Eine «sehr, sehr ungünstige Lage im Moment für die Ukraine» hat der Militärexperte und ehemalige Bundeswehr-Oberst Wolfgang Richter ausgemacht. Er erklärte das in einem Interview mit dem Berliner Sender Radio Eins am Mittwoch. In der Ukraine gebe es einen Abnutzungskrieg, den langfristig der gewinne, der über die grösseren personellen und materiellen Ressourcen verfüge.
Das spreche derzeit nicht für die ukrainische Seite, so Richter, der laut dem Sender für das Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES) arbeitet. Zuvor war Richter seit 2009 Mitarbeiter der von der Bundesregierung finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Der Ex-Oberst sieht einen Stillstand seit einem Jahr in dem Krieg, der durch den «Versuch einer Gegenoffensive» kurz unterbrochen worden sei. Russland habe die Oberhand gewonnen und greife wieder verstärkt die ukrainische Infrastruktur an. Dabei gebe es zivile Opfer, weil die Ziele in zivilen Gebieten lägen, durch Fehleinschätzungen und technische Fehler, aber auch durch Trümmer nach Abschüssen durch die Luftverteidigung.
Richter erklärte, dass europäische Staaten wie Deutschland, Grossbritannien oder Frankreich die absehbar ausfallende Unterstützung der USA für die Ukraine ersetzen müssten. «Ob sie das können, steht auf einem anderen Blatt», fügte er hinzu. Aber es werde alles versucht, das auszugleichen.
Waffen statt Frieden
Aus seiner Sicht hat Moskau beim Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 die Kampfkraft der Ukrainer unterschätzt. Er bestätigt die Verhandlungen zwischen beiden Seiten im Frühjahr 2022, «die erstmal sehr positiv erschienen», und den damit verbundenen russischen Rückzug aus dem Raum Kiew. Doch es habe keine Friedensvereinbarung gegeben, weil der Westen Kiew Waffen versprochen habe, um den Krieg fortsetzen zu können.
Doch die Waffenlieferungen haben am Ende nicht den erhofften ukrainischen Sieg gebracht. Inzwischen sind sie «an ein gewisses Ende» gekommen wie Richter feststellt und können aus seiner Sicht nicht mehr wie im bisherigen Ausmass wieder aufgenommen werden. Zudem könne der Westen die personellen Verluste der ukrainischen Armee nicht ersetzen:
«Das wäre ja Krieg mit Russland.»
Der Militärexperte kritisiert, dass die westliche Seite und die von ihr unterstützte Kiewer Führung ohne Exitstrategie sind. Im Frühjahr 2022 sei eine Friedenslösung möglich gewesen, die den vorherigen Minsker Abkommen entsprochen hätte. Das sei am Wunschdenken der einen Seite gescheitert, während jetzt die Realität anerkannt werden müsse.
Er befürchtet, dass nun für eine Friedenslösung die Ukrainer zu grösseren Kompromissen gezwungen sein werden. Der Westen müsse alles tun, um die Ukraine als unabhängigen, souveränen Staat zu erhalten. Aber wer deshalb ohne Exitstrategie nur mehr Waffen liefern wolle, bewege sich «sicherlich nicht mehr in der Realität».
Blindheit statt Realitätssinn
Die Fähigkeiten und Möglichkeiten der russischen Armee sind im Westen lange Zeit unterschätzt worden. Der Bundeswehr-General Christian Freuding behauptet dazu, «wir haben die Durchhaltefähigkeit der Russen am Anfang nicht so gesehen, wie wir sie heute beurteilen». Er ist Leiter des Ukraine-Lagezentrums der Bundeswehr und deren Planungs- und Führungsstab.
Freuding sagte das in einem Interview, das er Ende Dezember der Süddeutschen Zeitung und dem Schweizer Tages-Anzeiger gab. «Wir Militärs haben grundsätzlich einen nüchternen Blick, der sich aus unserem Lagebild von vor Ort und den entsprechenden Analysen ergibt», behauptet er darin.
Doch Freuding hat sich unter anderem im Frühjahr 2022 sicher gezeigt, dass die russische Armee in der Ukraine scheitert, wie er damals in einem Video-Interview erklärte. Im März 2023 behauptete er, die westlichen Waffenlieferungen, darunter auch deutscher Leopard 2-Panzer, würde es den ukrainischen Streitkräften ermöglichen, «die Initiative zurückzugewinnen» und den Krieg zu gewinnen.
