In die anhaltende Kakophonie aus Kriegshetze und Russlandhass hinein taucht ein Buch auf, das schon mit seinem Titel «Mit Russland – Für einen Politikwechsel» einen Kontrapunkt setzt. Die mutigen Autoren Stefan Luft, Kann Opielka und Jürgen Wendler haben es am Dienstag in Berlin vorgestellt. Ihnen zur Seite saß der ehemalige SPD-Außenpolitiker und frühere EU-Kommissar Günter Verheugen.
Der sieht das Buch als Beitrag zur Debatte, die in «einer Zeit politischer Radikalisierung, ständiger Gewaltbereitschaft und wachsender internationaler Spannungen» dringend fortgesetzt werden müsse. Es gehe darum, «nicht aufzugeben in dem Ziel, den im Grunde sehr einfachen Gedanken der Öffentlichkeit näherzubringen, dass im Atom-Zeitalter Konfrontation nur der Weg ins Verderben sein kann. Und dass die einzige Möglichkeit, unser Überleben zu sichern, darin besteht, dass wir, so schwer es im Einzelfall sein mag und so sehr wir uns im Einzelfall überwinden müssen, dass es keinen anderen Weg gibt als die Kooperation.»
Dafür sprechen sich die Autoren des Buches klar aus, zu dem Verheugen auch das Vorwort geschrieben hat. Der Journalist Jürgen Wendler (siehe Foto - alle Fotos: Tilo Gräser) sieht den Westen «am Scheideweg» und beschreibt, wie dieser dahin kam. Er habe seine jahrhundertelange Rolle als «allein maßgebliche Kraft» in der Welt verloren, doch er sei gezwungen, sich in dieser veränderten Situation zurecht zu finden:
«Dazu bedarf es innerer Stärke, die ohne Identität nicht denkbar ist.»
Wendler bietet auch eine interessante Interpretation des Buches von Samuel Huntington über den «Clash of Civilisations», dessen deutscher Titel «Kampf der Kulturen» etwas in die Irre führt. Der Historiker und Politikwissenschaftler Stefan Luft (siehe Foto) zeigt in seinen Beitrag, wie die bundesdeutsche Gesellschaft «kriegstüchtig» gemacht wird. Russland sei zum «Feind» erklärt worden, dessen Angriff angeblich bereits begonnen habe, wie Bundeskanzler Friedrich Merz unlängst behauptete.
Deutschland und Europa würden sich «nicht mehr im Frieden, sondern in einem Stadium zwischen Frieden und Spannungsfall» befinden. Der Wirklichkeitsverlust in der öffentlichen Debatte in Deutschland sei frappierend, stellt er in seinem Text fest. Er analysiert den bekanntgewordenen, aber immer noch geheimen «Operationsplan Deutschland», mit dem die Bevölkerung auf einen Krieg vorbereitet werden soll. Ebenso benennt er die politischen und gesellschaftlichen Akteure und seziert die öffentliche Debatte, mit der die «Heimatfront» auf den Krieg eingestimmt wird.
Das tatsächliche Ziel
Der aus Polen stammende Journalist Jan Opielka (siehe Foto) schaut in seinem Text im Buch auf Mittelosteuropa, das eine Brücke zwischen Ost und West sein könnte. Es wolle aber anscheinend eher Festung sein und folge blind den Interessen des US-geführten Westens, allen voran Polen. Opielka mahnt wie die anderen Autoren, dass «wir im Zuge des Ukrainekrieges in eine bedrohliche Situation geraten sind».
«Der atomare Rubikon ist nah, in Sichtweite. Diese Gefahr scheint nicht jeder zu sehen.»
Worum es beim Krieg in der Ukraine geht, benannte Ex-EU-Kommissar Verheugen bei der Buchvorstellung am Dienstag deutlich. Der habe «fast gar nichts mit Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Selbstbestimmung, Souveränität, territorialer Integrität, all diesen Schlagworten, die uns jeden Tag rund um Uhr um die Ohren gehauen werden», zu tun.
«Es geht in Wahrheit darum, eine strategische Schwächung Russlands im globalen Pokerspiel der Supermächte zu erreichen, Russland auf lange Sicht und womöglich für immer als einen Rivalen im geopolitischen Wettstreit auszuschalten.»
Doch die westliche Strategie, Russland zu ruinieren, sei «ruhmlos» gescheitert, sagte Verheugen. Dieser Krieg sei für die Ukraine bereits verloren und der Preis, den das Land für seine Fortsetzung zahle, werde jeden Tag höher. «Und es wird nicht besser werden, wenn nicht ein Stoppzeichen kommt», so der ehemalige FDP- und spätere SPD-Politiker, der sich für eine «Rückkehr zur Politik, weg vom Krieg» aussprach.
