Transition News : Medienberichten zufolge sind in den letzten Tagen Hunderttausende Menschen auf die Strasse gegangen. Das kurz nach den vielbeachteten Bauernprotesten. Werden die Deutschen ein Protestvolk?
Rudolph Bauer: In Bezug auf die Bauernproteste und die Demonstrationen «gegen rechts» muss unterschieden werden. Die Bauern protestieren für ihre Interessen, gegen die Politik einer Regierung, die den Landwirten schadet und die Nahrungsmittelgrundversorgung der gesamten Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht. Bei den Demonstrationen am Wochenende hingegen handelt es sich meines Erachtens um Loyalitätsbekundungen gegenüber den Regierenden einschliesslich der Opposition aus CDU/CSU und der Partei Die Linke.
Das parlamentarische Parteiensystem hat es verstanden, in einer konzertierten Aktion, zusammen mit den Medien, den Kirchen und den Gewerkschaften, eine Propaganda-Show zu veranstalten, die doppeldeutig ist. Vom Anlass her wendet sie sich «gegen rechts», von der Zielsetzung her dient sie unverkennbar der Loyalitätsbeschaffung und Herrschaftssicherung.
Die Bauernproteste wenden sich gegen «die da oben». Die Kundgebungen am Wochenende sind Ergebnis einer gesteuerten Propagandakampagne für das etablierte System. Ihr Ziel ist es nicht zuletzt, von den Anliegen der Bauern – oder auch der Streikenden bei der Bahn – abzulenken. Das Protestvolk der Deutschen ist, wenn man so will, gespalten in die, welche sich für ihre Interessen einsetzen und gegen die Regierung opponieren, und jene, die sich faktisch das Interesse der Etablierten und ihrer Herrschaftssicherung zu eigen machen, ohne sich dessen allerdings mehrheitlich bewusst zu sein. Gegen den Rechtsextremismus zu sein ist moralischer Common sense.
TN: Die Demonstrationen richten sich «gegen rechts», und den Anstoss gab ein fragwürdiger «Correctiv»-Bericht über ein Treffen rechter Politiker und
Intellektueller. Wie schätzen Sie das ein?
Bauer: Der Sachverhalt, nach dessen Einschätzung Sie fragen, hat nicht nur zwei, sondern drei Dimensionen: Einerseits haben sich verschiedene Personen, die als «rechts» gelten, in einem Potsdamer Hotel zu Vorträgen mit Diskussion getroffen. Warum eigentlich nicht? Was ist daran Besonderes? Andrerseits wurde dieses Treffen durch Mitarbeiter einer sich «Correctiv» nennenden Journalistenagentur ausgekundschaftet. Gut, warum nicht; Recherche ist okay, wenn sie in eine objektive Berichterstattung einmündet. Drittens erfolgte dann aber eine skandalisierende, medial breit orchestrierte Berichterstattung.
Die Skandalisierung wurde dergestalt inszeniert, dass der Bericht über das Potsdamer Treffen einen ganz bestimmten historischen Zusammenhang rekonstruierte, um das kollektive deutsche Schuldsyndrom der Juden- und Gefangenendeportationen zu triggern. Aufgrund dieser verletzlichen Flanke ihrer historischen Schuld werden in der deutschen Bevölkerung moralische Energien mobilisiert, die in der Auseinandersetzung mit der AfD jede sachliche Auseinandersetzung verunmöglichen. Diese moralisierenden Momente werden immer wieder in Stellung gebracht – natürlich auch, um von Anderem abzulenken.
TN: Warum gehen gegen die angeblich neue Gefahr des Faschismus so viele Menschen auf die Strassen – Menschen, die das nicht taten und nicht tun im Zusammenhang mit der Corona-Politik, der Kriegspolitik, dem Sozialabbau, der alle, nicht nur die Bauern und den Mittelstand, trifft?
Bauer: Wie gesagt, hier wirkt der kollektive deutsche Schuldkomplex. Über Jahrzehnte hinweg wurde in den Schulen, im Film, in den Medien usw. so etwas wie eine postfaschistische deutsche Identität geschaffen und gepflegt. Sie speiste und speist sich aus der berechtigten Verurteilung des historischen Nazifaschismus. Entscheidend aber ist: In der Abgrenzung gegenüber dem Nazifaschismus hat sich eine Art neuer «Volksgemeinschaft» konstituiert.
Was 1933 bis 1945 die arische NS-Volksgemeinschaft gewesen ist, ist heute die «antifaschistische» Anti-AfD-Volksgemeinschaft eines Grossteils all jener, die man in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht durchaus gegnerischen Lagern zuordnen kann. Ähnlich wie die neue Volksgemeinschaft gegen den Rechtsextremismus konstituierte sich in der Corona-Zeit eine Art Volksgemeinschaft gegen sogenannte Corona-Leugner, Impfgegner und Massnahmenkritiker. Das Engagement für die Grundrechte wurde als «rechtsaffin» denunziert und solcher Art ausgegrenzt und entwaffnet.
TN: Wie ist die in dem Zusammenhang geäusserte Warnung vor einem neuen
Faschismus zu bewerten?
