Deutliche Kritik an der westlichen Politik im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg übte der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und hochrangige Nato-Offizier Harald Kujat am Dienstag in Berlin. Er warnte zudem davor, dass die USA ihre Verbündeten in Europa auch in einen künftigen Konflikt mit China hineinziehen würden.
Der Ex-Bundeswehr-General, unter anderem Vorsitzender des Nato-Militärausschusses (2002 bis 2005) und anderer Gremien des westlichen Bündnisses, bezeichnete den Krieg in der Ukraine als «Menetekel für Europa, den Weg zu geopolitischer Selbstbehauptung einzuschlagen, politisch, wirtschaftlich, technologisch und nicht zuletzt militärisch». Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sei Deutschland «auf dem geopolitischen Schachbrett der Vereinigten Staaten und insbesondere in deren Russlandstrategie eine besonders wichtige Figur».
Kujat verwies dabei auf Aussagen von George Friedman, wonach Russland und Deutschland vereint die einzige Macht wären, die die USA bedrohen könnte. Davor hätten die USA seit mehr als einhundert Jahren eine «Höllenangst». Deshalb müsse laut Friedman sichergestellt werden, dass dieser Fall nicht eintrete.
General a.D. Harald Kujat am Dienstag in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Der Ex-General sprach bei einer Veranstaltung der Eurasien Gesellschaft über das Thema «Der Ukrainekrieg, die Rivalität der grossen Mächte und die Selbstbehauptung Europas». Mehr als 100 Gäste, auch aus dem Ausland, hörten ihm zu und diskutierten mit ihm.
«Russland suchte Nähe zur Nato»
Russland habe nach dem Untergang der Sowjetunion und des «Warschauer Vertrages» die Nähe zur Nato gesucht, erinnerte Kujat. Es sei um eine enge Abstimmung in Bezug auf die ehemaligen sozialistischen Staaten und die früheren Sowjetrepubliken gegangen.
«Was Russland im Sinn hatte, war, Krisen und Konflikte gemeinsam mit der Nato zu lösen und dadurch eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland zu verhindern. Mit dem Nato-Russland-Grundlagenvertrag von 1997 und dem Nato-Russland-Rat wurde dafür eine gemeinsame Basis geschaffen.»
Damit sei eine Zeit der engen politischen Abstimmung und der «sehr engen militärischen Zusammenarbeit» eingeleitet worden, blickte Kujat zurück. Er war selbst einige Jahre Vorsitzender des Nato-Russland-Rates. Doch schon kurz nachdem er das Amt abgab, wurde das seinen Worten nach nicht weiterentwickelt.
«Der Ukraine-Krieg hat Europa an eine Wegscheide geführt», stellte der Ex-General fest und fügte hinzu:
«Es geht in diesem Krieg eben nicht nur um die Sicherheit und die territoriale Integrität der Ukraine, sondern es geht um eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der alle Staaten des europäischen Kontinents ihren Platz haben.»
Der Ausgangspunkt eines Krieges sei immer eine bestimmte politische Konstellation, erinnerte er: «Ein Krieg entsteht nicht, weil sich Putins morgens sein Frühstücksei klopft und sagt: Jetzt überfallen wir mal die Ukraine.» Dazu gehörten eine lange Vorgeschichte und politische Ursachen.
«Politik und Diplomatie sind suspendiert»
Ausserdem führe ein Krieg zu einer neuen politischen Konstellation. Wenn diese von Dauer sein soll, sei eine Lösung notwendig, die politisch zwischen den Gegnern und den Unterstützern vereinbart sein müsse. Kujat verwies dabei auf Carl von Clausewitz, dem zu folge die Politik in einem Krieg die Oberhand behalten und trotz der Kampfhandlungen fortgesetzt werden muss. Es müsse ein Ende des Krieges auf dem Verhandlungsweg angestrebt werden.
«Sind Politik und Diplomatie, wie es in diesem Krieg der Fall ist, suspendiert, dann ist der Krieg, wie Clausewitz es definiert, ein Akt der Gewalt. Und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen.»
Kujat sieht den «strategischen Wendepunkt» im Verhältnis der beiden Grossmächte im Jahr 2002, als die USA 2002 einseitig den 30 Jahre zuvor vereinbarten ABM-Vertrag über strategische Raketenabwehrsysteme kündigten. Dadurch und durch weitere ähnliche Schritte in den Folgejahren sei das nuklear-strategische Gleichgewicht verändert worden.
Der «sicherheitspolitische Wendepunkt» sei der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest gewesen. Dort versuchte der US-Präsident George W. Bush «mit grossem Druck», die Ukraine und Georgien in die Nato zu holen. Das sei gescheitert, aber für beide Staaten sei eine sogenannte Beitrittsperspektive erklärt worden.
