«Das Trainieren auf Gehorsam schafft leicht lenkbare Menschen.
In der Schweiz weniger mit Gewalt, aber mehr auf der psychischen Ebene.
Die Machtinstrumente haben sich verfeinert.»
Sophia G.
Liebe Leserinnen und Leser
Zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz Hunderttausende Kinder und Erwachsene Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen.
Betroffen waren Erwachsene, deren Lebensführung nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach. Sie wurden in den Akten als «liederlich» oder «arbeitsscheu» bezeichnet. Betroffen waren ebenso Kinder solcher Eltern. Ohne ein gerichtliches Urteil konnten die Fürsorgebehörden Maßnahmen gegen sie anordnen. Häufige Opfer waren arme, junge Frauen, die unverheiratet schwanger geworden waren. Sie wurden teils in geschlossenen Anstalten untergebracht, mussten Abtreibungen über sich ergehen lassen, wurden sterilisiert oder mussten ihre Kinder zur Adoption freigeben. Gängig war auch Zwangsmedikation.
Bekannt ist heute das Schicksal der sogenannten Verdingkinder. Verdingung bedeutet die Fremdunterbringung von Kindern zur Versorgung und Erziehung in der Schweiz. Diese stammten aus armen, oft kinderreichen Familien. Verdingkinder wurden auf Bauernhöfen oder in fremden Haushalten als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele waren körperlicher und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Meist durften sie keinen Beruf erlernen und blieben auch als Erwachsene arm. Andere Kinder wurden in Heimen platziert, wo sie Gewalt und/oder Missbrauch ausgesetzt waren. Eine weitere Gruppe von Betroffenen waren Kinder von Fahrenden, die ihren Familien entrissen wurden. Sie wurden in Heimen oder Pflegefamilien platziert oder zur Adoption freigegeben. Sie sollten sich der Mehrheitsgesellschaft anpassen.
Sicher gab es auch positive Beispiele, zum Beispiel Buben, die bei einer Bauernfamilie platziert wurden, wo sie gut behandelt wurden, während sie bei den Eltern wegen deren Alkoholsucht nicht bleiben konnten.
2016 beschloss der Bundesrat, also die Schweizer Landesregierung, auf Druck von Opferinitiativen, die Wiedergutmachung des begangenen Unrechts. Dieses wird aktuell wissenschaftlich aufgearbeitet. Zudem können Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen Anträge auf eine finanzielle Entschädigung stellen. Der Kanton Bern und über 160 Gemeinden haben vor gut anderthalb Jahren Gedenkveranstaltungen durchgeführt und Ausstellungen veranstaltet.
Hat aber die Gesellschaft aus diesem dunklen Kapitel gelernt? Können solche Dinge wirklich nicht mehr geschehen? Angeordnet wurden solche fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen jeweils von den Fürsorgebehörden. Es handelte sich hier um politische Behörden bei den Gemeinden und nicht um Fachleute. Ihr Entscheidungsspielraum war groß.
Mit dem am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wurde das alte Vormundschaftsrecht aus dem Jahr 1907 ersetzt und modernisiert. Die neuen Regelungen sowie die Institution der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sind seither allerdings teilweise heftig und meist nicht zu Unrecht kritisiert worden.
Letzte Woche berichtete ich über einen Sorgerechtsstreit und einen damit verbundenen Gerichtsfall. Es handelt sich um die Mutter Sophia G. (Name der Redaktion bekannt), die gegen die Entfremdung ihres Sohnes und den Sorgerechtsentzug kämpft. Der Fall illustriert nicht nur das Schicksal eines Kindes, sondern auch größere gesellschaftliche Konflikte rund um Corona-Maßnahmen und das Familienrecht.
Auch mit dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ist der Spielraum der Behörden groß. Rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Gewaltenteilung, unabhängige richterliche Überprüfung, Informationsfreiheit, Grundrechte und rechtliches Gehör sind immer noch schwach ausgeprägt.
Im konkreten Fall lag die Weigerung der Mutter, ihren Sohn in den Kindergarten zu schicken, wenn dort Masken getragen wurden, am Anfang des Konfliktes mit den Behörden. Der Bub war aber aufgrund seiner Veranlagung auf die Mimik der Betreuungspersonen angewiesen. Es ist also beileibe nicht so, dass heute niemand mehr ins Räderwerk der Vorsorge gerät, wenn er nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht – früher «Liederlichkeit», heute «Maßnahmenkritikerin».
«In dem Fall war wohl nicht die Absicht, das Kind zu schützen, sondern die Mutter zu bestrafen», sagt eine mit dem Fall vertraute Fachperson, denn das Kind wurde der Mutter auf sehr eigenwillige, überfallsmäßige Weise in der Nacht entzogen.
Da Betroffene oft nicht wissen, wie sie sich wehren können und wo sie Hilfe holen können, die Behörden aber alle Kniffe kennen – das geht vom Entzug der aufschiebenden Wirkung bis zum Einsatz der Polizei –, scheinen mir auch heute die Spieße im Schweizer Fürsorgewesen alles andere als gleich lang zu sein. Die Aufarbeitung früher begangenen Unrechts ist gut, aber unvollständig, solange in diesem sensiblen Bereich neues Unrecht begangen wird.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk