Es war der 6. Oktober 1973, als eine Koalition arabischer Staaten unter der Führung Ägyptens und Syriens einen Überraschungsangriff auf Israel startete, um das Gebiet zurückzuerobern, das Tel Aviv 1967 im Sechstagekrieg eingenommen hatte. Damals hatte Israel in einer Blitzaktion grosse Teile Palästinas besetzt, darunter das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen.
Fünfzig Jahre später weckt der Überraschungsangriff der islamistischen Hamas auf israelisches Gebiet rund um den Gazastreifen bei vielen Menschen Erinnerungen an den damaligen sogenannten Jom-Kippur-Krieg. Dieser erhielt seinen Namen, weil am 6. Oktober 1973 der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur stattfand.
Sowohl der Konflikt zwischen der Hamas und Israel selbst als auch die Befürchtung, dass sich dieser Konflikt durch die Beteiligung anderer Staaten, darunter der Iran, ausweiten könnte, lassen Befürchtungen aufkommen, die mit denen vergleichbar sind, die die gesamten 1970er Jahre in wirtschaftlicher Hinsicht geprägt haben.
Nouriel Roubini, Professor an der Stern School of Business der New York University, stellte fest, dass die Möglichkeit einer albtraumhaften Eskalation des Konflikts mit dem Iran real ist, auch wenn er klarstellte, dass dies nicht das wahrscheinlichste Szenario ist. Doch sollte es zu einer solchen Eskalation kommen, «wird natürlich die Versorgung mit Öl aus dem Golf unterbrochen und die Ölpreise werden in die Höhe schnellen», so Roubini. «Die wirtschaftlichen Auswirkungen wären enorm.»
Was den Jom-Kippur-Krieg angeht, so hatte die OPEC am 17. Oktober 1973, also elf Tage nach Beginn der Auseinandersetzung, unter Führung der arabischen Länder ein Ölembargo gegen die USA verhängt. Und die OPEC-Länder hatten sich verpflichtet, das Embargo so lange aufrechtzuerhalten, bis Israel sich aus allen im Jahr 1967 besetzten Gebieten zurückgezogen hat.
Zwar wurde das Embargo 1974 nach Friedensgesprächen aufgehoben. Doch unmittelbar nach dessen Verhängung waren die Ölpreise weltweit angestiegen, und als Folge davon sahen sich die USA dazu genötigt, ihre Unterstützung für die israelische Seite zu überdenken. Tatsächlich vervierfachte sich der Preis des schwarzen Goldes, und in Verbindung mit anderen Faktoren führte der «Ölpreisschock» von 1973 zu einem fast zehn Jahre andauernden kümmerlichen Wachstum mit einer konstant hohen Inflation. Heute nähren die Entwicklungen im Nahen Osten in Verbindung mit der bestehenden Inflation die Befürchtung, dass wir fünfzig Jahre später vor einer ähnlichen Ära stehen könnten.
Diese Befürchtungen werden auch von Henry Allen, einem Strategiespezialisten der Deutschen Bank, geteilt. Er ist der Auffassung, dass es, «wenn wir heute auf die 1970er Jahre zurückblicken, eine auffallende Anzahl von Parallelen zu unserer eigenen Zeit gibt». Allen befürchtet vor allem, dass sich diese Art von anhaltender Inflation bei nur geringem Wachstum, genannt «Stagflation», wiederholen könnte. Er nannte eine Reihe von Gründen, die ihn beunruhigen, darunter vor allem die Möglichkeit eines weiteren Ölpreisschocks.
«Die offensichtlichste Parallele zwischen den 2020er und den 1970er Jahren ist der Anstieg der Energiepreise, insbesondere der Ölpreise», so Allen.
Allen verweist zudem auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der in Verbindung mit den Sanktionen, die verhängt wurden, die Ölpreise Anfang 2022 innerhalb von nur drei Monaten von etwa 80 US-Dollar pro Fass auf über 139 US-Dollar hat ansteigen lassen. Bis Juni dieses Jahres fielen die Preise dann wieder langsam auf etwa 74 US-Dollar ab. Aber das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage hat den Ölpreis wieder nach oben gedrückt.
