Diesen Artikel als Podcast hören:
Die ukrainische Bevölkerung schrumpft dramatisch. Bereits vor dem Einmarsch Russlands befand sich die Ukraine in einer schweren demografischen Krise. Das stellt der ungarische Journalist Gábor Stier in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag für das Portal Demokrata fest.
Die rasant sinkende Geburtenrate sowie die Auswanderung von etwa zehn Millionen Menschen haben demnach die Entwicklung bestimmt. Zudem habe der zweieinhalb Jahre anhaltende Krieg Hunderttausende von Opfern gefordert.
Stier verweist auf Schätzungen der UNO, wonach die ukrainische Bevölkerung von 50 Millionen im August 1991 bei der Unabhängigkeitserklärung bis zum Jahr 2100 auf etwa 15 Millionen zurückgehen wird. Das sei eine Katastrophe für die Ukraine und werde deren Zukunft grundlegend bestimmen.
«Die Ukraine hat bereits eine große Auswanderungswelle erlebt, aber nach offiziellen Angaben versuchen immer noch jeden Tag etwa 200 Männer im wehrfähigen Alter, das Land zu verlassen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2024 haben etwa 400.000 Menschen die Ukraine verlassen, obwohl die europäischen Vergünstigungen gesunken sind.»
Nach Angaben der Nationalbank der Ukraine leben inzwischen 6,7 Millionen Ukrainer im Ausland. Es sollen aber während des Krieges noch viel mehr Menschen das Land verlassen haben, so Stier.
Er verweist auf Statistiken, denen zufolge 1,1 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Deutschland leben, fast eine Million in Polen, 360.000 in der Tschechischen Republik und etwa 60.000 in Ungarn. Nicht mitgezählt seien die Flüchtlinge in Russland, deren Zahl von der UNO auf drei Millionen und von den russischen Behörden auf fünf Millionen geschätzt würden.
Ein neues Ministerium in Kiew solle Abhilfe schaffen und sich mit der Rekordabwanderung befassen, heißt es. Es soll den Vorstellungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj nach viele der ausgewanderten Ukrainer zurücklocken.
Selenskyj sehe aber als Ursache des Problems nur den Einfluss der russischen Propaganda, weil Moskau versuche, den Ukrainern die kulturelle Bindung an ihre Heimat zu nehmen. Deshalb solle das Ministeriums dem russischen Einfluss auf ukrainische Bürger, die das Land verlassen, entgegenwirken, so die Leitlinien des Präsidenten.
Die Probleme begannen nicht mit dem Krieg, schreibt Stier, «er beschleunigte nur eine sich bereits dramatisch verschlechternde demografische Entwicklung. Bereits vor 2022 gehörte die Ukraine zu den 23 Ländern, für die nach UN-Angaben bis 2050 ein Bevölkerungsrückgang von 20 Prozent und bis zum Ende des Jahrhunderts von 50 Prozent prognostiziert wurde.»
Seit der Unabhängigkeit sei die jährliche Zahl der Geburten von mehr als einer halben Million Kinder in der Ukraine auf 364.000 im Jahr 2017 und auf 187.000 in den frühen 2020er Jahren gesunken, «ein Trend, der unaufhaltsam zu sein scheint». Nach Angaben von Opendatabot (ein Dienst, der die Überwachung der Registrierungsdaten ukrainischer Unternehmen und des Gerichtsregisters ermöglicht) wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2024 in der Ukraine 87.655 Kinder geboren, ein Rückgang von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Derzeit würden auf jede Geburt in der Ukraine laut den verfügbaren Daten drei Todesfälle kommen, aber schon zwischen 2018 und 2020 seien auf jede Geburt zwei Todesfälle gekommen. Nach den Statistiken des ukrainischen Gesundheitsministeriums sei die Zahl der Geburten im Land seit 2013 um rund sieben Prozent pro Jahr gesunken.
Die demografische Krise werde durch den Verlust von Menschenleben im Krieg, der je nach Quelle auf 150.000 bis eine halbe Million Menschen geschätzt werde, noch verschärft. Der Journalist geht davon aus, dass die Zahl der Todesopfer sich schätzungsweise um die 200.000 bewegt.
Zudem hätten in den bisherigen zweieinhalb Jahren des Krieges nach UN-Angaben etwa zehn Millionen Ukrainer ihren Wohnort verlassen, die meisten von ihnen auch das Land.
«Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars gibt es keine Anzeichen dafür, dass Flüchtlinge im Ausland massenhaft über eine Rückkehr nachdenken. Die Folgen der Auswanderung sind noch gravierender, wenn man bedenkt, dass nach Angaben der Weltorganisation 47 Prozent derjenigen, die die Ukraine verlassen, Frauen und 33 Prozent Kinder sind.»
Wenn die ins Ausland geflohenen Frauen nicht in die Ukraine zurückkehren, werde die Bevölkerungswachstumsrate des Landes – die Zahl der Geburten pro Frau – bereits auf 0,71 sinken, die niedrigste in der Welt. Das hat Stier zufolge Ila Libanova festgestellt, Direktorin des Forschungsinstituts für demografische und soziale Angelegenheiten der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.
Die demografischen Schäden würden sich auch deshalb langfristig auf die ukrainische Gesellschaft auswirken, weil die Alterspyramide von der Altersgruppe der 35- bis 50-Jährigen dominiert werde. Damit sich die demografische Situation verbessert, müsse die Schicht der 25- bis 35-Jährigen gestärkt werden, derjenigen also, die sich in der aktiven Fortpflanzungsphase befinden.
«Diese Verzerrung wird sich sehr stark auf die ukrainischen demografischen Indikatoren auswirken, und die Verlängerung des Krieges wird diese Trends dauerhaft machen. Die Ukraine steht also vor einer Entvölkerung.»
Die dramatische Verschlechterung der demografischen Indikatoren wirke sich bereits direkt auf den Verlauf des Krieges aus, da das Mobilisierungspotenzial des Landes im dritten Kriegsjahr stetig abnehme. Hinzu kämen die wirtschaftlichen Folgen der fortgesetzten Mobilisierung der männlichen Arbeitskräfte als Soldaten.
Eine Beendigung des Krieges würde die Wirtschaft etwas entlasten, aber damit würde die zunehmend dramatische demografische Situation sich nicht mehr ändern, so Stier. Viele der Probleme der Ukraine würden auch nach dem Krieg bestehen bleiben.
«Deshalb können wir feststellen, dass die Ukraine bereits verloren hat, unabhängig vom Ausgang des Krieges.»