Transition News: In Ihrem jüngsten Buch «Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas» plädieren Sie für ein selbstbewusstes Europa. Bevor wir aber auf die Zukunft eingehen – wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Europäer sich neu erfinden müssen?
Hauke Ritz: Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Verzicht der Sowjetunion auf einen sozialistischen Zivilisationsentwurf bestand die Möglichkeit für die Schaffung einer Synthese zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Dies wäre insofern sinnvoll gewesen, da beide Systeme ja ihre Stärken besaßen: bürgerliche Werte und Rechtsstaatlichkeit im Westen sowie soziale Gerechtigkeit und gute Beziehungen zu den Entwicklungsländern im Osten. Der Westen hätte zur Schaffung einer solchen Synthese sogar auf seine eigenen Konzepte zurückgreifen können, nämlich eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik und eine an Kissinger und Brandt orientierte Entspannungspolitik. Eine solche Weltordnung hätte auch die USA gestärkt, insofern sie auf dieser Basis tragfähige, partnerschaftliche Beziehungen zu Russland aber auch zu anderen Zivilisationen des globalen Südens und Ostens hätten entwickeln können.
Leider wurde stattdessen das Gegenteil getan: Die USA erklärten sich zum Sieger im Kalten Krieg und leiteten daraus das Recht ab, einen extrem unregulierten neoliberalen Kapitalismus in der gesamten Welt zu verbreiten. Zudem führten sie das Konzept des ewigen Krieges in die internationalen Beziehungen ein. Unzählige Länder sind seither von den USA angegriffen, destabilisiert, mit Krieg bedroht oder zumindest sanktioniert worden. Das Resultat ist, dass die USA heute Konfliktbeziehungen zu beinahe jedem Kulturkreis der Welt unterhalten, was natürlich in strategischer Hinsicht ein Albtraum für die USA ist.
Und warum hat die USA mit der EU und Russland nicht schon Anfang der 1990er Jahre den Weg der multipolaren Weltordnung eingeschlagen?
Heute denken viele, eine multipolare Welt läge vor allem im Interesse Russlands. Dabei wird oft übersehen, dass auch die USA davon profitiert hätten. Hätten sie selbst den Übergang in eine multipolare Weltordnung angeführt, hätten sie in diesem Prozess auch eine führende Position eingenommen. Dies hätte den amerikanischen Wohlstand bis 2060 und darüber hinaus sichern können.
Doch noch entscheidender ist, dass sich in diesem Fall auch die Entwicklung Europas ganz anders hätte gestalten können, wenn die USA nicht dafür votiert hätten, die Welt nach ihrem Bilde zu formen:
Wäre der Kalte Krieg in einem Kompromiss gelöst worden und hätte eine sozialdemokratische Wirtschafts- und eine sozialdemokratische Entspannungspolitik dafür die Konzepte bereitgestellt, so wäre auch das heutige Europa ein anderes. Wir hätten es höchstwahrscheinlich aktuell mit einem souveränen und selbstständigen Europa zu tun.
Statt des heutigen Vasallenstatus hätte dieses Europa eine gleichberechtigte, partnerschaftliche Beziehung zu den USA. Statt die USA politisch in Gestalt einer hierarchischen und kriegslüsternen EU zu kopieren, wäre das geeinte Europa dezentral strukturiert worden und hätte seine europäischen Charakteristika behalten und vertieft. Statt einer übermächtigen Zentrale in Brüssel gäbe es ein Gleichgewicht der Mächte – im Bewusstsein einer grundsätzlichen kulturellen Ähnlichkeit der europäischen Länder zueinander – das Einigkeit in bestimmten Bereichen hätte erzielen können. Diese Verbundenheit wäre nicht autoritär, sondern durch Bildung, Völkerverständigung und Kulturbewusstsein zustande gekommen. Dieses Europa hätte ein so starkes Bewusstsein seiner Geschichte gehabt, dass es nie zu dieser massiven Amerikanisierung gekommen wäre, die wir stattdessen nach dem Mauerfall erlebt haben.
Warum haben die Amerikaner diesen Weg nicht gewählt?
Wenn man diese Frage beantworten will, wird man auf den nationalen Mythos der Vereinigten Staaten zurückverwiesen, demzufolge die USA ein außergewöhnliches Land seien (Exzeptionalismus) und das offenkundige Schicksal hätten, immer größer und mächtiger zu werden (Manifest Destiny) und überhaupt eine unverzichtbare Nation sei (indispensible nation). Diese Konzepte sind bereits sehr alt. Einige dieser Glaubensätze sind bereits von den ersten Siedlern geprägt worden. Viele von ihnen gehörten protestantischen Sekten an. Für sie stellte sich die Besiedlung des amerikanischen Kontinents als ein zweiter Auszug der Juden aus Ägypten dar. Wie diese waren sie von dem Traum beseelt, ein gelobtes Land zu finden und die neue Hauptstadt als leuchtende Stadt auf einem Hügel zu errichten, die der übrigen Welt ein Beispiel des wahren Lebens und Glaubens geben würde.
Da diese frühen Siedler die Struktur des Landes auch für die späteren oft wirtschaftlich motivierten Einwanderer festlegten, wird auch das heutige Amerika noch von der Vorstellung beherrscht, die USA seien eine von Gott auserwählte Nation.
Wer so etwas von sich selbst glaubt, der tut sich dann natürlich schwer, Partnerschaften mit anderen Ländern einzugehen, ja diese überhaupt als Gegenüber wahrzunehmen. Und tatsächlich glauben die meisten amerikanischen Politiker, dass sie allen übrigen Nationen grundsätzlich überlegen seien, weshalb man sich auch nicht an die Verträge halten müsse, die man mit ihnen geschlossen hat. Auch die Europäer werden von den USA nicht als Partner und ebenbürtige Kultur wahrgenommen. Wir sind für die USA nur ein Werkzeug ihrer Macht. Sie schreiben uns vor, wer unser Freund und wer unser Feind zu sein hat.
Und glaubt man der Recherche des US-Journalisten Seymour Hersh, standen die USA auch federführend hinter der Sprengung der Nord Stream Pipeline. Als infolgedessen die Energiepreise in Europa in die Höhe schossen, legten sie Subventionspakete auf, um unserer Industrie die Übersiedlung in die USA schmackhaft zu machen. Auch zögern sie nicht, im Ukrainekrieg durch Waffenlieferungen immer weiter zu eskalieren.
Die jetzt von den USA freigegebenen ATACMS-Raketen für die Durchführung von Angriffen in der Tiefe Russlands sind dabei besonders heikel. Denn sie können nur von amerikanischen Soldaten, durch die Eingabe von Codes und Zieldaten, startklar gemacht werden, wobei auch der Rückgriff auf US-Sattelittendaten unverzichtbar ist. Kurz: Es handelt sich somit um Angriffe, an denen die USA direkt beteiligt sind. Sollte es infolgedessen zu einem Konflikt mit der NATO kommen, so würden die USA versuchen, den Krieg, ja sogar einen Atomkrieg, nur auf Europa zu begrenzen.
Alle diese Beispiele zeigen, dass die USA für die Europäer kein wirklicher Freund und Partner sind. Sie sehen die ganze Welt und leider auch Europa vorrangig als Werkzeug der eigenen Machterweiterung. Die amerikanische Entwicklung ist sehr tragisch. Sie ist auch eine Tragöde für die Amerikaner selbst, deren aggressives Handeln nun zu einer Gegenkoalition geführt hat, die zu einem beschleunigten Ende des Dollars als Weltwährung führen wird.
Europa hat sich vereinnahmen lassen, was auch daran lag, dass Europa nach dem Kalten Krieg eine doppelte Identität besaß: Einerseits sahen wir uns als Europa und andererseits als Bestandteil des Westens. Während die europäische Identität kompliziert ist, Geschichtsbewusstsein und Studienzeit verlangt, stellte sich die westliche Identität als sehr einfach dar, insofern sie mit der Konsumkultur nach dem Zweiten Weltkrieg assoziiert wurde. Die Produkte der westlichen Welt repräsentierten den Westen, sie versprachen schnelle Lusterfüllung, Freude am Besitz und schmeichelten dem Ego, da mit der Zugehörigkeit zum Westen ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Osten verbunden war.
Diese gespaltene Identität der Europäer führte dazu, dass auch ihr Verhältnis zum postsowjetischen Russland ein gespaltenes blieb: Einerseits hielt man schöne Sonntagsreden, beschwor eine neue Friedensordnung, und andererseits brüskierte man die Russen immer wieder, begegnete ihnen mit Arroganz und half schlussendlich den Amerikanern in ihrem Plan, die NATO – durch die anvisierte Mitgliedschaft der Ukraine – bis zu 450 Kilometer vor Moskau auszudehnen, was wiederum die Russen vor eine fatale Wahl stellte. Entweder mussten sie ihre Hauptstadt und große Teile ihrer Industrie nach Sibirien verlegen oder aber in den seit 2014 schwelenden Ukrainekrieg eingreifen. Mit anderen Worten: Die bis zur Selbstverleugnung reichende Identifikation der Europäer mit den USA hat zum Ukrainekrieg geführt. Die Europäer tragen somit eine Mitschuld.
Wie konnte es so weit kommen?
Dass wir diesen Weg eingeschlagen haben, hängt auch damit zusammen, dass Europa in zwei Weltkriegen traumatisiert worden ist. Die seelischen Langzeitfolgen sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkriegs kommen erst jetzt richtig zum Vorschein, da wir es mit einer Bevölkerung zu tun haben, die in weiten Teilen vergessen hat, was Europa ist.
Die Erinnerung an das alte Europa hat sich mit dem Trauma zweier Weltkriege verbunden und eine unbewusste Ablehnung sowohl des alten Europas als auch der Nationalstaaten selbst erzeugt. Man lehnt die eigene Geschichte und Herkunft ab und identifiziert sich stattdessen mit einer anderen Macht – den USA. Besonders im deutschen Bewusstsein hat sich ein bestimmtes Narrativ festgesetzt: Solange wir den Amerikanern gehorchen und uns ihnen unterordnen, sie für uns denken lassen und die gesamte Politik nach amerikanischen Prinzipien ausrichten, solange können wir nicht mehr schuldig werden.
Das ist natürlich eine Illusion – wir können gerade dadurch wieder schuldig werden. Aber auf der Ebene des Unbewussten gibt es keine Logik. Und eben dieses Narrativ hat sich auf unbewusster Ebene festgesetzt und bestimmt leider derzeit die Politik. Dahinter steht die bis heute nicht aufgearbeitete Angst vor der Wiederholung der Schrecken zweier Weltkriege. Ich hoffe, das kann irgendwann aufgehoben werden.
Folgendes Zitat stammt aus Ihrem Buch: «Der Krieg zwischen den USA und Russland ist somit letztlich ein Krieg um die Zukunft der europäischen Kultur.» Worin bestehen die zivilisatorischen Unterschiede zwischen Europa und der USA?
Europa und die USA sind letztlich zwei sehr verschiedene Zivilisationen, die, obwohl sie historisch verbunden sind, ganz unterschiedlichen Prinzipien gehorchen. Dies wird schnell deutlich, wenn man einmal anfängt, sich von diesem Zauberwort «Westen» zu lösen, und stattdessen wirklich fragt, seit wann es denn eigentlich diesen Westen gibt? Nämlich so richtig erst seit knapp 80 Jahren, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, dann kommt man in die Lage zu ermessen, was in diesem Zeitraum verloren gegangen ist.
Der Westen ist etwas sehr Künstliches, etwas, das sich durch den zufälligen Frontverlauf von Kriegen – dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg – ergeben hat. Dort wo die Front zum Stehen kam, dort hörte dann der Westen auf. Zum Beispiel an der innerdeutschen Grenze während des Kalten Krieges oder an der Front zwischen Nord- und Südkorea. Nach dem Kalten Krieg konnte der Westen relativ schnell auf das übrige Osteuropa ausgedehnt werden, wobei die Ausdehnung dann in der Ostukraine – wiederum entlang einer Front – zum Stehen kam.
