Transition News: Sie sind seit über 30 Jahren als Sozialarbeiterin in einer deutschen Stadt tätig. Was machen Sie da genau?
Ich arbeite bei einem Wohlfahrtsverband in der Beratungsstelle für jugendliche Migranten. An uns kann sich jeder wenden, der neu in Deutschland ist. Zum Beispiel wenn es darum geht, eine passende Schule oder einen Sprachkurs zu finden. Oder einige klären ihre aufenthaltsrechtlichen Sachen mit uns. Und anderen helfen wir mit der Anerkennung von Zeugnissen. Wir bieten praktisch ein komplettes Paket, alles, was man so braucht, wenn man in ein neues Land zieht.
Wie alt sind die Flüchtlinge, die Sie betreuen?
Unsere Altersgruppe reicht von 12 oder 14 – obwohl 12-Jährige betreuen wir eher selten – bis 27, wir betreuen also auch junge Erwachsene.
Welche Gruppen von Einwanderern sind in den mehr als drei Jahrzehnten Ihrer Tätigkeit in Ihre Beratungsstelle gekommen?
Verschiedene Gruppen natürlich, es hat sich ja dauernd was getan – je nach Kriegsschauplatz. Ende der 1980er Jahre war die Hauptgruppe, die wir damals betreut haben, Aussiedler aus den osteuropäischen Staaten. Da galt noch das Vertriebenengesetz aus der Zeit des Kalten Krieges. Das war wirklich eine andere Zeit.
Das Bundesvertriebenengesetz wurde 1953 beschlossen. Es ging darum, dass deutsche Minderheiten aus den osteuropäischen Staaten – zum Beispiel aus Rumänien, Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei – in die BRD einwandern durften. Angesichts der Gräueltaten der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Minderheiten oft diskriminiert. Daraufhin wollten viele ihre alte Heimat verlassen. Und in diesem Zusammenhang entstand das Bundesvertriebenengesetz, um für die sogenannten «Aussiedler» Klarheit zu schaffen, was ihnen in der BRD zusteht. Es gab für sie spezielle Schulen sowie Sprachkurse und sie bekamen auch günstige Kredite, um sich eine Erstausstattung zu kaufen. Es gab Beratungsbüros für Erwachsene und dann eigene Anlaufstellen für junge Menschen. Und in einer dieser Jugend-Beratungsstellen habe ich Ende der 1980er Jahre als Sozialarbeiterin angefangen.
Also in der Zeit als der Eiserne Vorhang gefallen war?
Der Vorhang war noch nicht ganz gefallen. Das war damals eine Umbruchzeit. Viele sind schon aus den osteuropäischen Ländern geflüchtet, vornehmlich aus Polen. Aber auch aus der ehemaligen DDR konnten einige, zum Beispiel über Ungarn, nach Westdeutschland fliehen. Nach ihrer Einreise wurden sie eben betreut.
Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre kümmerten sich vier Sozialarbeiter um rund 200 Klienten pro Jahr. Damals war alles sehr gut organisiert. Auch finanziell waren unsere Beratungsstellen und die Kommunen besser aufgestellt. Und wir konnten jeden, der neu in der Stadt war, auch erreichen. Die Behörde teilte uns Namen und Anschriften mit, sodass wir die Personen einladen oder besuchen konnten.
Wie haben die Neuankömmlinge auf dieses Beratungsangebot reagiert?
Wir sind praktisch auf die Neuankömmlinge zugegangen und haben uns mit unserem Angebot vorgestellt. Und wenn sie gesagt haben, dass sie das nicht wollen, dann war das auch okay.
Aber die meisten waren froh, dass da jemand auf sie zukommt, der sie unterstützen möchte. Die Beratungsangebote wurden sehr gerne angenommen. Wir haben gefragt, wie es ihnen geht und ob sie unsere Unterstützung brauchen, eine entsprechende Schule, Arbeitsstelle oder eine Wohnung zu finden. Wir wussten, welche Ämter für sie zuständig sind oder welche Zeugnis-Anerkennungsstellen es gibt. Die meisten Aussiedler hatten schon eine Ausbildung oder einen Beruf – es gibt die Möglichkeit, den Beruf hier anzuerkennen zu lassen oder auch das Studium fortzusetzen.
Wir bieten eine allgemeine Einlebungsunterstützung. In einem neuen Land gibt es oft ganz andere Strukturen und Behörden, und man muss sich erst mal zurechtfinden. Jugendlichen zum Beispiel erklären wir, welche finanzielle Unterstützung sie bekommen können, wie und wo sie Kindergeld beantragen und so weiter.
Wie viele Menschen lebten Ende der 80er in Ihrer Stadt?
Wir hatten rund 200.000 Einwohner, arbeiteten zum Teil zu viert in der Beratungsstelle und hatten ungefähr 200 Klienten pro Jahr. Inzwischen sind wir allein oder zu zweit, obwohl es heute viel mehr Einwanderer gibt als damals. Und wir hatten auch viele Freizeitangebote und Sportgruppen für die Jugendlichen. Wir bekamen vom Bund im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes eine gute Finanzierung, sodass wir diese Menschen gut unterstützen konnten. Wir konnten jeden irgendwie auffangen.
Haben die Aussiedler alle schon Deutsch gesprochen?
Nein, das war auch sehr unterschiedlich. Einige brachten von zu Hause umgangssprachliche Deutschkenntnisse mit, und andere hatten in der Schule Deutschunterricht – sie kamen ja aus verschiedenen Ländern. Aber die meisten sprachen kaum Deutsch und wenn doch, dann konnten sie nur sprechen, aber nicht lesen oder schreiben.
Das war natürlich etwas mühsam am Anfang. Aber alle waren sehr motiviert, schnell die Sprache zu lernen, weil sie ja auch deutschstämmig waren. Das war eine ganz andere Ausgangslage als heute. Und ich würde sagen, die europäische kulturelle Prägung hat es ihnen auch leichter gemacht, sich hier zurechtzufinden.
Und als Aussiedler durfte man arbeiten?
Ja, denn sie bekamen spätestens nach einem halben Jahr die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie durften nur einreisen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie deutschstämmig sind. Das lief alles über die deutsche Botschaft.
Und dann kam 1992 der Jugoslawienkrieg. Das war die erste Gruppe, auf die dieses Bundesvertriebenengesetz, das ab 1993 in geänderter Fassung galt, nicht mehr zutraf. In unsere Stadt kamen vorwiegend Kroaten und Bosnier, wenige Serben. Die Menschen gehen ja oft dahin, wo sie Bekannte oder Verwandte haben. Die meisten, die wir damals als Jugendliche betreut haben, waren Kroaten und nur vereinzelt Bosnier.
Was war ab dem Jugoslawienkrieg anders?
1992 begannen bei uns die personellen Kürzungen. Es stand weniger Geld zur Verfügung, da das Vertriebenengesetz geändert worden war. Wir waren nur noch zu zweit und betreuten rund 150 Jugendliche pro Jahr.
Aber die große Problematik war, dass keiner wusste, ob sie überhaupt bleiben dürfen. Bis dahin hatten wir immer nur mit Jugendlichen zu tun, die auf jeden Fall in Deutschland bleiben konnten und wollten.
Und nun war das Aufenthaltsrecht der jungen Menschen unsicher, ihnen drohte die Zurückweisung, was dann ja auch vollzogen wurde: Nach dem Dayton-Abkommen gab es ab 1996 wieder Abschiebungen.
Was macht das mit den Jugendlichen, wenn sie nicht wissen, ob sie überhaupt im Land bleiben dürfen?
Wir haben sofort einen Unterschied bemerkt. Die Motivation, sich hier einzugliedern, sich einzuleben und Deutsch zu lernen, war nicht mehr so gegeben wie zuvor. Viele befanden sich in einer Art Warteposition. Außerdem waren sie durch den Krieg traumatisiert – das gab es bei unseren Klienten davor nicht.
Wir hatten es plötzlich mit Jugendlichen zu tun, die zum Teil latent aggressiv und depressiv waren. Das war eine ganz andere Zielgruppe. Wir wussten gar nicht, wie wir die anpacken, wie wir verfahren sollen, es war uns selbst fremd.
Unsere Arbeit war nicht mehr so erfolgreich, sie hatte nicht mehr dieselbe Wirkung. Es herrschte eine gewisse Hilflosigkeit, wie man mit den jungen Menschen umgehen soll. Und ich denke, es war niemand so richtig darauf vorbereitet. Viele dieser Familien sind 1997 wieder zurück nach Kroatien und Bosnien gegangen oder sind weiter in die USA oder nach Kanada gezogen.
Waren das Familien, die damals aus Kroatien und Bosnien nach Deutschland geflüchtet sind?
Ja, größtenteils. Ich hatte in den 90er Jahren keine Minderjährigen ohne Eltern. Das gab es damals so nicht. Vielleicht gab es Einzelne, aber die sind bei uns nicht vorstellig geworden.
Ist das noch immer so?
Nein, das hat sich sehr geändert. Derzeit kommt eine große Anzahl unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland. Das fing im Jahr 2000 an. Damals kamen aus einzelnen afrikanischen Ländern minderjährige Flüchtlinge, auch aus Marokko oder Tunesien. Das war aber keine große Gruppe. Erst seit dem Bürgerkrieg in Syrien, seit 2011, kommen jedes Jahr mehrere Tausend unbegleitete Jugendliche nach Deutschland. Insgesamt lebt fast eine Million Syrer in Deutschland.
Wie geht es diesen unbegleiteten Jugendlichen?
Die Hälfte der Plätze in Jugendhäusern geht an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Das muss man sich mal vorstellen, welche Ausmaße das hat.
Was besonders dramatisch ist: Diese Jugendlichen sind wirklich allein auf die Flucht gegangen. Ihre Familie hat alles zusammengekratzt, damit einer versucht, bis nach Deutschland zu kommen, und, wenn er es denn schafft, die anderen nachholen kann. Das sind die sogenannten «Ankerjugendlichen».
Wenn ein Minderjähriger in Deutschland einreist, dann hat er das Recht, seine Eltern und minderjährigen Geschwister nachzuholen. Das hat sich natürlich in den Ländern, wo die Situation – aus wirtschaftlichen Gründen oder weil Krieg herrscht – fatal ist, sehr schnell herumgesprochen. Und es sind weiterhin viele Kinder unterwegs zu uns.
Einige davon sind 20 Jahre alt und werden hier durch gefälschte Papiere als 18-Jährige geführt. Aber viele sind wirklich noch nicht erwachsen. Und in dieser Gruppe haben wir meiner Ansicht nach sehr viele wirklich schwer Traumatisierte, die sehr oft in Kriminalität, Drogenkonsum, Depressionen abrutschen. Sie sind durch die Erlebnisse während der Flucht noch weiter traumatisiert. Das ist wirklich eine große Gruppe, die mir Sorgen macht.
Bekommen Sie noch immer die Anschriften der neu angekommenen Jugendlichen, um diese dann zu kontaktieren und auf sie zuzugehen?
Leider nicht. Das wurde 1992, angeblich aus Datenschutzgründen, alles geändert. Wir bekommen diese Angaben nicht mehr, obwohl wir das lange angemahnt haben, denn wir können diese Menschen nicht rechtzeitig erreichen. Erst wenn jemand irgendwie auffällt, werden wir von einer Behörde informiert: Wenn zum Beispiel jemand die Schule nicht mehr besucht, Schulden gemacht hat oder kriminell geworden ist.
Wenn wir die jungen Menschen vorher erreichen könnten, um uns vorzustellen und zu sagen, dass sie bei Fragen oder Problemen bei uns Hilfe bekommen, dann könnten wir einige Dinge auffangen.
Ich habe den Eindruck, die ganze Migrationsarbeit soll den Wohlfahrtsverbänden aus der Hand genommen und an staatliche Stellen übergeben werden. Der Unterschied zwischen einer Behörde und unserem Beratungsbüro ist, dass wenn jemand zu uns kommt und sagt, dass er oder sie schwarz arbeitet, dann haben wir die Schweigepflicht einzuhalten, um dem Klienten nicht zu schaden. Das ist bei den Dienststellen der Stadt anders, und dadurch verändert sich etwas.
Außerdem scheinen die Wohlfahrtsverbände auch finanziell trockengelegt zu werden. Im Gegenzug werden die kommunalen Stellen ausgebaut, aber mit einem ganz anderen Schwerpunkt, nämlich die Personen zu kontrollieren und darauf zu achten, dass sie bestimmte Sachen erfüllen. Sie führen Online-Akten, und in diese Akten können die Ausländerbehörde, Jobcenter, Arbeitsamt und so weiter Einsicht nehmen. Sozialarbeiter werden immer mehr zum Erzieher-Kontrolleur. Und der einzelne Mensch wird ganz neoliberal nach seiner Verwertbarkeit überprüft. Das gibt es bei uns nicht.
Wir sind die alten Dinosaurier, die noch für die Menschen arbeiten, die Schweigepflicht einhalten und versuchen, die Hilfesuchenden zu schützen.
Was müsste sich ändern?
Zuerst würde ich versuchen, die Fluchtgründe zu minimieren. Über die Situation in den Ländern spricht man kaum. Jetzt haben wir in Syrien diese neue Lage – ich hoffe, dass es dort wirklich so friedlich zugeht, dass die Menschen, die hier wohnen und sich in unsere Wirklichkeit nie einleben werden, zurückkehren können.
Unser System ist überfordert, weil zu viele Flüchtlinge auf einen Schlag kommen und sie in bestimmten Orten zu konzentriert sind.
Sie können sich gar nicht integrieren, auch weil es die Ressourcen dafür nicht mehr gibt. Die eigentlichen strukturellen Probleme werden vom Staat übersehen. Stattdessen gibt es unheimlich viel Bürokratie, ohne Sinn und Verstand.
Es geht nur noch um Zahlen, ganze Dienststellen beschäftigen sich nur damit, wie viele Personen aus dieser und jener Altersgruppe aus einem bestimmten Land nach Deutschland kommen. Aber das bringt uns alles nichts, wenn es zum Beispiel keine Wohnungen gibt und Migranten auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden. Andererseits ist das normal, wenn selbst die Einheimischen kaum eine Wohnung finden und dann eben noch die Flüchtlinge dazukommen. Die fehlenden Ressourcen führen doch zur Diskriminierung.
Aus welchen Ländern stammen Ihre Klienten?
Aus Syrien, Eritrea, Guinea, Afghanistan, dem Irak und in den letzten Jahren auch aus der Ukraine. Wir betreuen Frauen und Männer. Aber aus Syrien, Afghanistan und dem Irak kommen hauptsächlich Männer nach Deutschland.
Wie erfahren die Jugendlichen von Ihrer Beratungsstelle?
Durch Mund-zu-Mund-Propaganda – von Menschen, die mit uns positive Erfahrungen gemacht haben. Beispielsweise ein junger Mann aus Eritrea, den wir betreuen, war drei Jahre auf der Flucht. Zuerst ist er nach Libyen, dann mit dem Boot nach Italien oder Griechenland. Er hat ganz schlimme Erlebnisse hinter sich, ist traumatisiert und leidet immer noch an Schlafstörungen und Ängsten. Er hat dann trotzdem hier mit viel Mühe einen Berufsabschluss geschafft und ist auch sehr glücklich, weil er sich in Deutschland, im Gegensatz zu Eritrea, sicher fühlt und eine Perspektive sieht.
Menschen wie er sind sehr froh, auch wenn sie «nur» bei Amazon arbeiten. Sie haben aufgrund der Situation in ihrer Heimat nicht so hohe Ansprüche. Manche schließen eine Ausbildung ab und arbeiten als Pfleger, Arzthelferin oder sind ausgebildete Logistikmitarbeiter.
Auch Menschen, die gebildet und offen für Neues sind, können sich gut integrieren. So wie die ersten Flüchtlinge aus Syrien. Das waren hauptsächlich junge Akademiker, also gut ausgebildete junge Menschen, die oft aus vermögenden Elternhäusern stammten – so eine Flucht kostet ja mehrere tausend Dollar.
Die Menschen, die mit der zweiten Welle aus Syrien gekommen sind, haben, um die Flucht nach Deutschland zu bezahlen, von denjenigen, die bereits hier waren, Geld bekommen. Sie wurden hergeholt. Diese Flüchtlinge stammen also aus ärmeren Verhältnissen und haben schon länger im Bürgerkrieg gelebt. Das heißt, sie haben zum Teil nur ein, zwei oder maximal drei Jahre Schulbesuch hinter sich. Sie finden hier nicht so ihren Weg, sind eher hilflos. Für sie ist alles schwieriger, weil sie nicht bildungsaffin sind. Sie lernen nicht so leicht Deutsch, und das macht es fast unmöglich, einen Job zu finden. Außerdem liegen Welten zwischen der Wirklichkeit hier und ihrem Leben in Syrien. Sie stammen aus Dörfern, aus Großfamilien, wo der Vater zwei oder drei Frauen hat und das Frauenbild ein ganz anderes ist.
Diese zweite Welle mit Flüchtlingen aus Syrien, 2017 und 2018, hat auch uns ganz anders erwischt. Damals haben wir gemerkt, dass es schwieriger ist, diese jungen Menschen zu beschulen und mit Perspektiven zu versorgen.
Betreuen Sie auch Menschen, die schon seit mehreren Jahren in Deutschland leben?
Wir haben viele Klienten, die seit acht oder zehn Jahren in Deutschland leben. Sie brauchen immer wieder unsere Unterstützung. Zum Beispiel bei Bewerbungsschreiben, bei Problemen mit dem Vermieter oder bei der Wohnungssuche. Auch Verschuldung oder familiäre Probleme sind große Themen. Viele Immigrantinnen betrachten ihr Leben nach fünf oder sechs Jahren in Deutschland ganz anders, und das führt natürlich zu Konflikten.
Wie ist Ihr Fazit nach so vielen Jahren Sozialarbeit mit jungen Flüchtlingen?
Wenn es so bleibt, dann sind die Kassen bald leer, und wir haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, die Menschen irgendwie zu unterstützen. Die Minderjährigen, die alleine reisen, kosten wirklich viel Geld. Sie werden in Jugendwohnheimen untergebracht, und die sind sehr kostspielig – 3.000 bis 4.000 Euro pro Monat für jeden Jugendlichen.
Das sind sehr hohe Zahlen. Und wir helfen diesen Jugendlichen eigentlich nicht, weil sie aus ihren Großfamilien herausgerissen und nicht glücklich sind. Ich betreue meistens die Jugendlichen, wenn sie mit 19 aus den Wohnheimen ausziehen. Viele sind überfordert. Einige schaffen es, aber der Großteil ist gefährdet: Drogen-, Alkoholkonsum, Kriminalität. Sie rutschen ab, da sie hier keinen Halt, keine Anbindung haben.
Sie versuchen, ihre Eltern herzuholen, aber das klappt nicht immer. Sie reisen zum Beispiel mit 17 ein, aber das Verfahren dauert meistens zwei Jahre. Das heißt, wenn sie es bis zum 18. Lebensjahr nicht schaffen, haben sie keinen Anspruch mehr auf Familienzusammenführung. Und dann sitzen sie hier alleine und sind wirklich gefährdet. Einige sind schwer traumatisiert.
Was wäre die Lösung?
Ich würde die Jugendlichen mit 12.000 Euro ausstatten – so viel kosten drei Monate Aufenthalt in Deutschland – und sie zu ihrer Familie zurückschicken. Mit diesem Geld haben sie in ihrem Herkunftsland eine Startmöglichkeit. Das wäre sozusagen Familienzusammenführung in die andere Richtung.
Und wie gesagt, die Fluchtursachen müssen auf den Tisch. Da muss global eine Lösung her. Deutschland als Paradies für Flüchtlinge ist meiner Meinung nach nicht mehr zu halten.
Haben Sie ein Beispiel für so einen zerplatzten Traum vom Paradies?
Ein Familienvater mit fünf Kindern arbeitet hier wirklich schwer als Bäcker. Er ist herzkrank, möchte aber unbedingt arbeiten, weil er hofft, dass er dann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommt. Er macht sich Sorgen, dass er ohne diese irgendwann abgeschoben wird. Aber er kommt aus der «Falle» nicht raus, weil sein Gehalt nie für so eine große Familie reicht. Er ist also immer auf die Hilfe vom Jobcenter angewiesen, aber dadurch bekommt er keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung – der Aufenthalt wird nur für zwei oder drei Jahre ausgestellt. Und das stresst ihn total. Die Familie hat zwar ein Dach über dem Kopf und ein Auskommen, aber glücklich sind sie nicht. Die Kinder sind kränklich, haben ganz schlechte oder gar keine Jobs. Alles ist so fragil.
Durch die Flucht und das fremde sowie stressige Leben als Migrant sind viele erkrankt. Und die jahrelange Trennung von der restlichen Familie in der alten Heimat macht ihnen ebenfalls zu schaffen. Das sind so die Kehrseiten. Viele bedenken nicht, dass sie in der Fremde nicht von allen wohlwollend angenommen werden.
Das sind alles Stressfaktoren. Und diese westliche Kultur kann beängstigen. Manch einer fragt sich: Wie gehen die mit meinen Kindern um, was bringen sie denen bei? Das ist das Dilemma, in dem die Flüchtlinge stecken. Wenn sie ein Startgeld bekämen, könnten sie in ihrer Heimat eine gute Berufsausbildung machen oder einen kleinen Betrieb gründen – das wäre sinnvoller.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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