Bauer: Ein «neuer Faschismus», der eine Neuauflage des alten ist, stellt durchaus eine Gefahr dar. Ich nenne das die Gefahr des Retrofaschismus, des rückwärtsgewandten Faschismus. Doch eine weitaus grössere Gefahr ist ein «neuer Faschismus», der sich als Gegner des alten inszeniert und ihn zwar abstrakt negiert, der aber im Kern totalitär ist. Meine Grundüberzeugung lautet: In Krisenzeiten – und in solchen befinden wir uns – ist die Gefahr des Umbruchs hin zu einer faschistischen Diktatur nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil.
Aber da hilft kein Warnen, da helfen keine Kundgebungen und Demonstrationen. Die gab es vor 1933 übrigens auch, und das Ergebnis ist bekannt. Vielmehr ist bzw. wäre eine Politik erforderlich, die gegen Krisen ansteuert, falls sie diese nicht rechtzeitig erkannt und verhindert hat. Nicht das Warnen hilft, sondern ein politisches Handeln, das einer faschistischen Entwicklung den Nährboden entzieht. Und daran hapert es, und zwar lange schon.
TN: Politiker der viel kritisierten und von vielen Menschen abgelehnten «Ampel»-Koalition freuen sich über die Demonstrationen, weil diese die Demokratie verteidigen und retten würden. Wie sehen Sie das?
Bauer: Die Demokratie rettet man nicht durch Demonstrationen. Siehe Weimarer Republik. Demokratie erfordert Auseinandersetzung – auch konkret «mit rechts», nicht abstrakt «gegen rechts». Demokratie basiert auf der Anerkennung der Grundrechte, der Meinungsfreiheit und der offenen Kritik. Wenn Politiker der «Ampel»-Koalition die Demonstrierenden loben, dass sie die Demokratie verteidigen und retten, stehlen diese Politiker sich aus der Verantwortung. Die parlamentarische Demokratie nimmt in erste Linie durch Diejenigen Schaden, die ihre Aufgaben als Volksvertreter nicht ernsthaft und mit Leidenschaft wahrnehmen. In der parlamentarischen Demokratie übertragen die Wähler den Gewählten die Verantwortung für die Erhaltung und Wahrung der Demokratie. Konsequenterweise müssten die Demonstranten «gegen rechts» sich eigentlich gegen diejenigen wenden, deren Politik dazu beiträgt, dass sich ein Teil der Wähler von ihnen ab- und der AfD zuwendet.
TN: Demokratie wird dabei als Zustand einer Gesellschaft behandelt, nicht als Prozess und gesellschaftliches Verfahren, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Zudem gefährdet die regierende Politik nicht erst mit der Corona-Politik, aber insbesondere mit und seit dieser, die Demokratie, die auch von Widerspruch und Gegenrede lebt. Was ist von den Reden zur Demokratie bei den Demonstrationen zu halten?
Bauer: Der Hinweis auf die Corona-Politik macht darauf aufmerksam, welch ein gefährliches und letztendlich undemokratisches Verständnis von Demokratie gegenwärtig, auch bei den Pro-Demokratie-Demonstranten, vorherrscht. Die allermeisten derjenigen, die moralisch überzeugt «gegen rechts» auf die Strasse gehen, waren bei den Kundgebungen und Demonstrationen gegen die autoritären Corona-Massnahmen nicht nur nicht dabei. Im Gegenteil, sie stimmten obrigkeitshörig und staatsfromm in den Chor der Corona-Paniker und Impf-Neurotiker ein.
Es hat den Anschein, als ob sich Orwell bewahrheitet: Demokratie ist Diktatur, Diktatur ist Demokratie. Oder um es zugespitzt zu formulieren: Antifaschismus ist Faschismus, und Letzterer dekoriert sich als antifaschistisch. Wir erleben gegenwärtig nicht nur aggressiven Militarismus, mörderische Kriege, Waffenexporte und militärische Aufrüstung, sondern eine vielgestaltige moralisch-ideologische Aufrüstung, die ins Totalitäre tendiert. Es entwickelt sich eine neue Art von Faschismus, die vorgibt, die Gesellschaft vor dem alten, dem Retrofaschismus, zu schützen.
Die Demonstrierenden «gegen rechts» erinnern mich in mancher Hinsicht an das Biedermeier. Nach den [am 20. September 1819 bewilligten] drakonischen Karlsbader Beschlüssen gegen die «Demagogen» der Freiheitsbewegung des Vormärz herrschte das politische Biedermeier des kritiklosen bürgerlichen Gehorsams, der Anständigkeit und der unterwürfigen Angepasstheit an die Obrigkeit.
Prof. Rudolph Bauer (Foto: privat)
Prof. Dr. Rudolph Bauer (Jahrgang 1939) ist Politikwissenschaftler und Sozialforscher. Er war unter anderem von 1972 bis 2002 Professor für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen. Arbeitsaufenthalte führten ihn nach China sowie in die USA. Er ist Autor und Herausgeber wissenschaftlicher Veröffentlichungen, Verfasser politischer Lyrik und von Bildmontagen. Mehr unter http://rudolph-bauer.de/
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