«In der Welt von Bibi gibt es keinen Wert, keinen Maßstab und keine Bedeutung für irgendetwas anderes als das allmorgendliche Treuegelöbnis gegenüber dem Führer Benjamin Netnayahu.» So beginnt der israelische Journalist Chaim Levinson seinen kritischen Beitrag über die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Lage in Israel.
In Haaretz stellt Levinson fest, dass die «Bibi-Bewegung» darauf abzielt, Wahrheit, Objektivität und guten Geschmack abzuschaffen. Es gebe kein «gut» oder «schlecht», nur wie laut jemand «ich bin ein Bibiist» schreie. Jeder könne Bibiist sein, egal ob kriminell oder erfolgreich, solange man im richtigen Lager bleibe. Die Likud-Partei habe kein Programm, nur Bibi.
Als Beispiel berichtet Levinson über einen Vorfall vom letzten Samstag, der einen landesweiten Aufruhr auslöste: Bibi-Anhänger verprügelten Gadi Kedem, der bei dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober seine Familie verlor und an einem Protest gegen den Premierminister teilnahm. «Gut, dass sie deine Kinder getötet haben, du Verräterhure», schrien die Rechtsextremen vor dem Angriff Kedems Frau Reuma an.
Uri Harush, ein mehrfach verurteilter Krimineller, trat Kedem gegen den Kopf und prahlte damit. Harush hat laut dem Journalisten in der Bibi-Bewegung Unterstützung gefunden. Er sei zu einem loyalen Soldaten geworden, was ihm Aufmerksamkeit und Schutz von Ministern einbringe. Harush sei ein Beispiel für die Loyalität im Bibi-Lager. Die ehemalige Likud-Ministerin Galit Distal Atbaryan habe ihn als «sozialen Aktivisten» bezeichnet:
«Ein Blick auf Harushs Lebenslauf verrät viel über die so genannte Bibi-Bewegung und die Typen, die sie anzieht. Harush ist siebenmal wegen Drogendelikten und Gewalttätigkeiten, darunter Drohungen und bewaffnete Raubüberfälle, verurteilt worden. Vor einigen Jahren geriet er in finanzielle Schwierigkeiten, und der derzeitige Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, kam ihm natürlich zu Hilfe. Nach Angaben von Harush hat er sich während der Covid-Zeit verschuldet, nachdem Leute, von denen er sich Geld geliehen hatte, um Alimente zu zahlen, ihr Geld zurückforderten. Das ist der Typ, mit dem wir es hier zu tun haben.»
Die Bibi-Bewegung bedroht Levinson zufolge die Existenz Israels. Der zweite Unabhängigkeitskrieg des Landes finde intern statt, nicht gegen die Hamas. Enthüllungen über korrupte Praktiken der Verkehrsministerin Miri Regev würden zeigen, wie der Staat instrumentalisiert wird. Jeder Likud-Minister arbeite auf dieselbe Weise. Sie seien gewählt worden, um wiedergewählt zu werden, und würden ihre Ämter als Mittel zur Macht sehen, nicht zum Dienst am Land:
«Das ist Mafioso-Kultur. Die Mafia wird ihre Mitglieder immer schützen, solange sie den Don nicht verraten. (…) Die Reaktionen im Bibi-Lager schwanken zwischen: ‹Wen kümmert’s› und ‹Hut ab vor ihr›. Miri Regev kann eine Milliarde Dollar aus dem Verkehrshaushalt nehmen und mit ihrer Tochter nach Mexiko fliegen. Es ist bedeutungslos. Die einzige Sünde in diesem Lager ist zu sagen: ‹Bibi hat versagt.› Das ist ein unverzeihliches Verbrechen. Ein Verbrechen, das mit Exkommunikation, Ächtung und Ausweisung bestraft wird. Ihre Arbeit zu machen? Irrelevant.»
Der Krieg sei nur ein Vorwand für das, was passiert, bis die Bewegung gestoppt und der Staat von der «Sekte» befreit wird, so Levinson weiter:
«Natürlich stinkt der Fisch vom Kopf her. Netanjahu hat den Staat und die Bewegung nach seinem Bild und Gleichnis geformt: Der Staat ist er, und er ist der Staat. Wer mit ihm ist, ist heilig, wer gegen ihn ist, ist ein Verräter. Seit Jahren hat er den öffentlichen Dienst und seine Führung von allen klugen, sachkundigen und fähigen Leuten geleert und die Reihen mit unqualifizierten Schmeichlern, Kriechern und Abschaum gefüllt. Für seine kranke narzisstische Psyche ist der Staat lediglich ein Werkzeug, das ihm das Gefühl vermitteln soll, ‹ich rette das jüdische Volk›. Er verfügt nicht über die Mechanismen des Realitätsbezugs oder der Introspektion, die ihn erkennen lassen könnten, dass er das jüdische Volk zerstört, anstatt es zu retten.»
In seinem «zerstörerischen politischen Geschick» sei es Netanjahu gelungen, drei oft widersprüchliche Bewegungen zu identifizieren und sie durch eine Politik des Hasses und der Verleumdung zum «Bibi-Lager» zu vereinen:
«Erstens die Ultra-Orthodoxen, die sich nicht wirklich als Teil der zionistischen Geschichte sehen; zweitens die religiösen Nationalisten, die meinen, es sei an der Zeit, den schwachen säkularen Zionismus zu ersetzen; und drittens die Likudniks, die die Gründer des Landes für ihre verächtliche Haltung gegenüber Juden mizrachischer Abstammung hassen. Alle drei Gruppen haben von dieser Vereinigung profitiert. Die Ultra-Orthodoxen von der Befreiung vom Wehrdienst, die Religiösen von den Siedlungen, die Likudniks von der Plünderung der Ressourcen. Sie schaffen es nicht, etwas zu erreichen – zu handeln, zu bauen, zu reparieren – weil die ideologische Verbindung zwischen ihnen wackelig ist. Die Verbindung ist eine des Hasses – um zu schaden, um den Linken eins auszuwischen. Sollen sie sich doch in die Luft sprengen!»
Levinson ist der Ansicht, dass der Hamas-Angriff vom 7. Oktober eine verpasste Gelegenheit für nationale Einheit und Reform war. Sie sei durch Netanjahus Unfähigkeit, in einem gut geordneten Staat zu funktionieren, vereitelt worden. Der Journalist beklagt den Verlust grundlegender Normen und Verantwortlichkeiten in der Regierungsführung:
«Israel kann es sich nicht leisten, nicht exzellent geführt zu werden. Dieser Ort ist gewalttätig und gefährlich und ruht auf sehr empfindlichen Bremsen und Gleichgewichten. Wenn wir nicht wissen, wie wir eine nachhaltige und starke Wirtschaft, einen angenehmen öffentlichen Raum und starke Sicherheit schaffen können, werden wir aufhören zu existieren. Länder steigen auf und fallen. Es gab einmal Reiche, wie Griechenland. Sie sind zusammengebrochen, weil eine Generation nach der anderen versagt hat. (…) Netanjahu braucht einen verrotteten Staat, denn er ist der Pilz, der auf der Fäulnis wächst.»
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare