürger dieses Landes. Überzeugter Demokrat. Dementsprechend muss ich anderslautende Meinungen aushalten können. Denn das ist der Kern von Demokratie. Ich bin aber auch ein Nachfolger Christi, Miterbe des Reiches Gottes. Als solcher weiß ich, dass nichts, was wir Menschen tun oder erdenken, ewig ist.
Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen entspannt mich diese Erkenntnis immer wieder, zum anderen vertraue ich Gottes Güte mehr als der Gier und der Herrschsucht der Menschen. Dementsprechend muss ich jedem, der den gerade Herrschenden nach dem Mund redet und denselben anderen verbietet, mit Skepsis begegnen. Ich erlaube mir vielmehr, selbst zu denken. Ich erlaube mir, nein zu sagen, wenn Menschen wissentlich bevormundet oder gedrängt werden, Dinge zu tun, die sie bei klarem Verstand nie tun würden.
Der Initiative «Für alle» wünsche ich alles Gute; mögen viele Menschen zur Wahl gehen. Möge aber bitte jede Christin, jeder Christ für sich selbst, vor dem eigenen Gewissen und im Gebet vor Gott entscheiden, wo das Kreuz stehen soll.
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Wort zum Sonntag vom 12. Januar 2025: Herabsteigen von Baum und Ross
Edgar Rebbe ist Gemeindepfarrer in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Varel. Er hat sich während der Coronazeit mit seinen kritischen Äusserungen zu diversen Massnahmen nicht nur Freunde gemacht. In Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen ermutigt er zu offener Diskussion und respektvollem Miteinander.
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