Nicht nur einfach jung, sondern auch widerspenstig, kritisch und rebellisch – so ist die Jugend einer landläufigen Meinung zufolge. Aber das scheint längst Vergangenheit zu sein, wenn es denn jemals wahr gewesen ist.
«Besorgt, optimistisch, realistisch» – so sind Jugendliche in Deutschland heute laut dem Bayrischen Rundfunk (BR), der im Juni dieses Jahres eine Sinus-Studie mit entsprechenden Ergebnissen wiedergab. Und sie blicken gar «mehrheitlich positiv in die Zukunft», wie derselbe Sender im Zusammenhang mit der jüngsten «Shell Jugendstudie» meldete.
Die wurde am Dienstag in Berlin zum 19. Mal vorgestellt, nachdem der Ölkonzern Shell sie das erste Mal 1953 in Auftrag gegeben hatte. Ihre Ergebnisse dürften all jene beruhigen, die kürzlich bei den ostdeutschen Landtagswahlen kurz aufschreckten, weil dort die AfD bei den sogenannten Jung- und Erstwählern die meiste Zustimmung bekam.
Denn die «Shell Jugendstudie» 2024 zeigt die jungen Menschen in Deutschland nicht nur «sehr besorgt, aber pragmatisch und optimistisch». In der entsprechenden Pressemitteilung wird auch verkündet:
«Die große Mehrheit der Jugendlichen steht positiv zu Staat und Gesellschaft und sieht für sich große Zukunftschancen.»
Da können sich doch die selbsternannten Demokraten aller sich selbst demokratisch titulierenden Parteien beruhigt zurücklehnen – eben außer den AfD-Politikern. Die müssen befürchten, dass es nur bei dem einen Drittel der Jugendlichen bleibt, die ihnen zustimmen und sich von ihnen vertreten fühlen.
Erfolgreiche Herrschaft
Die jungen Menschen in Deutschland in ihrer Mehrheit sehen ja auch laut der Studie keinen Grund für Protest und Widerstand: «Das für den deutschen Sozialstaat zentrale Leistungs- und Gerechtigkeitsversprechen sowie das Vertrauen in den Fortschritt sind aus ihrer Sicht weitestgehend intakt.» Ganz ehrlich (oder besser ironisch): Es ist nicht bekannt, ob so viel Realitätsblindheit etwas mit der unlängst erfolgten Freigabe von Cannabis zu tun haben könnte.
Im Ernst: Die verkündeten Ergebnisse klingen einigermaßen verblüffend und doch dürften sie wenig überraschend sein, da sie belegen, wie erfolgreich Manipulation, Ablenkung und Anpassungsdruck wirken. Es zeigt sich damit etwas, was der Jugendforscher Bernd Heinzlmaier bereits 2013 so erklärte:
«Die hohe Attraktivität der Konsumangebote bindet die Energie der Jugend und löst ihre Kritik auf. Die Leute lassen sich lieber unterhalten, als sich kritisch mit den Verhältnissen auseinander zu setzen.»
Zu den Folgen gehört, dass die für die neueste «Shell Jugendstudie» befragten 2509 jungen Menschen der Jahrgänge 1998 bis 2012 repräsentativ und mehrheitlich (über 80 Prozent) zwar Angst vor einem Krieg in Europa haben. Aber zugleich sprechen sich die Jugendlichen «mit einer übergroßen Mehrheit von jeweils zwei Dritteln für die NATO aus und verurteilen den russischen Angriffskrieg», wie es in der Pressemitteilung heißt.
Etwas mehr als die Hälfte wolle, dass Deutschland die Ukraine militärisch unterstützt, während nur ein Viertel der Befragten dagegen sei. Allerdings würden «Jugendliche in den östlichen Bundesländern» weniger zustimmen als ihre Altersgenossen im Westen.
Zumindest findet den Angaben nach nur ein Drittel gut, dass Deutschland den israelischen Vernichtungskrieg – der natürlich in der Studie nicht so genannt wird – unterstützt, während ebenfalls ein Drittel das ablehnt und ein Viertel sich unentschieden zeigt. Demnach trifft das auch für die «besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel zu», was die Studienautoren unter anderem mit «niedrigerem Bildungshintergrund» und arabischer beziehungsweise türkischer Familienherkunft begründen.