Und weil der Westen aus Kriegen und zufälligen Frontverläufen hervorgegangen ist, gehören zu ihm auch Staaten, die kulturell recht unterschiedlich sind. Wie zum Beispiel Westeuropa und die slawischen Länder, aber auch Frankreich und Südkorea, Deutschland und Japan, Taiwan und Irland. Was haben diese Länder gemeinsam, außer, dass sie alle den militärischen Fuß von Onkel Sam auf ihren Schultern spüren?
Der Westen ist im Prinzip amerikanische Hegemonie und ist vollkommen auf das amerikanische Weltordnungskonzept ausgerichtet. Und das besteht vorrangig in der Unterscheidung von Freund und Feind und dem Glauben an eine gottgegebene Überlegenheit. Überall, wo die USA Einfluss haben, wird die Welt in Gut und Böse geteilt. Das hatten wir früher in Europa auch: zum Beispiel im 17. Jahrhundert, als der Dreißigjährige Krieg tobte und Protestanten und Katholiken sich unversöhnlich gegenüberstanden und sich entsprechend gegenseitig dämonisierten. Aber das Entscheidende ist, dass Europa durch diese Periode der Bürgerkriege im 17. Jahrhundert hindurchgegangen ist und daraus gelernt hat.
Im Unterschied zu den Amerikanern wissen die Europäer, dass der Glaube, dass man die Welt in Gut und Böse, in Richtig und Falsch einteilen könne, ein Mythos ist, der nur allzu leicht in Barbarei münden kann.
Dies wird besonders an den Prinzipien des Westfälischen Friedens deutlich, die bis heute die Grundlage des Völkerrechts bilden. Diese Prinzipien stellen Europas Antwort auf die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges dar. In ihnen ist festgehalten, dass niemand sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen darf – dass die Innenpolitik eines Landes eben nur diesem Land selbst und nicht den Nachbarländern obliegt. Das ist ein wichtiges Prinzip, da es den Ländern erlaubt, verschieden sein zu dürfen. Und es verbietet in gewisser Weise eine Außenpolitik, die sich auf Werte fokussiert, wie das leider bei der amerikanischen Außenpolitik der Fall ist.
Was bedeutet es, eine Außenpolitik auf Werte auszurichten?
Wenn man Außenpolitik nach Werten strukturiert, gibt es immer den Guten und den Bösen. Und der sogenannte Böse wird durch diese Zuschreibung genötigt, wiederum seine Werte hochzuhalten und die Unterscheidung umgekehrt zu wiederholen. Auf diese Weise entsteht wie im Dreißigjährigen Krieg ein unlösbarer Wertekonflikt. Jede der beteiligten Parteien klammert sich an seinen Werten fest, bis ein Kompromiss ganz und gar unmöglich wird.
Der Westfälische Frieden hat aus dieser Erfahrung gelernt und infolgedessen eine außenpolitische Tradition initiiert, die Interessen vor Werte stellt. Im Bereich der Interessen kann man Kompromisse eingehen und Lösungen finden, die für beide Seiten eine Win-Win-Position darstellen. Im Bereich der Werte sind Kompromisse kaum möglich.
Mit einer interessensgeleiteten Außenpolitik kann Frieden organisiert werden. Während eine werteorientierte Außenpolitik erst zur Verhärtung eines behaupteten Werteunterschiedes und schließlich zum Krieg führt.
Deswegen ist eine werteorientierte Außenpolitik als politisch rechts und eine interessensbasierte Außenpolitik tendenziell eher als politisch links einzuordnen. Das wird in jüngster Zeit immer wieder verdreht. Da wird dann behauptet, wer seinen Interessen folgt, der sei rechts. Aber das ist in Wirklichkeit, wenn man die konkrete Geschichte ernst nimmt, genau andersherum.
Werte sollten nur sehr vorsichtig in die Außenpolitik eingeführt werden. Die einzige Form, in der sie in der Außenpolitik eine sinnvolle Rolle spielen können, ist die Form des Dialogs. Der Petersburger Dialog zwischen Deutschland und Russland ist hierfür ein Beispiel. Leider wurde er inzwischen von deutscher Seite aufgelöst.
Und leider spielen Werte in der amerikanischen Außenpolitik eine übergeordnete Rolle. Ja die US-Außenpolitik ist fast autistisch, insofern sie die gesamte Welt am amerikanischen Maßstab misst. Jedem Land, das über eigene Traditionen verfügt, das sich auf eigene Traditionen bezieht, stehen die USA misstrauisch bis feindlich gegenüber. Nach dem 11. September 2001 haben sie das Konzept eines ewigen Krieges in den internationalen Beziehungen etabliert. Und wir sehen ja auch, dass die Kriege, die die USA führen, nie zu Ende gehen. Der Afghanistankrieg währte 20 Jahre. Der Israel-Palästinenser Konflikt wurde von den USA seit Generationen nicht gelöst. Der Ukraine-Konflikt verspricht leider auch, ein extrem langer Krieg zu werden.
Also das Konzept des ewigen Krieges, die werteorientierte Außenpolitik und das Überlegenheitsgefühl der Amerikaner über alle anderen Kulturen und Nationen der Welt, all das ist verbunden und gehört zusammen. Und Europa hat da, besonders wenn man das Erbe des Westfälischen Friedens betrachtet, natürlich ein ganz anderes Weltordnungskonzept, das aber von Europa selbst in den letzten Jahren kaum noch vertreten wurde.
Welche Wirkung hatte die Russische Revolution auch im Hinblick auf den Liberalismus?
In meinem Buch gibt es ein Kapitel über die Fernwirkung der russischen Revolution. Das heißt, ich spreche nicht über die Frage, ob diese Revolution für Russland und die Russen selbst gut oder schlecht gewesen ist. Das ist eine extra Debatte, die ich in diesem Buch nicht führe. Mich interessiert lediglich die Fernwirkung, also der Einfluss, den sie auf die Internationalen Beziehungen genommen hat. Ich will zeigen, dass die russische Revolution keinesfalls – wie oft behauptet wird – außerhalb der Geschichte steht. Sie gehört zur Geschichte und beeinflusst die Welt bis heute.
Zunächst hat die russische Revolution den Westen im Kalten Krieg dazu gezwungen, einen Sozialstaat zu errichten: Um die Zivilisationskonkurrenz mit den sozialistischen Staaten aushalten zu können, musste der Kapitalismus human werden. Er musste ein humanes Gesicht annehmen. Und ein weiterer Faktor ist, dass die russische Revolution dazu geführt hat, dass sich der Entkolonialisierungsprozess massiv beschleunigt hat.
Viele der Kolonien Frankreichs und Englands aber auch anderer europäischer Länder brachten Befreiungsbewegungen hervor, für die es wiederum sehr naheliegend war, sich an der Sowjetunion zu orientieren: Erstens, weil der Sozialismus selbst eine Imperialismuskritik enthält, und zum Zweiten, weil die Sowjetunion ein Modell dafür darstellte, wie sich ein Land in nur 40 Jahren vom Entwicklungsland in eine der führenden Industriemächte verwandeln kann. Als nämlich 1917 die Revolution in Russland stattfand, konnte nur die Hälfte der russischen Bevölkerung lesen und schreiben. In den zentralasiatischen Republiken des Zarenreiches waren es sogar nur 25 bis 30 Prozent. Und vier Jahrzehnte später schießt die Sowjetunion den ersten Satelliten ins Weltall – noch vor den Amerikanern. Zugleich vermochte es die Sowjetunion, große Teile Zentralasiens und Sibiriens zu industrialisieren und gewann zudem noch unter enormen Opfern den Zweiten Weltkrieg. Sicherlich spielte bei dieser schnellen Entwicklung auch die Zwangsarbeit politischer Häftlinge eine Rolle. Dennoch kann man diese Entwicklung nicht allein darauf reduzieren.
Und das zeigt auch, welches Entwicklungspotenzial in der Planwirtschaft selbst enthalten war. Diese funktionierte nämlich durchaus gut, wenn es darum geht, eine noch nicht vorhandene Industrie aufzubauen. Erst als die Industrie ein höheres Entwicklungsniveau erreichte und es um die vielen kleinen Produkte ging, erst dann wurde die Planwirtschaft kontraproduktiv. Solange es jedoch darum ging, überhaupt erst einmal eine Stahlindustrie oder eine Eisenbahn aufzubauen und das Land zu elektrifizieren, war die Planwirtschaft der rein kapitalistischen Entwicklung durchaus überlegen. Aus diesem Grund haben sich dann viele Entwicklungsländer an der Sowjetunion orientiert – der ganze Süden und Osten der Welt drohte, ins sozialistische Lager abzugleiten.
Das hat wiederum Panikreaktionen in den USA ausgelöst. Es folgte die McCarthy-Ära, als jeder, der auch nur entfernt der sozialistischen Überzeugung verdächtigt wurde, seinen Job verlor. Damals liefen in der Presse ständige Kampagnen gegen die «rote Gefahr».
Hinzu kam, dass der Liberalismus eine Mitschuld am Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs trug. Der Zweite Weltkrieg und der Aufstieg der Nazis wären ohne Weltwirtschaftskrise nicht möglich gewesen: Man hatte damals den Marktkräften freien Lauf gelassen, die Wirtschaft liberal organisiert und eine Vielzahl an Interessenkonflikten zugelassen. Diese Laissez-faire-Politik der 1920er Jahre führte schließlich zur Weltwirtschaftskrise, die dann wiederum den Aufstieg der faschistischen Bewegung in Deutschland und in anderen europäischen Ländern ermöglicht hat.
Das heißt, der Liberalismus war nach dem Zweiten Weltkrieg abgewirtschaftet, er hatte seine Ausstrahlungskraft verloren, seine Versprechen klangen hohl und waren durch die Geschichte widerlegt. Die Intellektuellen der damaligen Zeit dachten, Liberalismus führe zu Krieg, zu Wirtschaftskrisen, zu Armut und infolgedessen zu extrem politischen Bewegungen. Ja, man ging sogar soweit, eine innere Beziehung zwischen Liberalismus und Faschismus anzunehmen, weshalb der Sozialismus bei vielen Intellektuellen der 1940er und 50er Jahre hoch im Kurs stand. Sogar Albert Einstein oder der Künstler Pablo Picasso und selbst Thomas Mann, der ja eigentlich konservativ war, entdeckten ihre Sympathien für das östliche Modell.
Wie haben die USA es trotzdem geschafft, im Nachkriegsdeutschland den Liberalismus populär zu machen?
Es gab also eine Art ideologische Überlegenheit des Sozialismus in der damaligen Zeit. Zusammen mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und den gut organisierten Gewerkschaften in Frankreich, Italien und Griechenland machte das den USA große Sorgen. Es ging dann eben darum, den Sozialismus zu dämonisieren und den Liberalismus wieder attraktiv zu machen.
Dabei standen die USA vor dem Problem, dass Europa eigentlich nicht liberal ist. Liberalismus ist ja ein politisches System, in dem der Einzelne mehr zählt als das Allgemeine. Das ist ein System, in dem Politik tendenziell käuflich ist, Reichtum nicht begrenzt wird und sich sehr stark konzentrieren kann.
Damit aber so ein System nicht zur Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung führt, muss es Pfründe geben, die man woanders wegnimmt und wieder oben auf die Gesellschaftspyramide raufträufeln lässt, sodass für die unteren Schichten ein bisschen was abfällt.
Liberalismus funktioniert daher nur, wenn es irgendwo einen Dritten gibt, den man hemmungslos ausbeuten kann.
Dadurch, dass die USA seit ihrer Gründung beständig in die anfangs noch indianischen Territorien expandieren konnten, war dies im Falle der USA gewährleistet. Es gab immer reichlich Land, das man den Indianern wegnehmen und neu verteilen konnte. Später setzte sich die Expansion in der Karibik, den Philippinen und in Lateinamerika fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die neue Rolle des Dollars als Weltwährung hinzu, die einen sehr raffinierten, nämlich finanzpolitischen Imperialismus ermöglichte, der ganze Länder in Schuldenkrisen stürzte und ungeheure Werte in die USA transferierte.