Kujat erinnerte daran, dass damals der heutige CIA-Direktor William Burns als US-Botschafter in Moskau 2008 vor den Folgen warnte:
«Das wird ein fruchtbarer Boden für eine russische Intervention auf der Krim und im Osten der Ukraine schaffen. Es besteht kein Zweifel, dass Putin scharf zurückschlagen wird.»
Doch als «eigentlichen Wendepunkt» bezeichnete der einstige Nato-Offizier den «von den USA inszenierten Staatstreich im Februar 2014 in Kiew, der den Bürgerkrieg im Donbass um die Verweigerung der Minderheitenrechte an die russischsprachige Bevölkerung ausgelöst hatte». Er erinnerte an die beiden Vereinbarungen von Minsk 2014 und 2015, die eine friedliche Lösung des Konflikts ermöglichen sollten.
«Der Krieg wäre schnell zu Ende gewesen»
Der Krieg hätte nach sechs Wochen beendet werden können, ist sich der frühere hochrangige Bundeswehr-Offizier sicher, durch die ukrainisch-russischen Verhandlungen Ende März 2022 in Istanbul. Dort sei ein «akzeptables Ergebnis» erreicht worden:
«Im Wesentlichen wurde vereinbart, dass die Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichtet und einen neutralen Status einnimmt und sich im Gegenzug die russischen Truppen auf den Stand vor dem Krieg, also den Stand vom 23. Februar 2022 zurückziehen.»
Doch das sei dann von der ukrainischen Seite auf Druck des Westens nicht unterzeichnet worden. Zu Beginn des dritten Kriegsjahres sei es «offensichtlich, dass sich in diesem Jahr, wahrscheinlich eher früher als später, das Schicksal der Ukraine entscheiden wird».
Die Zukunft des Landes liege in der Hand des Westens, von dem es finanziell und militärisch abhängig sei. Die Ukraine brauche Geld, Waffen und militärische Ausrüstung – «aber ihr fehlen vor allem Soldaten». Der Ex-General rechnet damit, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg weiter vor allem von den Europäern finanziert werden muss. Aus seiner Sicht verdichtet sich der Eindruck, dass die EU zunehmend die USA ersetzen, falls diese als bisherige Hauptunterstützer ausfallen.
Die Europäisierung des Krieges habe einen «grossen Schritt voran gemacht», stellte er fest. Und wies daraufhin, dass die Militäroperationen durch die USA und die Ukraine in einem gemeinsamen Stab in Deutschland, in Wiesbaden, geplant und vorbereitet werden. Doch vor allem die US-amerikanische Unterstützung der ukrainischen Truppen durch die verschiedenen Aufklärungsmittel und Zieldaten könnten die Europäer nicht übernehmen, so Kujat.
«Nato-Mitgliedschaft durch die Hintertür»
Der Ex-General bezeichnete es als «Illusion», wenn behauptet wird, in der Ukraine sei derzeit keine Seite im militärischen Vorteil. Aus seiner Sicht gibt es keine Patt-Situation. Die ukrainischen Truppen hätten nach der gescheiterten «Gegenoffensive» ihre Fähigkeit zu offensiven Handlungen weitgehend verloren.
Deshalb würden sie ausweichen und unter anderem versuchen, «durch Angriffe auf russisches Territorium zu demonstrieren, dass sie nach wie vor militärisch handlungsfähig sind». Dazu würden Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Donbass und im russischen Grenzgebiet gehören, unter anderem mit US-Streubomben, die der Ex-General als Kriegsverbrechen bezeichnete.
Die russischen Streitkräfte haben nach Kujats Eischätzung seit Oktober die Initiative übernommen, allerdings nur mit lokalen Angriffsschwerpunkten, um das bisher eroberte Territorium zu sichern. Er rechnet damit, dass die russischen Truppen Charkow wieder einnehmen und auch Odessa am Schwarzen Meer erobern werden.
Das US-Militär habe für die Ukraine und deren Truppen eine neue defensive Vier-Phasen-Strategie – kämpfen, aufbauen, erholen, reformieren – entwickelt. Dazu gehöre die Verteidigung des eigenen Gebietes, das Verringern der eigenen Verluste und sich auf spätere Operationen vorzubereiten. So sollen in zehn Jahren ukrainische Streitkräfte mit grosser Kampfkraft und hoher Abschreckungswirkung entstehen.
Das bedeute, dass Selenskyj das verkündete Ziel, die Rückeroberung der Gebiete im Donbass und der Krim, aufgeben müsste. Diese Strategie, die die europäischen Verbündeten einbeziehe, sei auf zehn Jahre angelegt. Damit solle verhindert werden, dass es durch mögliche Regierungswechsel in den beteiligten Ländern zu einem Kurswechsel kommt.