Vereinzelt verdrossen
Immerhin werden mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse in Ostdeutschland ein «beachtlicher Anteil an verdrossenen Jugendlichen» (etwa zwölf Prozent) und ein «erheblicher Anteil kritischer und unzufriedener Jugendlicher» (ohne Prozentangabe) ausgemacht. Aber in der Studie selbst schreiben die beteiligten Sozialforscher Ulrich Schneekluth und Mathias Albert, seit Jahren sei trotz einer hohen Politikverdrossenheit das generelle Interesse der Jugendlichen an Politik wieder gestiegen. Und:
«Hinzu kam eine wieder mehrheitlich positive Sicht auf die Zukunft der Gesellschaft in Deutschland.»
Es gebe «keinerlei Hinweise, dass die generelle Haltung der Jugendlichen gegenüber Staat und Politik gekippt sei», heißt es. Krisenerscheinungen und zunehmende Ängste würden «nicht zu Resignation, Rückzug oder genereller Distanz gegenüber Demokratie und Gesellschaft» führen. Diese Ergebnisse würden vergleichbaren Befunden der Gesamtbevölkerung entsprechen, so die Sozialforscher.
Eine ihrer Feststellungen passt aber zu dem erwähnten Wahlverhalten: Demnach ist der Anteil der Jugendlichen gestiegen, «die eher autokratisch-autoritären Positionen zustimmen». 44 Prozent (2019: 33 Prozent) hätten der Aussage zugestimmt «Eine starke Hand müsse mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen» – nur 2006 seien es mit 52 Prozent mehr gewesen. Die Forscher erklären das so:
«Die Aussage zielt auf eine Erwartung ab, eine politische Kraft solle möglichst schnell und gründlich Probleme beseitigen und für Ordnung sorgen.»
Eine wichtige Rolle spiele dabei das Bedürfnis nach einfachen Sichten und Lösungen auf und für Probleme und Schwierigkeiten. Das mache empfänglich für «Populismus», wird festgestellt, was besonders bei Jugendlichen männlichen Geschlechts, mit «eher niedriger Bildung» und ostdeutscher Herkunft zu beobachten sei.
Einer der Studien-Herausgeber, Mathias Albert, erklärt dazu beruhigend:
«Nichtsdestotrotz: Die verdrossenen und unzufriedenen Jugendlichen prägen keinesfalls die ganze Generation.»
Sorgen macht sich eine Mehrheit von zwei Dritteln der Jugendlichen über den Klimawandel und die Umweltverschmutzung, während laut der Studie mit einem Drittel «immer weniger junge Menschen Angst vor Arbeitslosigkeit oder davor, keinen Ausbildungsplatz zu finden» haben. Und etwa drei Viertel der Jugendlichen sind demnach der Ansicht, dass Deutschland ihnen alle Möglichkeiten bietet, ihre Lebensziele zu verwirklichen.
Die Rolle der Bildung
Sie würden darauf vertrauen, «dass alle gemeinsam als Gesellschaft eine lebenswerte Zukunft schaffen können». Während dem bundesdeutschen Bildungssystem seit Jahren zunehmend Versagen attestiert wird, erklärt Studien-Mitherausgeberin Gudrun Quenzel tatsächlich, das ausgemachte Vertrauen der jungen Menschen in Staat und Gesellschaft habe etwas mit «den Erfolgen im Bildungssystem» zu tun.
Auch hier gilt ja, dass alles eine Frage der Perspektive ist. Der erwähnte Jugendforscher Heinzlmaier stellte vor elf Jahren fest, «dass das kapitalistische System blendend ohne humanistisch gebildete Menschen funktionieren kann.» Was die Funktionsfähigkeit dieses Systems nicht befördere, das werde einfach nicht mehr besprochen.
«Die Rolle, die früher Bildung für die Menschen spielte, hat jetzt die Halbbildung übernommen, die über die Medien verbreitet wird.»
In einem Interview antwortete der Jugendforscher auf die Frage, warum die Jugend nicht gegen die öffentliche Verblödung rebelliere, deutlich: «Weil man als blöder Mensch gut leben kann, solange die wirtschaftliche Situation gut ist.» Er klärte auch darüber auf, warum die Krise nicht zu mehr Protest führt – weil sie «hochgradig disziplinierend» wirke.