In den USA ist auf dieser Grundlage eine spezielle Wirtschaftsstruktur entstanden. Diese setzt auf hohe Profite, expandiert ständig in andere Weltregionen, eignet sich hemmungslos Öl- und Rohstoffvorkommen außerhalb der eigenen Landesgrenzen an und sanktioniert jeden, der sich der Ausbeutung und Plünderung verweigert. Unter diesen Voraussetzungen kann ein liberales System funktionieren.
Europa hatte aber nie so eine Position. Nur England konnte durch sein riesiges Imperium, mit Indien als Kronkolonie, ebenfalls einen sehr liberalen Entwicklungsweg einschlagen. In Europa war die Wirtschaft anders strukturiert.
Besonders in Deutschland hatten wir Unternehmen, denen kaum Kolonien und somit auch keine exorbitanten Gewinne zur Verfügung standen. Wir mussten wirklich unseren Wohlstand erwirtschaften, indem wir Maschinen und andere Produkte bauten und dann vielleicht fünf Prozent Gewinn hatten. Auf dieser Basis ist ein Gesellschaftsmodell entstanden, das eher zwischen dem sozialistischen und dem konservativen Pol hin und her pendelt und das einen hemmungslosen Liberalismus gar nicht zulässt.
Bei uns haben liberale Parteien selten mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten. Und selbst wenn die Konservativen regierten, wurde trotzdem an einer sozialen Ordnung festgehalten. Sowohl Bismarck, der die Sozialgesetzgebung einführte, als auch eine CDU unter Konrad Adenauer und Helmut Kohl hatte eine starke soziale Ausrichtung.
Dies wiederum machte den Amerikanern Sorgen, insofern sie fürchteten, die Europäer können leicht Richtung Sowjetunion schwenken und müssten umerzogen werden, damit sie lernen, wie Amerikaner alles durch die Brille des Liberalismus wahrzunehmen. Das nahm dann in den 1980er Jahren, als der Neoliberalismus nach Europa exportiert wurde, so richtig Fahrt auf.
Das Europa unserer Gegenwart steht leider kurz davor, seine traditionelle politische Ausrichtung aufzugeben und das amerikanische Gesellschaftsmodell zu übernehmen.
Sie stellen in Ihrem Buch auch fest: «Russland konnte anders als Deutschland oder Frankreich nicht eingeschüchtert oder desorientiert werden.» Warum nicht?
Ich versuche in dem Buch, die Frage zu beantworten: Warum hasst der Westen Russland eigentlich so sehr? Was ist der Konfliktpunkt? Wenn ich «Westen» sage, meine ich vor allem die USA und Großbritannien. Und da heißt es dann, dass liege an der Geografie, am Rohstoffreichtum Russlands. Ich verneine das nicht, allerdings füge ich hinzu, dass noch mehr dahintersteckt.
Ich versuche zu erklären, wie die amerikanische Macht funktioniert, auf welchen Prinzipien sie ruht und was ihre langfristigen Pläne sind. Und dann frage ich, welche Machtmittel Staaten im 21. Jahrhundert grundsätzlich zur Verfügung stehen. Früher hätte man gesagt, ein Staat ist mächtig, wenn er ein großes Heer oder Marine, eine große Bevölkerung und Industrie besitzt. Das spielt sicherlich eine Rolle, aber es gibt noch ganz andere Formen und Ausdrucksweisen von Macht. Und dazu gehört, ganz allgemein gesprochen, auch die Fähigkeit, sich zu orientieren.
Es gibt Staaten, die können sich unabhängig in der Welt orientieren, und dann gibt es Staaten, die von Politikern regiert werden, die ihre Informationen aus der Tagespresse gewinnen.
Wenn Parlamentsabgeordnete die Tagesnachrichten lesen und daraus ihr Weltbild ableiten, sich also auf Informationen stützen, die wiederum auf Nachrichtenagenturen zurückgehen, die von den USA mit beeinflusst werden oder diesen sogar gehören, dann ist natürlich klar, dass so ein Land nicht souverän sein kann.
Leider haben nach dem Zweiten Weltkrieg alle europäischen Staaten nach und nach ihre Fähigkeit zur unabhängigen Orientierung verloren. In Frankreich gab es gute Ansätze. Auch die Ostpolitik von Willy Brandt – und tendenziell von Helmut Schmidt – zeigt noch die Fähigkeit zu einer unabhängigen Orientierung in den internationalen Beziehungen. Aber nach Helmut Schmidt geht das allmählich verloren. Den jüngeren deutschen Regierungen fehlte fast jede Fähigkeit, sich unabhängig in der Welt zu orientieren. Das macht es den USA natürlich sehr leicht, die europäische Politik zu lenken.
Russland hat nach wie vor diese Fähigkeit zur unabhängigen Orientierung. Ich stelle ja die Frage, warum der Westen Russland nicht in seine Reihen aufgenommen hat? Man muss hier bedenken, dass die Sowjetunion ja eine Supermacht gewesen ist. Sie kannte also die Mechanismen des Kalten Krieges und damit die Machttechniken des späten 20. Jahrhunderts. Wenn Russland – das dieses Wissen von der Sowjetunion geerbt hat – mit am Tisch des Westens gesessen hätte, dann hätten die Russen mit ihrer Fähigkeit zum unabhängigen Denken und mit ihrer Kenntnis der Machtmechanismen des 21. Jahrhunderts bestimmte Fragen gestellt. Ja, irgendwann wären sie vielleicht sogar dazu übergegangen, Gegenkonzepte vorzuschlagen.
Und das hätte die USA in die Bredouille gebracht: Die USA können ihre Macht in der Welt nur ausüben, solange andere nicht wissen, worum es wirklich geht. Die USA sind nämlich Meister darin, ihre politischen Interessen in schön klingende Erzählungen zu verpacken. Sobald aber jemand mit am Tisch sitzt, der weiß, worum es eigentlich geht, schwindet die amerikanische Fähigkeit, politische Konzepte vorzugeben, die von anderen blind aufgenommen werden.
