Advent. Die erste Weihnachtsfeier meines Vereins seit langem, jedenfalls für mich, die ich dem 2G-Kriterium nicht entsprochen hatte. Ich sitze einem geschätzten Vereinskollegen gegenüber; wir sprechen über die gemeinsamen Veranstaltungen im letzten Sommer und die wirtschaftliche Lage in Deutschland.
Schliesslich kommt das Thema Corona auf. Die Äusserungen meines Gegenüber lassen darauf schliessen, dass er in dieser Zeit nicht mit allen Massnahmen einverstanden war, aber nichts dagegen gesagt hatte. «Ich finde, wir sollten den Ball flachhalten und das Thema ruhen lassen», meint er. «Einige wollen da immer noch nachkarteln. Das bringt doch nichts. Alle Seiten haben Fehler gemacht.»
Ich widerspreche: «Das grösste Unrecht in dieser Zeit lag in der Diskriminierung der Ungeimpften. Es gab keinerlei sachlichen Grund dafür, und selbst wenn es den gegeben hätte: Menschen dermassen vom gesellschaftlichen Leben auszuschliessen ist immer falsch. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Das konnte man damals auch wissen.»
Das will er so nicht auf sich sitzen lassen: «Mit den Informationen, die wir jetzt haben, wäre das auch nicht passiert. Heute wird ja auch keiner mehr ausgeschlossen. Das bringt doch nur Spaltung, wenn wir jetzt noch darauf herumreiten. Wahrscheinlich ist Spaltung genau das, was diese Leute wollen, die jetzt so nachtragend sind», meint er.
«Nein», erwidere ich: «Es sind Dinge passiert, die man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen kann. Meine Mutter war im Pflegeheim monatelang auf 9 Quadratmetern eingesperrt. Allein. Sie durfte nicht raus, keinen Besuch empfangen, nicht einmal mit ihren Nachbarinnen im Pflegeheim gemeinsam essen. Nun ist sie tot. Diese letzte wertvolle Zeit miteinander ist uns gestohlen worden. – Meine Kollegin musste sich gegen ihren Willen die Corona-Spritze geben lassen, damit ihr behindertes Kind in der Klinik weiter behandelt wird. Noch heute kämpft sie mit den schweren Nebenwirkungen. Andere haben wegen der Coronamassnahmen ihre Existenz verloren. Darüber kann man nicht einfach hinwegsehen.»
Ich denke, viele von uns erleben derzeit ähnliche Gespräche. Diejenigen, die die Massnahmen unterstützt oder hingenommen haben, wollen das grosse Vergessen. Aber wäre das der Weg heraus aus der Spaltung unserer Gesellschaft? Nein. Um der Würde der Opfer willen ist es unerlässlich, dass die Wahrheit ausgesprochen wird. Vertrauen kann nur wieder wachsen, wo echte Verzeihung stattgefunden hat.
Die aber kann es nur geben, wenn der Täter das Opfer um Verzeihung gebeten hat. Man kann nicht «sich entschuldigen»; man kann als Täter nur um Entschuldigung bitten und muss den nächsten Schritt ganz dem guten Willen des Opfers überlassen – gleichwie jenes seinerzeit dem eigenen ungerechten Tun ausgeliefert war. Es ist schwer, die eigene Schuld anzuerkennen und den Opfern ins Gesicht zu schauen; je grösser die Schuld, desto schwerer. Aber nur so aber kann eine Läuterung stattfinden, damit nie wieder Ähnliches passiert.
Dann gibt es noch die andere Seite: die je eigene, ganz persönliche. Wer in der Coronazeit Unrecht erlitten hat, trägt schwer daran. Das Erlebte hängt wie ein Rucksack an den Schultern. Wie können wir weitergehen, ohne dass uns dieser Rucksack ständig die Kraft raubt?
Von so einer Situation hat Jesus gesprochen und das mit dem Aufruf verbunden:
«Kommt zu mir alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen»; Matthäus 11, Vers 28.
Vor Jesus können wir auch die Wahrheit aussprechen, die noch keiner hören will, und denen vergeben, die uns Unrecht getan haben, weil Er alle menschliche Schuld auf Golgatha bereits getragen hat.
Das tun wir nicht, damit die anderen billig wegkommen. Sondern damit man den Rucksack, den sie einem beschwert haben, nicht weiterhin selber tragen muss.
Das ist also die ganz persönliche Ebene der Vergebung. Verzeihung hingegen ist ein zwischenmenschliches Geschehen, das das Eingeständnis des anderen voraussetzt. Und nur auf diese Weise könnte dann – vielleicht – auch neues Vertrauen wachsen. Dem anderen wäre eine Zeit gewährt, um sich neu als vertrauenswürdig zu erweisen.
«Vergeben und vergessen» also? Vergeben ja – damit die böse Tat des anderen nicht meine eigene Zukunft bestimmt. Vergessen nein – um der Würde der Opfer willen und auch, damit die Täter über ihr Unrecht hinauswachsen können und wieder echter Friede in dieser Gesellschaft möglich wird. Aber verzeihen, wo das auf Augenhöhe möglich ist.
Bearbeitet um 12.45 Uhr: die Ergänzungen zum Strafrecht wieder gelöscht. Der Artikel soll als Ganzes auf der persönlichen Ebene bleiben; d. Red.
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Anne-Barbara Laufs ist Pfarrerin und Studienrätin, geboren 1977 in Mannheim; Studium der evangel. Theologie, Arabistik und Musikgeschichte in Heidelberg und Edinburgh, nach dem Vikariat seit 2007 im gymnasialen Schuldienst; verheiratet und Mutter von drei Kindern.
Wort zum Sonntag vom 27. November 2022: Brav traditionell geht nicht länger
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