Auch andere Krisen haben dazu geführt, das der Ölpreis nach oben katapultiert wurde. So geschehen im Jahr 1979, als die sogenannte Iranische Revolution die iranische Ölproduktion lahmgelegt hatte, was zu einem Rückgang der weltweiten Rohölproduktion um etwa 7 Prozent führte. Im Jahr 1980 begann dann der iranisch-irakische Krieg, der weitere Kürzungen der Ölproduktion nach sich zog. Und so kam es, dass die Rohölpreise zwischen Anfang 1979 und Februar 1981 von unter 10 auf 34 US-Dollar pro Fass kletterten.
Allen weist auch darauf hin, dass die Zentralbanken durch steigende Ölpreise in eine schwierige Lage geraten. Denn diese treiben die Inflation nach oben, wodurch die Zentralbanken unter Druck stehen, die Zinsen zu erhöhen. Das wiederum wirkt sich tendenziell negativ auf das Wirtschaftswachstum aus.
Abgesehen von der Möglichkeit eines weiteren Ölpreisschocks, so Allen weiter, sei ebenfalls zu bedenken, dass die Inflation in vielen Ländern der Welt immer noch deutlich über den Zielvorgaben der Zentralbanken liegt. Und das sei auch in den 1970er Jahren der Fall gewesen. Dabei seien die Ökonomen, wenn man sich die Geschichte anschaut, wohl in Bezug auf die Entwicklung der Inflation zu positiv eingestellt gewesen.
«In den 1970er Jahren waren die Prognosen wiederholt zu optimistisch, da die Hartnäckigkeit der Inflation unterschätzt wurde», schrieb Allen.
Auch die Forderungen der Arbeitnehmer, den Kaufkraftverlust durch Lohnerhöhungen auszugleichen, erinnern Allen an die 1970er Jahre. Damals seien die Löhne der US-Arbeitnehmer um sieben, acht oder neun Prozent pro Jahr erhöht worden, um die Preissteigerungen auszugleichen.
Eine Wiederholung der Ölkrise von 1973 steht aber wohl derzeit nicht auf der Tagesordnung. Eine solche wäre dann nicht ausgeschlossen, wenn der Konflikt zwischen Israel und der Hamas eskalieren würde. Laut Daniel Yergin, einem Analysten von S&P Global, Pulitzer-Preisträger und Autor mehrerer Bücher über die Energiemärkte und den Kalten Krieg, ist die grosse Frage, ob der Iran in den Krieg verwickelt wird.
Neben den Parallelen gebe es allerdings auch bedeutende Unterschiede zwischen der jetzigen Situation und der in den 1970er Jahren. So hätten dem Analysten der Deutschen Bank zufolge die Zentralbanken vor 50 Jahren weltweit nur langsam entschieden, die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation einzudämmen. Schaue man hingegen auf heute, so lasse sich feststellen, dass der Straffungszyklus schon seit vielen Monaten im Gange ist.
Auch hätten sich Allen zufolge die Lieferketten, nachdem sie durch die «Corona-Zeit» noch jahrelang unterbrochen gewesen seien, «im Allgemeinen erholt». Und die Volkswirtschaften seien heutzutage viel weniger auf Öl angewiesen, als dies noch in den 1970er Jahren der Fall gewesen sei. Allen:
«Ein Energieschock in den 1970er Jahren konnte viel mehr wirtschaftlichen Schaden anrichten als heute, weil unsere Volkswirtschaften viel stärker auf Energie basierten.»
Aber die Wolken bleiben. So verweist der Experte darauf, dass «die Inflation in allen G7-Ländern immer noch über dem Zielwert liegt, auch wenn sie seit ihrem Höchststand zurückgegangen ist». Und die 1970er Jahre hätten uns gezeigt, wie neue Schocks starke Ausschläge auslösen können.
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