Um diesen Begriff aufzugreifen: Welche Rolle spielen die Linken, die Medien oder die Geheimdienste dabei, diese Blindheit zu befördern?
Die traditionellen Linken – wie sie aus dem 19. Jahrhundert heraus entstanden sind, und die auch noch im 20. Jahrhundert sehr stark waren – und die heutigen Linken sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Die traditionelle Linke war immer herrschaftskritisch. Und sie ist durch ihre Fähigkeit zur Orientierung definiert gewesen, weil das theoretische Fundament, das sich von Hegel über Marx, Sigmund Freud bis hin zur Frankfurter Schule aufgebaut hatte, ein sehr starkes Fundament gewesen ist. So entstand in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus der Eindruck, dass der Geist links sei, einfach weil die Linken damals die besseren theoretischen Ansätze hatten. Sie konnten förmlich alles deuten und interpretieren und hatten unter Beweis gestellt, dass es auch angesichts der Naturwissenschaften noch möglich war, eine Objektivität im bloßen Denken zu erreichen. Sie konnten gesellschaftliche, historische Prozesse analysieren, sogar die ästhetischen Prinzipien von Kunstwerken erforschen und verfügten auch über eine beeindruckende Anthropologie. Doch so stark die geistige, historische und politische Orientierung bei der traditionellen Linken war, so desorientiert ist leider die heutige Linke.
Es ist eine sehr tragische Entwicklung, wie diese Desorientierung der Linken zustande gekommen ist, dass sie quasi ihr eigenes theoretisches Fundament vergessen haben und stattdessen einer woken Agenda hinterherlaufen, die als Zugpferd für die Globalisierung fungiert und eigentlich den Herrschenden und dem Kapital zuarbeitet.
Ich erkläre das in meinem Buch so, dass der Kalte Krieg eine Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus darstellte. Von der Elbe bis Shanghai gab es keine Oligarchen. Zwar war es auch kein reiner Sozialismus, da ja das demokratische Element nicht ausreichend entwickelt war, was zum Beispiel die Verfolgungen unter Stalin ermöglichte. Aber es war zumindest eine Art Beamtenherrschaft. Beamte haben ein Stahlwerk oder andere Fabriken geleitet. Aber sie hatten keinen direkten Zugriff auf diese Produktivmittel. Sie hatten lediglich kleinere Privilegien: hier eine Jagdhütte, dort einen Videorekorder, hier ein Auto. Aber das ist verglichen mit der Wohlstandskonzentration, die wir heute erleben, geradezu lächerlich.
Das war also ein riesiger geographischer Raum ohne Oligarchie. In der gesamten Menschheitsgeschichte hatte es so etwas bis dahin nicht gegeben. Und darin lag eine enorme zivilisatorische Möglichkeit. Die Amerikaner verstanden das und hatten große Angst, dass dies Schule machen könnte. Denn in den 1950er und 1960er Jahren war der Trend hin zu einer gerechten Gesellschaft wirklich sehr stark. Und so wurden enorme Energien mobilisiert, um einerseits diesen Trend zu brechen und, wenn möglich, umzukehren und andererseits den zivilisatorischen Gegenentwurf der Sowjetunion niederzuringen.
Da man es mit einer linken Ideologie zu tun hatte, musste man das Linkssein diskreditieren. Durch einen Frontalangriff hätte man die Linken nur noch stärker gemacht. Also ging man in diese linke Selbstverständigung hinein und versuchte, von innen heraus zu verändern, was Linkssein eigentlich bedeutet. Plötzlich geht es nicht mehr um den Gegensatz von Kapital und Arbeit oder um Imperialismus und Selbstbestimmung, sondern man stellt nun andere Gegensätze in den Vordergrund, etwa den von Mensch und Natur, von Mann und Frau, oder unterschiedlichen Hautfarben oder überhaupt von Mehrheit und Minderheit.
Die traditionellen Linken haben immer über das Allgemeinwohl nachgedacht. Darüber, dass es der Mehrzahl der Menschen gut gehen muss. Und plötzlich entsteht mitten im Kalten Krieg eine Linke, die vorrangig für Minderheiten oder sogar für das Individuum eintritt und sich mehr um Bürgerrechte als um Arbeiterrechte kümmert. Plötzlich wird die Linke liberal. Und sie fängt an, liberale Werte zu vertreten – man spricht heute ganz offen von Linksliberalismus.
Die traditionelle Linke war aber nicht liberal. Sie war geschichtsphilosophisch orientiert, sie hatte eine konkrete Vorstellung von der Menschheitsgeschichte, sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch in Bezug auf die Zukunft. Sie hatte eine Utopie, sie glaubte an Fortschritt, wohingegen die heutige Linke an Dystopien glaubt. Ja, mitunter ist der Glaube an Dystopien an die Stelle des einstigen Fortschrittsglaubens getreten, wobei das ganze schnell den Charakter einer Weltuntergangssekte annimmt. Nach dem Motto: «Wenn wir uns nicht am Asphalt festkleben, dann geht die Welt ganz bestimmt unter.»
Das heißt, das theoretische Fundament der traditionellen Linken, das sehr differenziert und komplex war und ein hohes Differenzierungsniveau und Erkenntniswert mit sich brachte, ist gegen sehr primitive Konzepte ausgetauscht worden. Überspitzt könnte man formulieren, dass die heutige Linke die geschichtsphilosophische Tradition von Hegel und Marx gegen eine Wetterreligion und eine Sexualitätsreligion eingetauscht hat. Die heutige Linke ist einfach nicht mehr in einer politischen Tradition verwurzelt, die auf das Allgemeinwohl gerichtet ist. Stattdessen geht es darum, der globalisierten Oligarchie dabei zu helfen, widerständige Traditionen aufzulösen.
Können Sie kurz auf die psychologische Machttechniken des Westens eingehen und erklären, was diese mit der heutigen Krise zu tun haben?