Im September 2023 sagte er bei einer Konferenz in Kiew: «Wir unterstützen die Ukraine, so lange es nötig ist.» Laut einem Bericht darüber bekam er Beifall für die Aussage «Wir teilen Ihre Vision eines Sieges.»
Die Ukraine müsse ihre territoriale Integrität komplett zurückbekommen, so der General vor wenigen Monaten. Im aktuellen Interview sagt er, «wir sind gut beraten, weiterhin sachlich auf diesen Krieg zu schauen». Zugleich sieht er «aus meinem militärischen Blickwinkel» Erfolge der ukrainischen Armee, weil 80 Prozent des ukrainischen Territoriums noch «frei» seien und Ziele in der Tiefe Russlands angegriffen werden.
Wunschdenken statt Analyse
Der angeblich nüchtern dreinschauende General erklärt nicht, woraus er schliesst, dass die russische Armee die gesamte Ukraine erobern wollte. Er will inzwischen «nicht abschliessend bewerten», ob das von ihm benannte Ziel der vollständigen Rückeroberung, einschliesslich der Krim, noch realistisch ist. Dieser Anspruch müsse aber «unverändert bleiben».
Im Interview wird Freuding gefragt, ob Russland nach einem Sieg im Ukraine-Krieg andere Länder angreifen werde. Das behaupten derzeit einige Militärexperten und Regierungsberater in Deutschland und fordern deshalb mehr Aufrüstung.
Darauf geht der General nicht konkret ein und sagt, dass die russischen Streitkräfte durch den Krieg materiell und personell geschwächt würden. Aber Russland könnte fähig sein, «sich in einem Zeitraum von etwa fünf bis acht Jahren wieder neu aufzustellen - und das nehmen wir ernst». In dem «Zeitfenster» müsse wieder «abschreckungsfähig» aufgerüstet werden.
Die angebliche Absicht und künftige Fähigkeit Russlands, nach einem militärischen Sieg über die Ukraine Nato-Staaten anzugreifen «ist offensichtlich nicht die Erkenntnis dafür qualifizierter und verantwortlicher militärischer Stäbe aus einer komplexen gesamtstrategischen Lagebeurteilung». Das erklärt dazu Ex-General Harald Kujat in einem ausführlichen Interview in der Ausgabe vom 22. Dezember des Schweizer Magazins Zeitgeschehen im Fokus. Es handele sich stattdessen um «eine Vermutung von ‹Militärexperten›», so der ehemalige Bundeswehrgeneralinspekteur und frühere Vorsitzende des Nato-Militärausschusses.
Verzerrung statt Wahrheit
Er geht ausführlich auf die Lage der Ukraine ein, die sich «in einer Sackgasse» befinde, und kritisiert deutlich die «verzerrte Darstellung der Realität» auch durch Politik und Medien im Westen. Die Erkenntnis von der gescheiterten ukrainischen «Gegenoffensive» setze sich nur langsam durch. Dennoch wolle die deutsche Bundesregierung Kiew militärisch und finanziell unterstützen, «so lange es dauert».
«Viele sind immer noch bereit, die Ukraine bis zum bitteren Ende weiterkämpfen zu lassen und ignorieren die grossen menschlichen Verluste ebenso wie die Zerstörung des Landes. Es wird sogar nach wie vor behauptet, die Ukraine verteidige die Freiheit und Sicherheit des Westens und sollte deshalb mehr Unterstützung zur Fortsetzung des Krieges erhalten.»
Es würden weitere Waffenlieferungen gefordert, damit die ukrainischen Streitkräfte russisch besetztes Territorium freikämpfen könnten, um so die Voraussetzungen für ein positives Verhandlungsergebnis zu verbessern. «Aber je länger der Krieg dauert, umso mehr neigt sich das Geschehen trotz des grossen westlichen Engagements zugunsten Russlands, was durch die gescheiterte Offensive immer deutlicher wird», kommentiert das Kujat.