Sie produziere die Angst, dass ein gutes Leben nicht mehr selbstverständlich erscheint. Heinzlmaier benannte einen «Trend zu einer pragmatischen Lebensführung». Und: «Die jungen Menschen versuchen Erfolg zu haben durch Anpassung.» Das kann helfen, die Ergebnisse der jüngsten «Shell Jugendstudie» zu verstehen.
Die Jugend heute sei «angepasst, apolitisch, brav», bestätigte 2018 der Luzerner Soziologe und Sozialarbeiter Martin Hafen in einem Interview. Auch er machte bereits eine «große Anpassungsbereitschaft» bei der heutigen Jugend aus und sah die Ursachen in den «zentralen Werten unserer Gesellschaft»: Leistungsbereitschaft und Konsumbereitschaft.
Die Jugend entspreche diesen Bildern perfekt und folge genau dem, was die Gesellschaft ihnen zeige, so Hafen. Und verweist auch auf die Bildung, aus anderer Perspektive:
«Der Großteil der Gesellschaft will keine belehrende Jugend, will seine Weltbilder nicht in Frage gestellt haben. Sonst würde man Kinder auch anders schulen. Dann würde man es sich leisten, selbständig denkende Menschen zu erziehen.»
Was der Luzerner Soziologe vor sechs Jahren beschrieb, gilt heute nicht minder und hilft ebenso die Ergebnisse der aktuellen Jugendstudie zu verstehen:
«Nicht ‹die Jugend› ist apolitisch, die ganze Gesellschaft ist apolitisch. Rund 50 Prozent der Bevölkerung nimmt die Demokratiemöglichkeiten nicht wahr.»
Ein Grund dafür könne sein, dass die Interessen der Wirtschaft und insbesondere die der großen Konzerne für die Politik wichtiger seien als die der Bürger. «Eine Resignation ist demnach verständlich», so Hafen, der ebenso feststellte, dass das Bildungssystem nicht darauf ausgerichtet sei, Kinder zur Demokratie zu erziehen.
Umgelenkte Rebellion
Anstatt Kinder zu gesunder Kritikfähigkeit zu erziehen, würde das im Bildungssystem eher unterdrückt. Die Schule sei heute darauf ausgerichtet, die Jugendlichen dazu zu erziehen, keine Fehler zu machen.
«Die Schule ist eine Fehlervermeidungsmaschine. Man lehrt die Kinder, genau das zu denken und zu antworten, was man hören will.»
Vielleicht sind das die «Erfolge» des Bildungssystems, die Studien-Herausgeberin Quenzel meint. Insofern sind die am Dienstag vorgestellten Ergebnisse der «Shell Jugendstudie» weniger überraschend, als sie auf den ersten Blick wirken.
Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen, der kürzlich das Buch « Der dressierte Nachwuchs – Was ist mit der Jugend los?» veröffentlicht hat, sieht das Rebellische in der Jugend nicht als verschwunden an. In einem Interview mit den NachDenkSeiten zum Buch erklärte er:
«Es ist ja nicht weg, sondern dorthin gelenkt worden, wo es denen ganz oben nicht wehtut. Man muss sich nur die Themen anschauen. Umwelt, Gleichheit der Geschlechter, Antirassismus, koloniale Befreiung, sexuelle Vielfalt … Wer das heute im Mund führt, kann sich einreden, rebellisch zu sein, obwohl er die Besitz- und damit die Machtverhältnisse ausblendet.»
Meyen beschreibt in seinem Buch das Zusammenspiel von Ideologie, Kommunikationskanälen, Bildungsreformen, Anreizsystemen und Soziodemografie, das zu den Ergebnissen der «Shell Jugendstudie» führt. Ebenso benennt er die Kräfte und Faktoren – die herrschenden Kreise im Kapitalismus und ihre Interessen –, die über einen längeren Prozess dafür sorgten, dass wir es heute mit einem «dressierten Nachwuchs» zu tun haben.
Buchtipp:
Michael Meyen: «Der dressierte Nachwuchs – Was ist mit der Jugend los?»
Hintergrund Verlag Reihe Wissen kompakt 2024. 80 Seiten; ISBN 978-3-910568-13-6; 10,90 Euro
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