Ich führe in dem Buch viele Beispiele an, wie tief die Angst des Westens vor dem Sozialismus saß und wie radikal man ihr begegnete. Nach der Kuba-Krise war klar, dass man die Sowjetunion nicht militärisch niederringen kann, weil sie nach der Krise selbst über so viele Atomwaffen verfügte, dass ein Krieg beide Seiten zerstört hätte. Und so musste man andere Wege finden, das gegnerische System zu beeinflussen. Die Propaganda wurde also immer wichtiger, und es war von hier aus nur ein kurzer Schritt, die Kultur selbst in eine Waffe zu verwandeln.
Nun muss man wissen, dass der Sozialismus aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist. Und diese ist wiederum ein Kind der Aufklärung. Der Sozialismus ist somit ein Abkömmling der Aufklärung. Er beruht wie diese auf Vernunft. Er setzt ein Verständnis der Geschichte, der Klassenverhältnisse, der Gesetze des Kapitalismus voraus. Dabei gibt es bestimmte Kerngedanken, die im Zentrum stehen. Ich nannte bereits den Glauben an Fortschritt. Aber auch der Gedanke, dass der Mensch im Zentrum steht, dass die Gesellschaft und die Wirtschaft ihm dienen sollten, auf ihn ausgerichtet sein sollten, auch das ist ein Grundgedanke des Sozialismus, der wiederum auf die Aufklärung und den Humanismus zurückgeht. Solange diese Gedanken in der Gesellschaft wirkungsmächtig waren, solange würden sich sozialistische Forderungen immer wieder herstellen und der Sozialismus würde infolgedessen als politische Kraft und Möglichkeit wirkungsmächtig bleiben. Und so drückte sich der kulturelle Kalte Krieg eben darin aus, dass diese Konzepte systematisch angegriffen und infrage gestellt wurden. Um es etwas pointiert zu sagen:
Um den Sozialismus einzudämmen, wurde letztlich die Aufklärung infrage gestellt.
Europa ist ja vor allem deshalb so erfolgreich gewesen, weil wir die Wissenschaften hervorgebracht haben. Die Wissenschaften basieren aber auf der Gültigkeit des besseren Arguments, auf einem rationalen Diskurs, der auf der Fähigkeit beruhte, sich relativ angstfrei auf die Welt zu beziehen, und infolgedessen alle Fragen zu stellen und alle Fragen zuzulassen. Da wir unsere Kultur während des Kalten Krieges und auch danach immer wieder als Instrument für fremde Zwecke eingesetzt haben, haben wir diese Fähigkeit zunehmend verloren.
Heutzutage gleitet Europa immer mehr in die Irrationalität ab. Die Gender Studies zum Beispiel, die das biologische Faktum der Zweigeschlechtlichkeit leugnen und durch multiple Geschlechterzugehörigkeiten ersetzen möchten, sind hierfür ein Beispiel. Hier wird eine der fundamentalsten Einsichten der Biologie einfach geleugnet. Als nächstes könnte man vielleicht leugnen, dass die Erde eine Kugel ist, die sich um die Sonne dreht. Wir sind sozusagen dabei, maßgebliche Errungenschaften der europäischen Kultur aufzulösen.
Natürlich kann diese irrationale Kultur unserer Gegenwart nicht mehr sozialistisch sein, denn Sozialismus setzt Vernunft voraus. Indem ich die Vernunft sprenge, zerstöre ich die Möglichkeit, gegen Kapitalkonzentration und somit auch gegen die Oligarchie vorzugehen. Es ist wie eine präventive Konterrevolution, die aus Angst vor der Revolution bereit ist, das geistige Fundament derselben zu zerstören.
Doch dieses Fundament ist mit den Grundprinzipien der europäischen Kultur weitgehend identisch. Denn eine vom Christentum geprägte Kultur führt früher oder später immer zu Gerechtigkeitsvorstellungen, die wiederum mit geschichtlichen Erwartungen einhergeht und schließlich eine linke Geschichtsphilosophie auf den Plan ruft. Indem ich dies jedoch bekämpfe und dafür bereit bin, die Kultur zu transformieren, zerstöre ich damit auch das Fundament des bisherigen Fortschritts. Man hat, um den Sozialismus einzudämmen, letztlich die Vernunft beschädigt. Der Westen hat im Kalten Krieg einen faustischen Pakt eingegangen, der ihm zwar half, den Sozialismus zu besiegen, aber zugleich auch die Grundlage seiner eigenen Zukunft mit zerstört hat.
Sie schreiben, Europa steht vor «einer einzigartigen geopolitischen Zäsur». Was meinen Sie damit?
Die Europäische Union ist der Versuch gewesen, die USA auf dem europäischen Kontinent zu kopieren, sozusagen die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Dies war jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, einfach weil Europa etwas anderes ist als die USA und auch etwas anderes ist als der Westen.
In unserer Gegenwart hat ein unumkehrbarer Prozess begonnen, der dazu führt, dass die USA ihre unipolare Machtstellung in der Welt verlieren, und infolgedessen zerbricht das amerikanische Imperium. Damit gerät auch der Einflussbereich der USA in eine Identitätskrise und damit Nationen wie Südkorea genauso wie Japan, Westeuropa oder auch Deutschland. Sie alle hatten aus der Zugehörigkeit zum amerikanischen Einflussbereich ihre nationale Identität geformt. Der Machtverlust der USA führt deshalb zu einer fundamentalen Identitätskrise dieser Länder.
Dies wird einerseits Europa als ganzes aber auch jedes einzelne Land in Europa dazu zwingen, sich seiner eigenen Geschichte wieder zuzuwenden. Wir müssen lernen, wieder europäisch zu sein und auch wieder unabhängig über uns und unser Schicksal nachzudenken, es wieder in die eigenen Hände zu nehmen, statt uns einfach von amerikanischen Think-Tanks vorgeben zu lassen, in welche Richtung es geht.
Früher war es ja tatsächlich so, dass wenn die Amerikaner gesagt haben, jetzt gibt es einen Krieg gegen den Terror, es diesen Krieg gegen den Terror dann auch bei uns gab. Oder wenn die Amerikaner gesagt haben, jetzt gibt es die Globalisierung auf Basis einer in Chicago erdachten neoliberalen Wirtschaftsphilosophie, dann haben alle das übernommen, ungeachtet der Tatsache, dass Europa ganz andere wirtschaftliche Traditionen sein eigen nennt. Keiner hat versucht, in eine andere Richtung zu gehen oder ein anderes Konzept vorzuschlagen, geschweige denn, dass überhaupt über die Folgen dieser Entscheidungen diskutiert wurde.
