Das wird nicht reichen, nur den Kopf schütteln über den neuen Wahn auf deutschen Straßen, diese Geister-Demos gegen einen Spuk von vorgestern: aufgeputschte Zehntausende, die sich einander ihres damals Aber-sowas-von-sicher-Widerstandes versichern, losgetreten durch einige wohlgelenkte Assoziationen heutiger Machthaber.
Das Ganze widerspricht so sehr dem gesunden Menschenverstand, dass man sich am liebsten gar nicht weiter damit beschäftigen würde. Aber es geht eben um mehr. Anabel Schunke hat dafür neulich in der Schweizer Weltwoche drastische Worte gefunden: «Dieses Land leidet nicht an einer kollektiven Psychose. Es ist die kollektive Psychose.»
Wo kommt die her? Offenbar sucht sich ein Etwas sein Ventil, ein Überdruck bricht sich irrationale Bahn. Die Themen, an denen er sich festmacht, weisen auf seine Quelle hin: das große große Problem des deutschen Volkes mit seinen vorangegangenen Generationen. Aber «die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen», zitiert die psychologische Beraterin Gabriele Baring aus Christa Wolfs «Kindheitsmuster» (Seite 18).
Sobald grundlegende Fragen des Zusammenlebens, der Werte, der Identität auch nur gestellt werden, triggern sie die heftigsten Reflexe der Abwehr; ein Schatten-Boxen der existentiellen Art, ausgeführt von den Kriegsenkeln, die eine sozusagen volksbiografische «Lebenswunde … offensiv zu kompensieren versuchen» (Seite 49). Besser die Fragen selbst umgehend negieren als deren Missbrauch anschauen und heilen.
«Viele grenzen aus, was sie beunruhigt», schreibt Gabriele Baring in ihrem Buch «Die Deutschen und ihre verletzte Identität». «Solange aber verschwiegen und verdrängt wird, solange wir das ominöse ‹Böse› moralisch verurteilen und von uns weisen, haftet es uns umso hartnäckiger an.» (Seite 19) Mehr noch: «Solange wir den unterschwelligen Selbsthass zulassen, sind wir eine Gefahr für uns und für andere. Solange wir uns selbst nicht lieben können, zerstören wir uns und auch andere.» (Seite 40)
Dementsprechend würden die «selbsternannten Wächter über die politische Moral» das Böse «multiplizieren (…) statt es zu eliminieren» (Seite 36). Über hasserfüllte Parolen auf den Straßen muss sich da keiner mehr wundern. In Barings Buch fällt denn auch das vielsagende Stichwort von der «Elternaustreibung» (Seite 61).
Das genaue Gegenteil besagt der allerletzte Vers des Alten Testaments.
Einer, der noch kommen werde, «soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern» und Vorvätern; Maleachi 3,24.
Einfühlsame heutige Psychologen wissen aus trauriger Anschauung, wie nötig diese Hinwendung ist, auch die späte Hinwendung, geht es doch nicht nur darum, im eigenen Leben Frieden zu finden, sondern auch, als gesellschaftliches Ganzes keine Dämonen auferstehen zu lassen − ausgerechnet dadurch, dass man sie negiert und vermeintlich bekämpft.
Gehen wir also einen Schritt hinein in diese Vergangenheit, einen behutsamen, und schauen uns an, wer diese Väter, Großväter, Urgroßväter vielleicht wirklich waren. «Wer kennt sie denn in der Welt dort draußen wirklich?» fragt einer von ihnen noch als Kriegsgefangener und beschreibt seine Altersgruppe als «die verfluchte Generation, die alles, alles bezahlen müssen − und ihr reines Herz am teuersten».
Sein erschütternd ehrliches Bekenntnis hat der französische Philosoph Emmanuel Mounier in dem Sammelband «Anthologie der deutschen Meinung» veröffentlicht. Mounier und sein Redaktionsteam haben 1947 im besetzten Deutschland eine schriftliche Umfrage unter Deutschen durchgeführt, um endlich sie selber zu Wort kommen zu lassen. Das Buch ist der repräsentative Querschnitt aller eingegangen Antworten aus allen vier Besatzungszonen, zensurfrei zusammengestellt.
«Es ist indessen ganz gewiß, daß das beste Mittel, ein Problem nicht zu lösen, darin besteht, sich immer wieder an jenen historischen Begebenheiten schadlos zu halten, die man ja gerade ändern möchte», schreibt Mounier in seinem Vorwort und uns ins Stammbuch (Hervorhebung im Original).
Ich scheue mich, das Zeugnis jenes «anonymen Kriegsgefangenen aus dem Centre von Saint-Denis» nun anhand weniger Zitate zusammenzufassen. Dafür ist es zu kompakt und zu berührend. Lassen Sie es selber in einer ruhigen Stunde wirken. Es wird dazu beitragen, eine geschundene und vielgescholtene Generation besser zu verstehen, und dieses Verstehen wird nicht ohne gute Früchte bleiben.
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Wort zum Sonntag vom 2. Februar 2025: Glaube und Nation
Wort zum Sonntag vom 26. März 2023: «Wir aber wollen leben»
Eine junge Frau vom damaligen BDM schaut zurück auf ihren falschen Gehorsam; ebenfalls dem Buch von Emmanuel Mounier entnommen.
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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