Red. Die geopolitische Ausgangslage in der Ukraine hat sich mit dem Eingreifen Russlands grundlegend verändert. Transition-News verurteilt diesen Angriff auf die Ukraine. Ebenso deutlich müssen wir aber die Scharfmacher im Westen kritisieren, die die Situation in der Ukraine im Vorfeld lange angeheizt hatten. Es ist uns wichtig, die Propagandisten und Kriegstreiber auf beiden Seiten aufzudecken.
Im Rahmen unserer Serie «Wie Propaganda funktioniert» werden wir in den kommenden Wochen Auszüge aus Klassikern der Propagandaforschung publizieren; Bücher, die aufzeigen, wie Meinungen gemacht werden. Einzelne Schriften sind schon älter, aber in unseren Augen aktueller denn je. – Transition News Redaktion
Lord Arthur Ponsonby (1871 -1946) zählt heute zu den Klassikern der Kriegspropagandaforschung. Ponsonby war britischer Staatsbeamter, Politiker, Schriftsteller und Pazifist. Nachdem er 1908 zunächst als Mitglied der «Liberal Party» in das Unterhaus einzog, gründete er 1914 die «Union of Democratic Control» (UDC).
Ziel dieser Vereinigung war es, auf eine verantwortungsvollere Aussenpolitik zu drängen und sich gegen den militärischen Einfluss auf Regierungen einzusetzen. Von 1934 bis 1937 war Ponsonby zudem Vorsitzender der «War Resisters International», einem 1921 gegründeten, weltweit agierenden Netzwerk von Antimilitaristen.
Von ihm stammt auch der Satz, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sei. «When war is declared, truth ist he first casualty.» In seinem 1928 veröffentlichtem Buch Falsehood in Wartime beschrieb er die Strukturelemente dieser Lügen, mit denen Kriege begründet werden. Der Westend Verlag hat Ponsonbys Propagandaklassiker unter dem Titel Lügen in Kriegszeiten ins Deutsche übersetzen lassen. Das Buch erscheint am 11. Juli. Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Auszug aus dem Buch.
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Der belgische Säugling ohne Hände
Der belgische Säugling, dem die Deutschen die Hände abgeschnitten hatten, reiste nicht nur durch die Städte und Dörfer Grossbritanniens, sondern auch durch Westeuropa und Amerika bis in den Fernen Westen. Niemand wurde stutzig und fragte sich, wie lange ein Säugling mit abgetrennten Händen überleben könnte, wenn nicht fachkundige chirurgische Hilfe zur Stelle wären, um die Arterien zu verschliessen (die Antwort lautet: nur wenige Minuten). Jeder wollte die Geschichte glauben, und viele gingen so weit zu behaupten, sie hätten den Säugling gesehen. Die Lüge wurde genauso allgemein akzeptiert wie der Durchmarsch der russischen Truppen durch Grossbritannien.
«Ein Mann, den ich nicht getroffen habe, erzählte einem Amtsträger der Katholischen Kirche, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie deutsche Soldaten einem Säugling, der sich an die Röcke seiner Mutter klammerte, die Arme abgehackt hätten.» (The Times-Korrespondent in Paris, 27. August 1914)
Am 2. September 1914 zitiert der Korrespondent der Times französische Flüchtlinge, die behaupten: «Sie schneiden den kleinen Jungen die Hände ab, damit es keine weiteren Soldaten mehr für Frankreich gibt.»
Bilder von Säuglingen ohne Hände waren auf dem Kontinent sehr beliebt, sowohl in Frankreich als auch in Italien. Am 18. September 1915 veröffentliche Le Rive Rouge ein solches Bild und machte es am 26. Juli 1916 noch reisserischer, indem es deutsche Soldaten darstellte, die die Hände assen. Le Journal druckte am 30. April 1915 ein Foto von einer Statue eines Kindes ohne Hände ab, doch das grausamste Bild von allen, ohne jedwede karikativen Merkmale, wurde von den Alliierten aus Propagandazwecken in der Critica in Buenos Aires veröffentlicht. (Nachgedruckt in der Sphere vom 30. Januar 1925.)