Das deutsche und auch europäische Interesse könne nur Stabilität in dem Vielvölkerstaat Russland statt dessen Ruin sein. Die ökonomischen Zahlen würden zeigen, dass die Sanktionen gegen Russland vor allem ihren Urhebern und insbesondere Deutschland schaden. Doch sie würden nun mit dem 18. Sanktionspaket der EU fortgesetzt, wozu auch das Verbot der Reparatur der Nord Stream-Pipelines in der Ostsee gehöre. Verheugen kommentierte das so:
«Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass da irgendjemand für die in Brüssel und Berlin die Drecksarbeit erledigt hat.»
Zu den Konsequenzen der Sanktionspolitik des Westens gehöre, dass Russland die Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt ausgebaut habe. Seine Zukunftschancen hätten sich daher verbessert, während die des Westens sich verschlechterten. Aus Sicht Verheugens befinden wir uns in der «in der gefährlichsten Situation seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges».
Dazu trage die «völlig unberechenbare» Politik von US-Präsident Donald Trump bei, während die Ukraine «unter der Last dieses Krieges mehr und mehr zusammenbricht und wie sich gezeigt hat, auch zu Verzweiflungstaten neigt». Die «Operation Spinnennetz», bei der die Ukraine Mitte Juni mit Drohnen russische Flugplätze der Atombomberflotte angriff, sei ein «Spiel mit dem Feuer» gewesen.
Ignoranz des Westens
Ebenso gefährlich seien auch die vor wenigen Tagen bekanntgewordenen Aussagen des Befehlshabers der US-Armee für Europa und Afrika, Christopher Donahue, die russische Exklave Kaliningrad an der Ostsee schnell einnehmen zu können. Verheugen dazu:
«Wer hier mit Übernahme droht, der löst in Russland genau das aus, das wir unter keinen Umständen auflösen dürfen: Nämlich den Eindruck, dass ein Angriff auf das russische Mutterland geplant ist. Kaliningrad ist in Moskaus Augen russisches Mutterland und muss von uns weiter so gesehen werden. Dann wird es sehr gefährlich.»
Der frühere EU-Kommissar kritisierte die Haltung, dass mit Russland und dessen Präsidenten nicht verhandelt werden könne. Er stelle sich die Frage «Woher wissen wir, dass wir mit Putin nicht verhandeln können?». In den 1970er Jahren sei ebenso erklärt worden, mit dem sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew könne nicht verhandelt werden. Das habe dann aber sehr gut geklappt und zu guten Ergebnissen geführt.
Niemand im Westen habe Russland ein Verhandlungsangebot gemacht und Moskaus Verhandlungsbereitschaft getestet. Niemand habe die Streitfragen auf den Tisch gelegt, um darüber zu reden und die gemeinsamen Interessen identifiziert, um sie vertraglich zu fixieren.
Stattdessen werden jene bundesdeutschen Persönlichkeiten, die sich darum bemühen, die Brücken nach Russland nicht völlig abreißen zu lassen, mit regelrechten «Räuberpistolen» im Stil des tiefsten Kalten Krieges diffamiert und Kontaktverbote erteilt. Ihnen werde gar «Charakterlosigkeit» vorgeworfen, so Verheugen, dabei seien jene charakterlos, die «hinnehmen, dass Zehntausende für nichts und gar nichts in den Tod geschickt werden».
Der ehemalige SPD-Außenpolitiker beklagte außerdem den Mangel an Diplomatie in der gegenwärtigen Situation. Dabei sei Diplomatie «kein Zeichen von Ängstlichkeit, Charakterlosigkeit oder übertriebener Vorsicht», sondern «ein Ausdruck von Selbstsicherheit und Stärke». Es dürfe deshalb keine Gesprächsverbote geben, «ob uns Putin gefällt oder nicht, ob uns die Zustände in Russland gefallen oder nicht, ob uns Herrschaftsmethoden gefallen oder nicht».
Es gebe «ein gemeinsames Interesse aller Menschen auf dem europäischen Kontinent», betonte Verheugen, «und dieses gemeinsame Interesse heißt Sicherheit und Zusammenarbeit». Er hält gesamteuropäische Kooperation immer noch für möglich. Die Rückkehr zur Politik europäischer Kooperationen, vor allem auf dem Feld der Sicherheit, «wäre ein Beitrag, den wir als Deutsche und als Europäische Union machen könnten in dem Bewusstsein, das gemeinsame Sicherheit, das ist, was uns verbindet».