Jetzt kommt eine Zeit, wo die USA sich früher oder später aus Europa zurückziehen werden. Ich weiß nicht, wie dieser Rückzug erfolgen wird, ob die USA selbst diesen Rückzug einleiten, ob sie vielleicht dazu gezwungen werden, ob eine Finanzkrise oder der Verlust des Dollars als Weltwährung dabei als Katalysator dient. Das genaue Szenario ist ungewiss. Aber früher oder später wird Europa dennoch auf sich selbst zurückgeworfen sein.
Und dann werden wir sehr schnell verstehen, dass wir überhaupt kein Interesse an einem Konflikt mit Russland haben. Und dass wir an der Ukraine als Frontstaat eigentlich auch kein wirkliches Interesse haben. Dass wir stattdessen ein Interesse haben, mit anderen Staaten der Welt zu kooperieren, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Austausch zu pflegen, und diese Völker überhaupt erst kennenzulernen. Und für die Ukraine würde dies bedeuten, dass sie zu einer Brücke zwischen West und Ost würde, also das genaue Gegenteil dessen, was die Amerikaner für die Ukrainer geplant haben.
Und gleichzeitig könnten wir dazu übergehen, uns unsere Souveränität wieder anzueignen, Europa wirklich europäisch zu strukturieren, zum Beispiel nach den Prinzipien des Westfälischen Friedens. Denn diese starre Gegenüberstellung von Freund und Feind ist wirklich etwas Amerikanisches, das ist nichts Europäisches. Die europäischen Gesellschaften sind ganz anders strukturiert. Wir können damit leben, dass es noch andere Mächte und Zivilisationen gibt und wir haben ein soziales Verständnis von Gesellschaft.
Die Europäer wollen eine Gesellschaft, in der es in der einen oder anderen Weise einen sozialen Ausgleich gibt, während die Amerikaner gar kein Problem damit haben, wenn die Hälfte ihrer Gesellschaft in Armut lebt. Die Europäer sind viel stärker als die Amerikaner von der Aufklärung beeinflusst, weshalb wir einen Begriff von Bildung haben, der sich an die ganze Gesellschaft richtet, wohingegen es den Amerikanern nur darum geht, in Harvard oder Yale eine kleine Elite auszubilden.
Auch im Verhältnis zur Vergangenheit, zur Geschichte, zur Kunst, zur Ästhetik unterscheiden sich die Europäer und die Amerikaner fundamental. Es gibt so viele Unterschiede zwischen den USA und Europa. Wenn man ganz ehrlich ist, handelt es sich eigentlich um zwei ganz verschiedene Zivilisationen.
Wie kann sich Europa wieder auf die Zukunft hin orientieren?
Der erste Schritt, um uns dem Untergang zu entziehen, besteht darin, nicht mehr an ihn zu glauben. Sondern wieder daran zu glauben, dass wir uns verbessern können, dass wir eine Zukunft haben, was auch bedeutet, aktiv am Fortbestand dieser Gesellschaft und ihrer Kultur zu arbeiten.
Ideen haben Einfluss auf die Wirklichkeit. Wenn wir die Wirklichkeit ändern wollen, müssen wir als erstes auch unsere Ideen über die Wirklichkeit ändern und wieder glauben, dass wir tatsächlich eine Zukunft haben.
Jeder einzelne Europäer kann also etwas dafür tun, um sich aus der Transatlantikfalle zu befreien?
Genau, da kann jeder ansetzen. Und mein Buch bietet in gewisser Weise eine Orientierung, die verschiedenen Grundgedanken zu identifizieren, um die fast verschüttete europäische Identität zurückzugewinnen. Sicher wird es nicht möglich sein, gänzlich zu dem zurückzukehren, was wir einmal waren, bevor die Amerikaner uns in den Schwitzkasten genommen und das Gehirn gewaschen haben. Aber es ist durchaus möglich, Europa als einen Kontinent zu gestalten, der sich historisch, wirtschaftlich und kulturell von den USA unterscheidet und im Bewusstwerden dieses Unterschieds zumindest an einiges wieder anknüpfen kann.
Und welche Rolle kann Russland dabei spielen?
Russland ist das größte Land Europas. Auch wenn man den historischen Einfluss betrachtet – die Beiträge im Bereich der Literatur, der Kunst, der Philosophie, der Musik – dann gehört Russland einfach zu Europa. Hinzu kommen sowohl die christliche als auch die sozialistische Tradition, die beide zu einem erheblichen Teil von Russland mit vertreten wurden. Auch politisch war Russland immer eine korrigierende Macht in Europa. Immer wenn das Mächtegleichgewicht in Europa bedroht war, etwa unter der Herrschaft Napoleons oder auch angesichts der Eroberungen des Dritten Reiches, hat Russland durch seine Verteidigung das verlorene Machtgleichgewicht wiederhergestellt.
Schließlich ist Russland Europas Brücke nach Asien – die Verbindung zu China, zu anderen asiatischen Ländern. Dieses Russland aus Europa herauszuschneiden, würde bedeuten, dass sich Europa in eine Insel verwandelt, die vollkommen isoliert zwischen Nord- und Ostsee, Atlantik und Mittelmeer herumschwimmt. Das wäre selbstredend sehr schädlich für Europa. Damit Europa wieder Europa sein kann, muss Russland dazugehören. Und ich glaube auch, dass aus einem Kulturraum, der in zwei Hälften zerschnitten ist, geistig und kulturell nicht so viel werden kann.
Europa besteht zwar aus mehreren Nationalstaaten und war politisch nie dauerhaft geeint, aber letztlich sind die europäischen Staaten Teile einer gemeinsamen Zivilisation. Erst wenn diese Teilung Europas aufhört, können auch wieder Wohlstand und kulturelle Entwicklung nach Europa zurückkehren.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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