Die Einführung eines Sozialpunkte-Systems wurde im Bundesministerium für Bildung und Forschung schon vor der Pandemie diskutiert und seine Akzeptanz in der ausführlichen Studie «Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land» erforscht. Nach aktueller Auffassung soll es erst nach 2030 realisiert werden und freiwillig sein. Eine alle erfassende Verhaltenssteuerung durch den Staat könnte schon in wenigen Jahren mehrheitsfähig werden.
Erstellt wurde die Studie von der Berliner Niederlassung der Prognos AG und der Z_punkt GmbH. Die Erhebung der Daten und die Auswertung erfolgten zwischen Juli und Dezember 2019, also vor der Pandemie. Veröffentlicht wurde die Studie im August 2020. Ein zweiter Bericht mit der Analyse der während der Pandemie eingetretenen Veränderungen ist in Aussicht gestellt.
Die Studie ist in politisch korrekter Sprache gehalten und oft nicht ohne weiteres zu verstehen: «Analysen und Befunde sollen nicht nur im Kontext der aktuellen, durchaus widersprüchlichen Wertediskussion betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Zukunftswelten bezogen werden.» Geht es da um eine unverbindliche Debatte oder konkrete politische Absichten? Eine Antwort wird erst die Zukunft liefern.
Zur Zielsetzung der Studie heisst es:
«Die Ergebnisse der vorliegenden Studie stellen keine Prognosen oder finalen Antworten auf die Studien-Leitfragen dar. Vielmehr zielen sie darauf ab, im Sinne der Strategischen Vorausschau, ein breites Spektrum an möglichen Zukünften und Entwicklungspfaden aufzuzeichnen – und dabei auch zu einem Diskurs über die Zukunft anzuregen.»
Die Studie untersucht sechs verschiedene Szenarien. Diese sind offensichtlich nicht als Alternativen – entweder oder – zu verstehen, sondern als sich ergänzende Teilszenarien, deren Gewicht noch offen ist.
Die sechs Szenarien:
- Eine europäisch denkende und handelnde Gesellschaft, die gemeinsam mit den EU-Partnern selbstbewusst die eigenen Interessen und Vorstellungen vertritt und dabei auch bereit ist, sich bewusst vom Rest der Welt abzugrenzen: der europäische Weg.
- Eine durch weitreichende ökonomische Deregulierung geprägte Gesellschaft, die sich massgeblich an den Paradigmen des grösstmöglichen Wettbewerbs und des Leistungsprinzips orientiert, in der aber nicht alle das hohe Tempo mitgehen können: Wettbewerbsmodus.
- Eine Welt, in der Deutschland gegenüber den starken geopolitischen Blöcken nach seiner Identität sucht und einem Trend der Re-Lokalisierung folgt: Rückkehr der Blöcke.
- Eine sozial stark ausdifferenzierte Gesellschaft mit einem deutlichen regionalen Gefälle und einer handlungsschwachen Politik, die zugleich eine hohe Durchdringung von digitalen Technologien aufweist: Tempounterschiede.
- Eine Gesellschaft, in der digitale Parameter die Rahmenbedingungen setzen, in der soziales Engagement über ein Punktesystem entsprechend erfasst und belohnt wird, die aber auch eine Tendenz der Desintegration und Spaltung enthält: das Bonus-System.
- Eine Welt, in der ein zunehmend dynamischer Klimawandel zur Herausbildung neuer ökonomischer Leitbilder, zu sozialen Innovationen und Dezentralisierungstendenzen, aber auch zu Wohlstandseinbussen führt: ökologische Regionalisierung
Zum Bonus-System schreiben die Autoren der Studie:
Für bestimmte Verhaltensweisen können im Punktesystem, das vom Staat betrieben wird, Punkte gesammelt werden (z. B. Ehrenamt, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten, CO2-Abdruck).
Neben der sozialen Anerkennung ergeben sich durch das Punktesammeln auch Vorteile im Alltag (z. B. verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge). Somit können Staat und politische Institutionen bestimmte Ziele über Anreize zur Verhaltensänderung verwirklichen (z. B. Steuerung des Arbeits- und Bildungsmarkts) und auch zukünftiges Verhalten genauer prognostizieren.