Sicherheit nicht gegeneinander
Er wandte sich «mit Entschiedenheit» gegen jene, die wie SPD-Chef Lars Klingbeil sagen, Sicherheit gebe es nur noch gegen Russland. Das führe nur zu immer mehr Rüstung, immer mehr Spannungen und am Ende zu Konfliktentladungen. Sicherheit sei nur dann garantiert, wenn beide Seiten sich sicher fühlen.
Die Mittel dafür gebe es längst, betonte Verheugen und erinnerte an die verschiedenen Instrumente der Abrüstung, der Rüstungskontrolle, der Rüstungsbegrenzung, die vertrauensbildenden Maßnahmen, wirtschaftliche, kulturelle, soziale, technologische Kooperation – «alles haben wir schon gehabt und man muss das Rad nicht neu erfinden». Er wandte sich ebenso gegen die Behauptungen, dass Verhandlungen für Frieden «Verrat an der Ukraine» seien.
Verhandlungen seien keine Kapitulation, sondern würden der Verantwortung für die Zukunft und unsere Nachkommen gerecht. Das missachte Kanzler Merz, wenn er wie in seiner Rede nach der Wahl im Bundestag das Feindbild Russland «in sehr kräftigen Farben» darstelle.
«Das Beste für die Ukraine ist, wenn man alles dafür tut, um das Töten zu beenden und dem Land die Chance gibt zum Wiederaufbau.»
Verheugen stellte auch klar, dass es nicht allein um die EU gehe, wenn von Europa gesprochen werde. Dieser falsche Eindruck werde aber zunehmend vermittelt – und die beiden großen europäischen Staaten Russland und Türkei ausgegrenzt. Die angekündigte Militarisierung der EU führe zur stärkeren Abhängigkeit von den USA, welche die Nato nie aufgeben würden. Der Grund: Das westliche Militärbündnis diene zur Kontrolle Europas und vor allem Deutschlands durch die USA.
Trotz dieser Einsicht verweigerte der frühere EU-Kommissar später eine Antwort auf die Frage aus dem Publikum, ob es zur Kriegsverhinderung nicht notwendig sei, aus dem «Verbrecherbündnis» NATO auszutreten. Zuvor hatte er erklärt, die europäische Stärke sei nicht militärisches Potenzial, sondern liege in der friedlichen Zusammenarbeit. In diese Richtung entwickle sich «die Welt außerhalb unseres engeren Horizonts». «Teil dieser Welt zu sein, in kooperativen Strukturen», würde aus seiner Sicht die europäische Zukunft sicherer machen als der Weg in die Militarisierung.
Im vergangenen Jahr hatte der ehemalige SPD-Politiker gemeinsam mit Petra Erler das Buch «Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung» veröffentlicht. Auf meine Frage, wie lange aus seiner Sicht der Weg aus dem Krieg dauere, antwortete er am Dienstag ehrlich, er wisse das nicht und könne keine Prognose abgeben.
Seine anfängliche Hoffnung auf Trumps Versprechen, den Krieg zu beenden, habe sich als Illusion erwiesen. Er sehe im westlichen Lager keinerlei Bewegung weg von der gescheiterten «Siegfrieden»-Strategie und vermutet, «irgendwann haben die Ukrainer genug».
«Das kann nicht noch jahrelang so weitergehen. Die Menschen werden irgendwann genug haben davon und es wird eine breite Strömung geben, die sagt: Macht der Sache ein Ende! Je länger man damit wartet, der Sache ein Ende zu setzen, desto höher wird der Preis, den man zahlen muss.»
Bei der Buchvorstellung wurde aus dem Publikum eingefordert, offen zu sagen, «wer denn in unserem Land die Verbrecher sind, die den Krieg wollen». Das ging den Autoren und Verheugen dann anscheinend etwas zu weit. Ungeachtet dessen haben sie ein mutiges und dringend zu empfehlendes Buch vorgestellt. Es ist ein Lichtblick im Dunkel der Kriegshetze und des Russlandhasses, die mehr als nur ein böser Traum, sondern ganz gefährliche Realität sind.
Stefan Luft, Jan Opielka, Jürgen Wendler: „Mit Russland – Für einen Politikwechsel“
(mit einem Vorwort von Günter Verheugen)
Westend Verlag 2025. 320 Seiten; ISBN 9783987913303; 28 Euro