Die Aufarbeitung des verheerenden Zugunglücks von Tempi, das Griechenland vor zwei Jahren erschütterte, hat längst das Stadium einer gewöhnlichen Aufarbeitung verlassen und entwickelt sich immer mehr zu einem schmutzigen Krimi (wir berichteten hier, hier und hier). Maria Karystianou, eine der betroffenen Angehörigen, die sich für die Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzt, warnte jetzt vor den ernsten Gefahren, denen sie und ihre Familie bei ihren Nachforschungen ausgesetzt sind. In einem exklusiven Interview mit der neuen Wochenzeitung Thessaloniki erklärte sie Ende letzter Woche: «Je tiefer wir in diese schmutzige Geschichte eintauchen, desto mehr gefährdet dies unser Leben.»
Karystianou bezog sich dabei auf mysteriöse Todesfälle von zwei Schlüsselfiguren, die in den Ermittlungen zu den Aufnahmen von dem Unglück als Zeugen aufgetreten waren. Auch eine couragierte, in den Fall involvierte Staatsanwältin gab die Fallführung ab, nachdem ihr Sohn verschwunden war. Sie hofft nun, dass er wieder auftaucht.
«Zwei Personen, die in den Audioaufnahmen auftauchten und als Zeugen von zentraler Bedeutung galten, wurden mysteriös ermordet. Niemand hat dies bisher untersucht», sagte Karystianou mit ernstem Ton.
Sie prangerte die Versäumnisse der Regierung und des politischen Systems scharf an. Insbesondere kritisierte sie Premierminister Kyriakos Mitsotakis und den ehemaligen Parlamentspräsidenten Konstantinos Tassoulas, der für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert. Karystianou warf der Regierung vor, die Aufklärung der Tragödie zu behindern und die Verantwortlichen zu decken.
«Die Demokratie in Griechenland ist am Ende. Sie stirbt eines langsamen Todes unter der jetzigen Regierung», erklärte die Thessaloniker Ärztin mit ernster Miene.
Die anhaltende Verschwörung rund um das Unglück hat in den Augen der Aktivistin schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die griechische Justiz und Politik. Besonders besorgt zeigte sie sich über die Möglichkeit, dass die Ermittlungen am Ende keine adäquaten Konsequenzen für die Verantwortlichen nach sich ziehen könnten. «Unsere Sache kann nicht einfach archiviert werden. Es gibt zu viele Beweise, die für das Versagen der Verantwortlichen sprechen», erklärte Karystianou. Doch sie fürchtet, dass das System versuchen wird, die Angelegenheit zu verharmlosen und die Schuld nicht dort zu suchen, wo sie tatsächlich liegt.
Der Stellwerksmitarbeiter, der in der Unglücksnacht eine Weiche falsch stellte und die Züge auf Kollisionskurs schickte, trage zweifellos eine Mitschuld, aber es seien vor allem die Zustände in der Verwaltung, die zu der Katastrophe führten: «Es sind die Verträge, die nicht erfüllt wurden, das Personal, das abgewertet und nicht ernst genommen wurde, die Misswirtschaft und die schlechte Wartung – all das wurde von anderen verursacht.» Sie spielt hier wohl darauf an, dass trotz einiger Warnungen von Gewerkschafts- und von EU-Seite zwischen Athen und Thessaloniki ohne jede Zugsicherungssysteme Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/h gefahren wurden.
In Bezug auf die jüngsten Aussagen von Kyriakos Mitsotakis, der mehrfach die Ermittlungen kommentiert hatte, äußerte Karystianou deutliche Vorwürfe.
«Er hat viele Unwahrheiten gesagt – ich würde sogar das Wort ‹Lügen› verwenden. Wenn man solche Aussagen mit absoluter Gewissheit macht, dann übernimmt man auch die Verantwortung dafür», so Karystianou.
Sie kritisierte, dass der Premierminister in all seinen Stellungnahmen zur Katastrophe weit danebenlag und die Ermittlungen in die Irre geführt habe.
«Wir haben zwei Jahre verloren, weil die Ermittlungen genau dem Weg folgten, den der Premierminister vorgegeben hat.»
Auch zur anstehenden Wahl von Konstantinos Tassoulas zum Staatspräsidenten äußerte sich Karystianou kritisch. Sie sieht diese als Teil einer größeren Verschwörung zur Vertuschung der Wahrheit.
«Sie versuchen, diejenigen zu belohnen, die ihnen bei der Vertuschung geholfen haben. Tassoulas hat fast ein Jahr lang [als Parlamentspräsident] Dokumente in seiner Hand gehalten, die Politiker belasten, aber diese wurden nie weiterverfolgt», erklärte sie.
Sie beschuldigte ihn, seine Pflichten verletzt zu haben, und forderte, dass er sich dafür verantworten müsse, statt eine weitere hohe Position zu übernehmen. Zum Abschluss ihres Interviews sprach Karystianou von der katastrophalen Lage Griechenlands auf verschiedenen Ebenen.
«Wir sind in allem die Letzten – bei der Korruption, der Kaufkraft und jetzt auch bei der Demokratie (…)», sagte sie.
Ihre klare Botschaft war unmissverständlich: Die Demokratie in Griechenland stehe am Abgrund, und nur durch echte Aufklärung und Verantwortungsübernahme könne das Land wieder zu einer gerechten und funktionierenden Gesellschaft werden.
Im Parlament wird bald eine Debatte über das Zugunglück bei Tempi stattfinden. Einen entsprechenden Antrag stellte am 27. Januar Dimitris Koutsoumpas, der Generalsekretär der kommunistischen KKE. 30 der (offiziell) 57 Todesopfer sind nicht durch den Zusammenstoß mit einem Güterzug, sondern durch einen dadurch ausgelösten Brand gestorben. Es wird vermutet, dass der Güterzug illegal gefährliche Fracht transportierte, die nicht korrekt deklariert war.
Eine Untersuchung der Polytechnischen Universität Athen könnte bald klären, ob das Feuer tatsächlich nur durch die offiziell angegebenen Frachtmaterialien verursacht worden sein könnte – erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass dies unwahrscheinlich ist. Es gibt zudem Vorwürfe, dass die Behörden versucht haben, den Unfallort schnell zu säubern und Beweismaterial unvollständig an die Justiz weitergegeben haben. So wurde etwa Videomaterial zur Beladung des Güterzuges nicht den Ermittlern übermittelt. Auch die forensischen Untersuchungen werden von Kritikern als unzureichend angesehen. Die KKE und andere Oppositionsparteien werfen der Regierung nicht nur vor, ein «Verbrechen zu vertuschen», sondern kritisieren auch die großen Mängel bei der griechischen Bahn und der Schieneninfrastruktur.
Aufs falsche Pferd gesetzt – und jetzt der Purzelbaum
Viele Jahre ging es gut. Die unausgesprochene Vereinbarung der griechischen Regierung von Kyriakos Mitsotakis mit Washington und Brüssel war wohl: Ich mache, was ihr wollt, und ihr seht darüber hinweg, dass ich die Grundrechte im Allgemeinen und die Pressefreiheit im Besonderen immer weiter aushöhle. Das gilt allgemein und nicht nur in Bezug auf das Eisenbahnunglück.
So kommt es, dass die Regierung Dinge tat, die innenpolitisch hoch umstritten waren und die Bevölkerung spalteten. Beispiele sind die Einführung der Ehe für alle, des gemeinsamen Sorgerechtes und die Etablierung einer NATO-Basis in Alexandroupolis ohne jede Gegenleistung. In dieses Kapitel gehört auch die strikte Umsetzung aller international vorgeschlagenen Corona-Maßnahmen. Es sind Projekte, bei denen es für die Regierung nichts zu gewinnen gab, deren politische Kosten sie aber zu tragen hat. Mitsotakis setzte dabei voll auf die Regierung Biden und die demokratische Partei. Er ging damit eine politische Wette ein, wonach Kamala Harris die US-Präsidentenwahl für sich entscheiden würde.
In Bezug auf Brüssel funktioniert das noch heute. Die EU-Kommission prügelt weiterhin auf Ungarn und die Slowakei ein, lässt aber Griechenland, das in Bezug auf Menschenrechte viel schlechter dasteht als die beiden Prügelknaben, gewähren (wir berichteten hier und hier).
In Bezug auf die USA erhält die griechische Regierung nun die Quittung. Bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Donald Trump war kein höherer griechischer Offizieller eingeladen. Dieser weiß genau, auf wen die griechische Regierung gesetzt hat.
Nach einem Monat des sprachlosen Schreckens versucht Mitsotakis jetzt das, was die Griechen in solchen Fällen tun: Er macht eine «κολοτούμπα», einen Purzelbaum.
Neuerdings sagt er zum Beispiel wie Trump, dass es nur zwei Geschlechter gäbe, nachdem die Regierung jahrelang in eine andere Richtung gearbeitet hat. Der Gesprächsfaden zwischen Washington und Athen scheint für den Moment gerissen.