Bürgerinnen und Bürger bringen in der Digital Liquid Democracy Themen auf die Agenda und stimmen über kritische Fragen ab. Unternehmen haben die Möglichkeit, an das Punktesystem anzudocken und die Daten nach vorheriger Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger (etwa personalisierte Risikoprämien) zu monetarisieren. (S. 123)
Wie realistisch ist das Eintreten dieses Szenarios? Dazu heisst es in der Studie:
Der Psychologe Gerd Gigerenzer warnt: «Wenn wir nichts tun, wird eines Tages ein Unternehmen oder eine staatliche Institution die verschiedenen Datenbanken zu einem einzigen Sozialer-Kredit-Score zusammenführen.» Erste Schritte in diese Richtung seien getan mit der SCHUFA (z. B. Geoscoring) und Telematik-Tarifen. Eine Umfrage von YouGov zeigt bereits für die Gegenwart eine gewisse Akzeptanz auf: Jede bzw. jeder sechste Deutsche spricht sich heute für ein Sozialkredit-System wie in China aus, mit 25 % der Befragten befürworten nochmal mehr eine Belohnung für gutes Verhalten. Auf die Frage «Was müsste sich in unserem Land ändern?» gaben in der CAPI-Befragung 22 % der Befragten an: «Der Staat sollte das Verhalten stärker lenken, z. B. durch Anreize.»
Die Logik (digitaler) Punktesysteme ist auch in anderen Bereichen bereits fest im Alltag verankert, beispielsweise im Credit-System des Bologna-Prozesses der europäischen Hochschulreform. Der Soziologe Armin Nassehi zeigt auf, wie bereits im 19. Jahrhundert mithilfe von Sozialstatistiken Verhaltensmuster und Regelmäßigkeiten entdeckt wurden. Die Digitalisierung habe diese Datenanalyse schlicht perfektioniert und – nach der Entstehung der Nationalstaaten und der Moderne – zu einer «dritten Entdeckung der Gesellschaft» geführt. Die Komplexität der gesellschaftlichen Moderne sei dadurch erst sichtbar geworden.
In Deutschland gibt es bereits seit längerem «grüne Hausnummern», etwa im Landkreis Lüneburg. Eine solche wird dort verliehen, wenn Gebäude bestimmte Kriterien erfüllen. Vilshofen ging einen Schritt weiter und plante für 2020 «grüne Hausnummern», die man bekomme, wenn man ein nachhaltiges Leben führe – beurteilt werde dies anhand von 51 Kriterien, wie etwa dem Fleischkonsum, dem Stromverbrauch und der Nutzung des öffentlichen Verkehrs.
In dem Expertinnen- und Experteninterview wurde herausgestellt, dass Menschen aus Bequemlichkeit gerne ihre Daten herausgeben und es akzeptieren, ihre Freiheit bzw. Kontrolle einzuschränken: «Durch die Bequemlichkeit neuer Technologien ist die ‹Öffnungstendenz› grösser als die ‹Sicherungstendenz›».
Gemäss einer 2019 veröffentlichten Studie des Versicherungskonzerns ERGO würde es jede bzw. jeder Fünfte in Deutschland begrüssen, wenn in Deutschland ein Sozialkredit-System ähnlich wie in China eingeführt würde.
Einer These von Ivan Krastev zufolge könnte die Covid-19-Krise die Attraktivität von auf Big Data basierendem Autoritarismus, wie ihn die chinesische Regierung pflegt, steigern, da man hier die Effizienz der Antwort und die Fähigkeit des chinesischen Staates gesehen hat, die Bewegungen und Verhaltensweisen seiner Bevölkerung zu kontrollieren.
Kommentar Corona-Transition:
Studien widerspiegeln weniger das Bild der kollektiven Wahrnehmung einer Situation – ermittelt durch Umfragen und Expertengesprächen – sondern die Absichten der Auftraggeber. Ein Sozialpunkte-System nach chinesischem Vorbild ist daher gewollt.
Man hätte ja auch die Akzeptanz der direkten Demokratie und ihre schrittweise Einführung untersuchen können. «Der grösste Nachholbedarf besteht aus Sicht der Bürger bei der direkten Demokratie», stellten die Bertelsmann-Stiftung und das Bundesland Baden-Württemberg in der Studie «Vielfältige Demokratie» von 2014 fest.
Wenn es dem Bundesministerium für Forschung und Bildung wirklich darum gegangen wäre, «Zukünfte» nach den Wünschen der Bürger zu erforschen und zu entwickeln, dann hätte die direkte Demokratie an die erste Stelle gehört. Dass der Begriff in der Studie nur beiläufig in einer Anmerkung vorkommt, die «Digital Liquid Democracy» dafür gleich vier Mal (aber nie definiert wird), sagt einiges aus.
Nebenbei bemerkt: Gemäss der Bertelsmann-Studie kommt die «Online-Beteiligung» unter allen Formen der Bürgerbeteiligung am schlechtesten weg (S. 13). Sie wird per saldo sogar abgelehnt. Genau das aber soll mit der Digitalisierung gefördert werden.