Die Überschrift des Bildes lautete: «Die Bibel vor allem», und darunter stand: «Lasset die Kindlein zu mir kommen». Der Kaiser steht mit einer Axt hinter einem riesigen Block, seine Hände dunkel mit Blut befleckt. Um den Block herum liegen Hände aufgestapelt. Er winkt einer Frau, ihr eine Gruppe von Kindern zu bringen, die sich an sie klammern, einigen sind die Hände bereits abgetrennt worden. Den Säuglingen wurden nicht nur die Hände abgeschnitten, sie wurden auch auf Bajonette gespiesst und einmal sogar an die Tür genagelt. Aber jeder wird sich an den handlosen belgischen Säugling erinnern.
In Bussen und an anderen öffentlichen Plätzen sprach man laut darüber, er wäre in einem Krankenhaus gesehen worden, befände sich jetzt in der nächsten Gemeinde et cetera. Man führte ihn vor, nicht als Einzelfall einer Gräueltat, sondern als typisches Beispiel für eine gängige Praxis. Im Parlament griff man auf die übliche Ausflucht zurück, der zufolge die Geschichte wahr sein sollte, obwohl der einzig vorliegende Beweis die Aussage «von Zeugen gesehen» war.
Mr. A. K. Lloyd fragte den Ersten Lord des Schatzamtes, ob Mittel zur Verfügung stehen, um die Überlebenden unter den Kindern zu identifizieren und ausfindig zu machen, deren Hände von den Deutschen abgehackt wurden und deren Fälle im Bericht des Bryce-Komitees erwähnt werden; und, falls ja, ob er die Möglichkeit in Betracht ziehen wird, diese Informationen vertraulich oder auf andere Weise für diejenigen zugänglich zu machen, die an der Zukunft dieser Überlebenden interessiert sind. Sir G. Gave:
«Mein ehrenwerter Freund hat mich gebeten, diese Frage zu beantworten. Zwei Fälle ausgenommen, in denen die Kinder, die auf diese Weise verstümmelt wurden, von Zeugen gesehen wurden, waren die Kinder entweder tot oder starben an den Folgen der Misshandlung, die sie erfahren hatten. Da sich diese Kinder in Belgien befanden, das immer noch von den Deutschen besetzt wird, ist es unwahrscheinlich, dass sie jetzt gefunden werden können, und jeder entsprechende Versuch könnte zur weiteren Verfolgung der Opfer oder ihrer Angehörigen führen.»
Mr. Lloyd: «Wurden nicht auch andere Fälle hier ins Krankenhaus gebracht?» Sir G. Cave: «Keiner der Fälle, auf die sich die Frage des ehrwürdigen Abgeordneten bezieht.» (House of Commons, 16. Dezember 1916)
Manchmal sollte die handlose Person auch schon erwachsen sein. Ein Mr. Tyler sagte am 17. April 1915 bei einem Treffen der Bruderschaft in Glasgow, er habe einen Freund in Harrogate, der eine Krankenschwester gesehen hatte, welcher die Deutschen beide Hände abgehackt hatten. Er gab die Adresse seines Informanten an. Man schickte sofort einen Brief an den Freund in Harrogate, in dem gefragt wurde, ob die Aussage wahr sei, er wurde allerdings nie beantwortet. Doch die grauenvollste und kunstfertigste Version der Geschichte des handlossen Kindes erschien am 2. Mai 1915 im Sunday Chronicle.
«Vor einigen Tagen besuchte eine wohltätige, bedeutende Dame ein Gebäude in Paris, in dem seit einigen Monaten eine Reihe von belgischen Flüchtlingen untergebracht ist. Während ihres Besuches bemerkte sie ein Kind, ein zehnjähriges Mädchen, das seine Hände in einem bemitleidenswerten, kleinen, abgenutzten Muff hielt, obwohl es in dem Raum ziemlich warm war. Plötzlich sagte das Kind zu seiner Mutter: ‹Mama, bitt putz mir die Nase.› ‹Schockierend›, sagte die wohltätige Dame, halb lachend, halb ernst, ‹ein grosses Mädchen wie du, das nicht einmal sein eigenes Taschentuch benutzen kann.› Das Kind sagte nichts, und die Mutter antwortete in einem stumpfen, sachlichen Ton: ‹Sie hat keine Hände mehr, Madame.› Die Dame sah sie an, erschauderte und verstand. ‹Kann es nicht sein›, fragte sie, ‹dass die Deutschen…?› Die Mutter brach in Tränen aus. Das war ihre Antwort.»