Die Bundesregierung sei bereit, sich daran zu beteiligen, sagte Kujat. Aus seiner Sicht kommt das einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine «durch die Hintertür» gleich, falls alle Nato-Staaten dem folgen.
«Keine Belege für russische Angriffspläne»
Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur ging auf die zunehmende Hysterie im Westen ein, Russland wolle nach der Ukraine andere Staaten angreifen und erobern. Er widersprach der These deutscher Medien und Politiker, Russland verfolge eine langfristige imperiale Strategie, den Einflussbereich der Sowjetunion zurückzuerobern.
Seit sich die Lage in der Ukraine zugunsten Russlands neigt, würden «sogenannte Militärexperten geradezu hysterisch Kriegsfurcht» verbreiten. «Ob das aus Unkenntnis, ideologischer Verengung, purer Wichtigtuerei geschieht – ich weiss es nicht», sagte Kujat dazu.
Es gehe offensichtlich darum, weiter Unterstützung für die Ukraine zu mobilisieren, in dem behauptet werde, eine ukrainische Niederlage würde Russlands Machthunger nicht befriedigen. Der Ex-General bezeichnete es als «bemerkenswert», dass deutsche Politiker auf diese Weise mehr Geld für die Bundeswehr fordern.
Für ihn gibt es keine überzeugenden Belege, dass Russland in einigen Jahren zu einem Angriff auf die Nato fähig ist oder sich darauf vorbereitet. Der russische Präsident Wladimir Putin habe dem mehrfach widersprochen, aber zugleich festgestellt, dass niemand glauben wolle, dass die Sowjetunion nicht wieder errichtet werden soll.
Beim Waldai-Forum im Oktober 2023 habe Putin erklärt, in der Ukraine gehe es nicht um Territorium und Russland habe kein Interesse, bestimmte Gebiete zurückzuerobern. Kujat machte deutlich, dass Russland auch praktisch keinerlei Vorbereitungen getroffen habe, um die gesamte Ukraine zu erobern und danach die Nato anzugreifen. Der Aufwand, ein Land wie die Ukraine vollständig zu besetzen, sei auch viel zu gross.
Russland gehe es stattdessen um eine Pufferzone zur Nato und man habe während der gesamten Auseinandersetzung – wie auch die USA – darauf geachtet, dass es zu keiner direkten Konfrontation komme. Der Einmarsch in die Ukraine ist aus seiner Sicht «nicht Teil eines imperialen Plans» Moskaus.
Kujat erklärte:
«Offenbar geht es Moskau vor allem darum, die Ausweitung der Nato durch die Mitgliedschaft der Ukraine bis an die russische Grenze zu verhindern.»
Russland habe in letzter Zeit operative Vorkehrungen gegen das Risiko getroffen, dass westliche Truppen in den Krieg eingreifen, um eine totale Niederlage der Ukraine zu verhindern.
«Militärische Niederlage der Ukraine zeichnet sich ab»
Kujat forderte in Berlin, der Westen sollte «nicht weiter Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes» auf sich laden. Die Ukraine werde Russland niemals militärisch besiegen, auch nicht durch die Lieferung von immer neuen «Wunderwaffen» aus dem Westen, stellte der Ex-General klar und betonte: «Die bittere Wahrheit ist, dass sich trotz massiver Unterstützung durch die USA und Europa mit modernen Waffen eine militärische Niederlage der Ukraine abzeichnet.»
Er warnte, dass sich das Zeitfenster für eine Verhandlungslösung bald schliessen könne. Wenn sich der Westen nicht ernsthaft um einen Verhandlungsfrieden bemühe, werde sich das Schicksal der Ukraine auf dem Schlachtfeld entscheiden.
Der Ex-Bundeswehr-General befürchtet, dass der Westen doch noch direkt eingreife, um eine endgültige Niederlag Kiews zu verhindern: «Damit entstünde eine reale Gefahr, dass ein grosser europäischer Krieg auf dem europäischen Kontinent ausbricht, auch mit dem Risiko eines begrenzten Nuklearkrieges, obwohl beide Grossmächte, Russland und die Vereinigten Staaten, sich sehr, sehr bemüht haben, genau dies zu verhindern.»
Kujat zeigte sich am Ende seines Vortrags besorgt:
«Historiker haben sich immer wieder die Frage gestellt, wie es geschehen konnte, dass die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg, die ‹Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts›, taumelten. Hoffentlich müssen sich die Historiker in der Zukunft nicht fragen, wie der Ukraine-Krieg zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden konnte.»
Eine Reihe seiner Aussagen bei der Eurasien Gesellschaft sind auch in aktuellen Interviews mit ihm zu finden, so in der Preussischen Allgemeine vom 11. Februar und im Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus vom 14. Februar.
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