Seit zwei Jahren werde «die ganze Wahrheit» nicht zugelassen, stellt er fest. Und rechnet damit, dass zwar die Kriegsbefürworter ihren Irrtum nicht eingestehen werden, aber die veröffentlichte Meinung «tatsächlich umschwenkt».
«Die Ursachen der verzerrten Darstellung der Realität sind die unreflektierte Übernahme von Desinformation, sind vor allem Inkompetenz und ideologische Verblendung.»
Desinformation statt Klarheit
Der Ex-General weist daraufhin, dass die ukrainischen Operationen von US-amerikanischen, britischen und ukrainischen Offizieren gemeinsam in der «Security Assistance Group-Ukraine», einem amerikanischen Stab in Wiesbaden, geplant werden. Er widerspricht Aussagen, es gebe in der Ukraine eine Patt-Situation, «weil die russischen Streitkräfte eindeutig überlegen und seit einiger Zeit zu Angriffen übergegangen sind».
Wolodymyr Selenskyj sei eine tragische Figur, so Kujat, der ebenfalls auf die Friedensverhandlungen im März 2022 hinweist. Russland habe während der Verhandlungen «als Zeichen des guten Willens» seine Truppen vor Kiew zurückgezogen. Selenskyj habe damals in einem Interview mit russischen Medien die Verhandlungsfortschritte in Istanbul und die erzielten Ergebnisse gelobt sowie den Vertragsentwurf durch seinen Verhandlungsführer paraphieren lassen. Doch er sei von einem Friedensvertrag mit Putin abgebracht worden, mit dem westlichen Versprechen jeder erforderlichen Unterstützung, um den Krieg zu gewinnen.
Laut Kujat wurden lange Zeit die russischen Truppen unterschätzt und die ukrainischen Truppen dagegen «masslos überschätzt».
«Übrigens haben die westlichen Medien ein gehöriges Mass an Mitverantwortung für diese Desinformation und deren Folgen. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem klar geworden ist, dass die Ukraine keinen militärischen Sieg erringen kann.»
Die Alternativen seien, Russland erreiche die Ziele seiner «militärischen Spezialoperation», ein langer zerstörerischer Krieg oder ein Waffenstillstand mit folgenden Friedensverhandlungen. Letzteres sei möglich, «solange sich die Erfolge Russlands in Grenzen halten und noch Chancen für die Ukraine bestehen, einen akzeptablen Interessenausgleich zu erreichen».
Brücke statt Keil
Doch das Zeitfenster für einen Verhandlungsfrieden mit einem Ergebnis, das den Interessen der Ukraine Rechnung trägt, beginnt sich aus Sicht des Ex-Generals langsam zu schliessen. Er benennt ausserdem die Rolle der USA:
«Ohne die finanzielle und materielle Unterstützung durch die USA könnte die Ukraine in diesem Krieg nicht bestehen. Hinzu kommt, dass die amerikanischen Streitkräfte entscheidenden Anteil an der Kriegsführung der Ukraine haben.»
Kujat widerspricht den Behauptungen, dass Russland von Anfang an die gesamte Ukraine erobern wollte. Er warnt vor der Gefahr, dass sich der Krieg in der Ukraine ausweitet, je länger er dauert und «wenn nicht ernsthaft ein Waffenstillstand und eine Friedenslösung angestrebt werden».
Doch die Hürden für eine Verhandlungslösung seien inzwischen deutlich höher als noch vor einem Jahr. Deshalb sei auch der von ihm mit anderen Persönlichkeiten im August 2023 entwickelte Verhandlungsvorschlag überholt.
«Wir wollten entgegen der herrschenden Meinung zeigen, das Frieden und Sicherheit für die Ukraine möglich sind. Ein Waffenstillstand, so wie wir ihn vorgeschlagen haben, wäre auch heute noch realisierbar.»
Der ehemalige Bundeswehr-Generalsinspekteur orientiert sich nach seinem Worten an einer Aussage aus einem Beitrag von Henry Kissinger aus dem Jahr 2014. Der kürzlich verstorbene US-Politiker hatte darin kritisiert, die Ukraine-Frage werde viel zu oft als ein Showdown zwischen Ost und West dargestellt. Seine Antwort:
«Aber um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandens Vorposten sein. Vielmehr sollte sie eine Brücke zwischen beiden Seiten darstellen.»
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