Signor Nitti, der während des Krieges italienischer Premierminister war, schreibt in seinen Memoiren:
«Um der Welt die Wahrheit über die gegenwärtige europäische Krise vor Augen zu führen, müssen die bösartigen Legenden, die von der Kriegspropaganda geschaffen wurden, wieder und wieder zerstört werden. Während des Krieges hat Frankreich zusammen mit anderen Alliierten, unsere eigene Regierung in Italien eingeschlossen, die absurdesten Fantasien in Umlauf gebracht, um den Kampfgeist unseres Volkes zu wecken. Die Grausamkeiten, die man den Deutschen anlastete, liess uns das Blut in den Adern gefrieren. Wir hörten die Geschichte von armen, kleinen belgischen Kindern, denen die Hunnen die Hände abgehackt hatten. Nach dem Krieg schickte ein reicher Amerikaner, den die französische Propaganda zutiefst berührt hatte, einen Abgesandten nach Belgien, um den Kindern, deren arme kleine Hände abgetrennt worden waren, eine Lebensgrundlage zu verschaffen. Es gelang ihm allerdings nicht, eines zu finden. Mr. Lloyd George und ich führten, als ich an der Spitze der italienischen Regierung stand, umfangreiche Nachforschungen über den Wahrheitsgehalt dieser schrecklichen Anschuldigungen durch, von denen zumindest einige konkret mit Namen und Orten genannt wurden. Jeder untersuchte Fall erwies sich als Mythos.»
Colonel Repington schreibt in seinem Diary of the World War, Bd. II, S. 447
«Kardinal Gasquet erzählte mir, der Papst habe versprochen, weltweit einen gewaltigen Protest zu erheben, wenn auch nur ein einziger Fall von Schändung belgischer Nonnen oder Abschneiden von Kinderhänden nachgewiesen werden könnte. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet und man untersuchte viele Fälle mithilfe des belgischen Kardinals Mercier. Kein einziger Fall konnte nachgewiesen werden.»
Der ehemalige französische Minister Klotz, dem zu Kriegsbeginn die Pressezensur anvertraut worden war, schreibt in seinen Memoiren (De la Guerre à la Paix, Paris, Payot, 1924):
«Eines Abends zeigte mir jemand eine Ausgabe des Figaro, in der zwei angesehene Wissenschaftler behaupteten und mit ihrer Unterschrift bestätigten, dass sie mit eigenen Augen etwa hundert Kinder gesehen hätten, deren Hände von Deutschen abgehackt worden waren. Trotz der Beweise dieser Wissenschaftler hatte ich Zweifel an der Richtigkeit des Berichts und verbot seine Veröffentlichung. Als der Herausgeber des Figaro seine Empörung zum Ausdruck brachte, erklärte ich mich bereit, diese Angelegenheit, die die Welt in Aufruhr versetzen würde, in Anwesenheit des amerikanischen Botschafters zu untersuchen. Ich verlangte jedoch, dass die beiden Wissenschaftler den Namen des Ortes nennen sollten, an dem die Nachforschungen durchgeführt werden sollten. Ich bestand darauf, dass diese Angaben unverzüglich gemacht werden. Bis heute habe ich weder eine Antwort noch einen Besuch von ihnen erhalten.»
Doch diese Lüge hat die Fantasie der Menschen so in ihren Bann gezogen, dass sie noch lange nicht tot ist. Vor kurzem hat ein Dichter aus Liverpool in einem Band mit dem Titel «A Medley of Song» die folgenden Verse als «patriotisches» Gedicht verfasst:
«Sie haben den ersten wahnsinnigen Ansturm aufgehalten.
Der kultivierte deutsche Hunne,
Der jede Belgierin erzürnt hat
Und verstümmelte jedes Mutters Sohn.»
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Arthur Ponsonby, «Lügen in Kriegszeiten». Westend, Frankfurt/Main 2022. ISBN: 9783864893872, 176 Seiten. 24 Euro. Weitere Infos und Bestellung hier.
Hier finden Sie den ersten Teil der Serie «Wie Propaganda funktioniert»: Auszüge aus «Glaube wenig, hinterfrage alles», von Albrecht Müller, 2019.
Und hier finden Sie den zweiten Teil der Serie zu Michael Parentis Buch «Inventing Reality – The Politics oft the Mass Media», 1986.
Hier finden Sie den dritten Teil der Serie: «Propaganda – Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird» zu Jacques Elluls Buch.
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